Vertraue mir von Pijara ================================================================================ Kapitel 3: Der Kuss des Pharao ------------------------------ Kiara wusste nicht, wie sie die letzte Woche überstanden hatte. Sie wurde von einem Labor in das nächste verfrachtet, bis man schließlich zu dem endgültigen Ergebnis kam, dass die vorläufige Erblindung mit 100%iger Sicherheit von dem Schock herrühre, den Kiara durch die Explosion erlitten hatte. Zwischenzeitlich waren ihre zahlreichen Verletzungen ausgeheilt und die Ärzte kamen darüber überein, Kiara zu entlassen. „Aber sie … sie kann doch noch überhaupt nichts sehen.“, wandte Yugi wütend ein, fing sich jedoch nur einen mitleidigen Blick ein. Dr. Makoru legte das Klemmbrett zur Seite, um die Entlassungspapiere zu unterzeichnen, die ihm eine mollige Krankenschwester entgegenhielt. „Ich versteh dich ja, Yugi. Aber wir können nichts mehr tun. Das, was jetzt einzig und allein helfen wird, ist Geduld und Ruhe.“ „Heißt das …“ „Yugi, bitte. Was sollen wir denn machen? Es gibt keine Spritzen oder Medikamente, die Kiaras Problem beheben können. Und glaub mir, wenn Kiara Zuhause ist, wird sie sich schneller erholen, als wenn sie in diesem sterilen Krankenhaus bleibt, wo sie täglich von kranken Menschen umlagert ist. Ich denke, in der Gegenwart ihrer Freunde, wird sie sich keinesfalls so elend fühlen, wie hier. Außerdem würdest du dich in so einer Situation bei deinen Freunden und Verwandten doch auch wohler fühlen, oder?“, fragte er augenzwinkernd. Yugi ließ die Schultern hängen. „Wie lange kann das Alles denn dauern?“ „Na ja, ein paar Wochen, ein paar Monate, aber …“ „Ein paar Monate?“ „Aber ganz sicher keine Jahre.“ „Oh wie beruhigend.“, knirschte Yugi verbittert und verschränkte die Arme vor der Brust. „Tut mir leid, Yugi, aber den Heilungsprozess kann ich nicht bestimmen. Das hängt ganz allein von Kiara ab.“ „Schon gut, schon gut! Ich hab’s ja kapiert.“ „Ich kann verstehen, dass du wütend bist, aber …“ „Sie haben nicht den Hauch einer Ahnung! Verstehen Sie, es ist meine Schuld, dass ihr das passiert ist. Wenn ich nicht …“ „Hör auf, dir die Schuld zu geben! Du hast doch die Explosion nicht verursacht, du hast doch kein Feuer gelegt, oder?“ „Aber wenn ich nicht wie von der Tarantel gestochen da herumgestanden hätte …“ „Du standest genauso unter Schock wie deine Schwester!“ „Warum bin ich dann nicht blind?“, fauchte Yugi und wandte sich dann ohne auf eine Antwort zu warten ab. Dr. Makuro blickte ihm traurig nach, bis sich die Krankenschwester neben ihm mit einem Hüsteln bemerkbar machte und er ihr zur Visite folgte. Yugi stapfte indessen wütend den Gang entlang, steuerte Kiaras Zimmer an. „Yugi, jetzt beruhige dich doch mal wieder.“, bemerkte der Pharao, der neben ihm auftauchte und ihn streng musterte. „Ich kann mich nicht beruhigen. Kiara ist blind wie ein Stockfisch und ich soll so tun, als ob nichts wäre?“ „Vielleicht ist es aber auch besser so für sie.“ „Meinst du? Ich soll ganz normal in die Schule gehen, irgendwelche Sätze von der Tafel abschreiben, während Kiara nicht einmal sicher sein kann, ob sie in die richtige Richtung schaut?“ „Aber der normale Alltag wird sie vielleicht ein wenig davon ablenken?“ „Wie denn, Pharao? Sie kann gehen, wohin sie will, aber es wird nicht das Gleiche sein, wenn sie nicht in der Lage ist, zu sehen, wohin sie geht. Gerade das wird ihr noch viel klarer machen, dass sie momentan … Probleme hat.“ „Wenn du ganz normal mit ihr umgehst… so wie immer, wenn du sie weiterhin in alles mit integrierst, dann wird sich Kiara auch besser fühlen, Yugi! Wenn du sie jetzt wie ein rohes Ei behandelst, sie vor allem zu schützen versuchst, wirst du es nur noch schlimmer machen.“ Yugi lehnte sich gegen die Wand und blickte ihn mit ausdruckslosem Gesicht an. „Ich weiß nicht, was ich machen soll, Pharao. Ich hab das Gefühl, dass das Alles meine Schuld ist.“ „Es ist nicht deine Schuld, Yugi.“ „Aber …“ „Würdest du jetzt endlich mal mit diesem verdammten Selbstmitleid aufhören? Keiner kann etwas für diesen Schlammassel. Es war ein Unfall!“ Yugi blickte zu Boden. „Ja, klar … du hast ja Recht.“, murmelte er, doch er klang keineswegs überzeugt. Stattdessen ging er weiter. Der Pharao blickte ihm noch ein paar Sekunden lang nach, bis er wieder verschwand. Kiara ließ sich mit Hilfe von Yugi auf ihr Bett sinken und atmete tief aus. Sie war wieder Zuhause. Normalerweise hätte sie froh darüber sein müssen, doch stattdessen fühlte sie sich merkwürdig leer. Zuhause zu sein, ohne was zu sehen, war eine wahre Qual. Vorsichtig kroch sie in die Ecke ihres Bettes, zog die Beine an die Brust und umschlang sie mit beiden Armen. Ihren Kopf bettete sie auf ihre Knie und blickte starr in die dunkle Masse, die ihr gesamtes Umfeld einnahm. Nicht einmal der kleinste Lichtschimmer drang zu ihr hindurch. Völlige Dunkelheit. Sie wusste nicht einmal, ob Yugi noch mit ihr im Zimmer war. Ein flaues Gefühl breitete sich in ihrer Magengegend aus. Übelkeit stieg in ihr auf und ein paar Tränen rannen ihr die Wangen hinab. Von der anderen Seite des Bettes aus beobachtete Yugi seine Schwester und sein schlechtes Gewissen meldete sich wieder. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, wie er Kiara helfen konnte, doch er wusste, dass er etwas tun musste. Mehrere Male setzte er dazu an, etwas zu sagen, brach jedoch sofort wieder ab, als ihm klar wurde, dass er nicht einmal wusste, was er sagen sollte. „Du brauchst nichts zu sagen, Yugi.“ Yugi zuckte überrascht zusammen. „Woher …“ Ein schwaches Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Ich hab jetzt schon ganz gut gelernt, auf Dinge zu hören. Es ist zwar nicht ganz einfach, aber wenn ich mich konzentriere, funktioniert es ganz gut.“ „Ich …“ „Yugi, bitte! Ich weiß, dass du dich schuldig fühlst, aber das will ich nicht. Du hast keine Schuld!“ „Ich wünschte, dem wäre so.“, entgegnete Yugi trocken. „Hör auf, Yugi! Ich will dich nicht so reden hören, verstanden? Du bist nicht Schuld und damit hat sich’s!“ Yugi wollte etwas entgegnen, beließ es aber schließlich dabei und blickte stattdessen aus dem Fenster. Die Sonne schien am Himmel und schickte warme Lichtstrahlen in ihr Zimmer. In Yugis Magen verkrampfte sich alles, als ihm einfiel, dass Kiara nicht einmal wusste, ob es Tag oder Nacht war. Sie wusste nicht, ob die Sonne schien oder ob es regnete, wusste im Prinzip überhaupt nicht, was alles um sie herum geschah. Die Minuten, die sie schweigend in ihrem Zimmer verbrachten, dehnten sich zu Stunden aus und keiner sagte ein Wort. Für Yugi war es das erste Mal, dass so ein unbehagliches Schweigen zwischen ihnen herrschte. Sicher kam es vor, dass sie eine Zeit lang ohne zu reden in ihrem Zimmer waren, doch nie war es so unangenehm gewesen. Kiara hockte noch immer wie apathisch in ihrer Ecke und starrte angestrengt in die Leere. Yugi hatte das Gefühl, als würde sie die ganze Zeit über angestrengt versuchen, irgendetwas zu erkennen. In ihrem Gesicht waren immer noch die Spuren zu erkennen, die die Tränen hinterlassen hatten. „Yugi, lass mich mit ihr reden.“, bat der Pharao in seinen Gedanken. Yugi seufzte und überließ Yami das Feld. Yami selbst atmete noch einmal tief durch, dann griff er nach einem Tuch und setzte sich zu Kiara auf das Bett. „Kiara?“ Der Kopf des Mädchens ruckte zur Seite, doch die Augen starrten noch immer ins Leere und an ihm vorbei. „Pharao? Das bist doch du, oder?“ „Sehr gut erkannt.“ „Was willst du?“, fragte sie leise und stützte ihren Kopf wieder auf den Knien ab. „Mit dir reden.“ „Und worüber?“ „Ich denke, das weißt du ganz genau.“ „Ich will aber nicht darüber reden.“ „Dann tu mir wenigstens einen Gefallen.“ „Welchen?“ Yami nahm Kiaras Hände und zog sie näher an sich heran. Vorsichtig strich er ihr über die Wange, wusch die Tränen weg. „Bevor ich dir sage, was ich von dir verlange, möchte ich eines wissen.“ Kiara runzelte die Stirn. „Was denn?“ Yami straffte sich und ergriff wieder ihre Hände. „Vertraust du mir?“ Kiara zuckte zurück. „Was?“ „Ich möchte wissen, ob du mir vertraust.“ Kiara zuckte mit den Schultern. „Warum … warum sollte ich dir nicht vertrauen?“ „Weil das, was ich will, voraussetzt, dass du mir blind vertraust.“ Kiara biss sich auf die Unterlippe. Natürlich vertraute sie dem Pharao, ebenso sehr wie sie ihrem Bruder vertraute. Aber was hatte er vor? Was hatte diese Frage zu bedeuten? „Sicher vertraue ich dir, aber warum …“ „Bist du dir sicher?“ „Natürlich bin ich mir sicher. Aber sag mir doch endlich, was du mit dieser Frage bezwecken willst!“ Yami antwortete nicht. Stattdessen griff er wieder nach dem Tuch und machte sich daran, Kiara die Augen zu verbinden. Kiara erschrak und stieß Yami zur Seite. Hastig kroch sie so weit nach hinten, bis sie gegen die Wand prallte. „Was soll das werden?“, fauchte sie wütend und schlang die Arme um ihre Knie. Yami blickte sie traurig an. „Ich dachte, du würdest mir vertrauen?“ „Sicher und daran gibt es auch nichts zu rütteln, aber … warum willst du mir die Augen verbinden, wenn ich sowieso nichts sehen kann? Reicht es nicht aus, dass auch ohne eine Binde schon alles um mich herum dunkel ist?“ „Du verstehst nicht ganz, worauf ich hinaus will.“ „Du hast Recht, das versteh ich wirklich nicht!“ Yami griff wieder nach dem Tuch und kroch zu Kiara hinüber, wo er sich neben sie setzte und ihr Gesicht in seine Richtung drehte. Obwohl ihm klar war, dass Kiara ihn nicht sehen konnte, war er dennoch überrascht. Ihre Augen ließen kein Zeichen dafür erkennen, dass sie vorläufig völlig blind war. „Hör zu, Kiara! Es bringt doch hier niemandem etwas, wenn du die ganze Zeit vor dich hingrummelst und angestrengt versuchst, irgendetwas zu sehen, oder? Weder du noch andere wären glücklich darüber, am allerwenigsten du. Du machst dich mit so etwas nur noch verrückter.“ „Worauf willst du hinaus?“ „Ich will, dass du aufhörst, dich darauf zu versteifen, in der nächsten Sekunde wieder etwas sehen zu können. Darum möchte ich dir auch die Augen verbinden. Wenn du das Tuch vor den Augen hast, wirst du auch nicht mehr ständig versuchen, irgendwelche Lichter oder Umrisse zu sehen. Dadurch machst du es nur noch schlimmer. Meinetwegen können wir nach einer Woche mal sehen, ob du schon irgendetwas erkennen kannst, wenn nicht, lassen wir die Binde noch weiter um. Wenn du tatsächlich irgendwelche Schemen erkennen kannst, werde ich sie dir auch für 1 – 2 Stunden abnehmen, aber ansonsten bleibt das Tuch, wo es ist. So kannst du vielleicht ein wenig entspannen und die Heilung tritt eventuell schneller ein. Was hältst du von dem Vorschlag?“ Kiara wandte sich ab. „Aber … ich fühle mich auch so schon vollkommen hilflos. Was soll denn werden, wenn ich …“ „Hey, ich dachte du vertraust mir.“ „Tu ich ja, aber …“ „Warum glaubst du dann, dass ich dich einfach so hilflos umherirren lasse?“ „Ich …“ „Kiara, ich werde dich jetzt ganz sicher nicht mehr aus den Augen lassen. Das verspreche ich dir.“ „Und Yugi?“ „Kiara, Yugi ist dein Bruder. Glaubst du wirklich, dass er dich hängen lässt?“ Kiara zuckte mit den Schultern. „Damit hätten wir zumindest eine Lösung für solche Sachen wie Schule und den Weg nach Hause und so, aber …“ „Aber was?“ „Was ist mit solchen Sachen wir Umziehen, Duschen …“ Yami biss sich auf die Unterlippe. Wenn er ehrlich war, hatte er daran tatsächlich nicht gedacht. Doch kurz darauf umspielte ein freches Lächeln seine Lippen. „Wo ist das Problem?“ Kiara lächelte schwach. „Netter Versuch, Pharao! Aber ein bisschen Stolz hab ich auch noch, klar?“ Yami rückte näher, während er meinte: „Dafür finden wir schon eine Lösung.“ Vorsichtig verband er Kiara die Augen, die ihre Hände unweigerlich in der Bettdecke verkrampfte. Yami bemerkte es und ergriff ihre Schultern. „Bleib ganz ruhig, Kiara. Dir wird überhaupt nichts passieren.“ Eine Gänsehaut kroch ihm über den Rücken, als er Kiara betrachtete. Sie saß vollkommen still vor ihm, hatte keine Ahnung, dass er wie verrückt zitterte. Eine merkwürdige Spannung erfüllte ihn plötzlich, ein starkes Magenkribbeln arbeitete sich in seiner Magengegend heran, machte das Atmen schwer. Es war, als stecke ein dicker Kloß in seiner Kehle fest. „Alles in Ordnung, Pharao?“, fragte Kiara plötzlich. Yami antwortete nicht. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, seine Gefühle unter Kontrolle zu bringen … ohne Erfolg. Noch ehe er wusste, was geschah, glitten seine Fingerspitzen unter Kiaras Kinn und er küsste sie. Kiara blieb die Luft weg. Unfähig, irgendetwas zu tun, saß sie still da und ließ sich durch den Kopf gehen, was gerade geschah. Ihr Herz hämmerte wie verrückt in ihrer Brust, nahm ihr buchstäblich den Atem. Ein seltsames Gefühl der Vertrautheit kroch in ihr hoch, nahm ihr sogar die Angst vor dem, was gerade passierte. Kiara hatte das Gefühl, als würde dieser Moment ewig dauern, doch Yami riss die Augen auf und wich verwirrt zurück, als ihre Finger sich in seinem Jackenärmel verkrampften. So schnell er konnte, sprang er von dem Bett herunter und setzte sich auf das von Yugi, während Kiara wie apathisch in ihre Ecke kroch und wieder die Arme um ihre Knie schlang. Sie zitterte. Yami vergrub sein Gesicht in den Händen und fluchte im Stillen. Was hatte ihn nur geritten? Wie kam er dazu, die Schwester seines besten Freundes zu küssen? Ohne eine Antwort zu finden, zog er sich in sein Puzzle zurück, nicht ohne Yugi vorher zu bitten, kein Wort darüber zu verlieren. Yugi, der selbst vollkommen überrascht war, folgte seiner Bitte und sprach das Thema nicht an. Doch er konnte nicht umhin, ein wenig verwirrt aus dem Fenster zu blicken. Schon möglich, dass er den Pharao noch nicht sehr lange kannte, doch es war bisher nicht passiert, dass er auf diese Weise die Kontrolle über sich verloren hatte. In Kiara jedoch herrschte plötzlich ein seltsames Gefühl der Leere. Warum hatte er sich so einfach von ihr zurückgezogen? Schlagartig wurde ihr klar, dass sie eigentlich nie gewollt hatte, dass der Kuss endete. Sie merkte sofort, dass die Prinzessin mit ihr reden wollte, doch sie blockte ab. Kiara war ihr unglaublich dankbar dafür, dass Yamika ihr den Gefallen tat und sich zurückzog. Tatsächlich, und innerlich schämte sie sich für diesen Gedanken, hoffte sie sogar, dass Yugi das Zimmer verlassen würde. Und wirklich … Yugi erhob sich seufzend und ging mit den Worten: „Ich hole mal etwas zu trinken, ja?“ Kiara antwortete nicht, wusste aber, dass er ihr Schweigen richtig deuten würde. Yugi ging. Kiara konnte sich nicht mehr zurückhalten und brach endgültig in Tränen aus. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)