Am Anfang war der Satz von abgemeldet (Meine Oneshotsammlung für den Assoziatives-Schreiben-Zirkel) ================================================================================ Kapitel 9: Freakie (Numb3rs, Satz 19) ------------------------------------- "Wenn euch eure Tochter nicht wichtig wäre, würde ich mir nicht solche Sorgen machen", sagte er, "aber ich weiß, ihr liebt sie sehr. Und gerade deshalb müsst ihr mit uns kooperieren.“ Beinahe bittend sah Don seinen alten Klassenkameraden und dessen Frau an. In deren Gesichtern zeigten sich Zweifel. Zweifel, die er schon viel zu oft gesehen hatte bei Eltern, deren Kinder entführt worden waren – und die den Befehlen der Entführer all zu genau folgten, in der Annahme ihr Liebstes damit retten zu können. Leider hatte das Nichteinschalten des FBI aber meist eine gegensätzliche Wirkung. Zu viele Eltern waren es bisher gewesen, die ihn erst eingeschaltet hatten, nachdem sie tagelang nichts mehr von ihrem Kind gehört hatten, obwohl die Lösegeldübergabe erfolgreich verlaufen war. Und allen hatte er nur noch helfen können die Leiche ihres toten Sohnes oder ihrer ermordeten Tochter zu finden. „Bitte, lasst mich euch helfen. Wir haben nur wenig Zeit, und je eher ihr kooperiert, desto eher werden wir die Entführer schnappen – und mit ihnen Jennifer.“ „Du meinst wenn ihr die Entführer schnappt. Ich bin nicht blöd Don, ich weiß selber, dass es nie absolute Sicherheit geben kann.“ Der Mund von Peter, dem Vater der entführten Neunjährigen, verzog sich zu einem bitteren Lächeln. „Glaubst du wirklich, ihre Chancen bessern sich, wenn wir das FBI einschalten? Normalerweise sehen Entführer so etwas nicht gerne.“ Die Verzweiflung in Carlyns Stimme war mehr als deutlich zu hören. Sie würde alles geben, nur um ihr Mädchen wiederzubekommen – absolut alles. Don wollte sofort zustimmen, schwieg aber um erst nachzudenken. Es wäre auf jeden Fall leichter die Entführer zu schnappen, wenn sie von Anfang an Zugang zu allen Informationen über diesen Fall hätten. Doch würde es Jennifers Chancen wirklich verbessern? Oder würde seine Beteiligung an dieser Sache die Entführer ausrasten lassen, so dass sie dem kleinen blonden Mädchen sofort eine Kugel durch den Kopf jagten? Sonst war es einfacher, sonst fiel es ihm so leicht, die Eltern zu beruhigen, ihnen zu sagen, dass es unbedingt von Nöten war das FBI einzuschalten. Aber hier war nichts wie sonst. Hier ging es nicht um ein fremdes Kind, um eine unbekannte Familie. Hier ging es um Jennifer. Um das kleine Mädchen, das mit Peter und Don schon so oft einem Baseballspiel zugesehen hatte. Um das kleine Mädchen, dem Charlie des öfteren bei den Mathehausaufgaben half, in der Hoffnung es für diese Wissenschaft zu begeistern – und das sogar mit beachtlichem Erfolg. Um das kleine Mädchen, das er besser kannte als jedes andere Kind. Um Jennifer. Er straffte seine Schultern und sah den Eltern fest in die Augen. „Ja, ich bin der festen Überzeugung, dass sich ihre Chancen dadurch bessern.“ Eine nagenden Stimme in ihm erklärte, dass er Charlie hätte fragen sollen, dass dieser ihm die genauen Chancen hätte ausrechnen können. Aber das wollte er nicht. Er wollte nicht, dass sich seine Entscheidung als Fehler herausstellte. Peter nickte müde, als hätte er diese Antwort zugleich erwartet und befürchtet. „Okay, welche Informationen brauchst du?“ „Was haben wir Leute?“ Während er selbst noch mit den Eltern gesprochen hatte, war sein Team bereits fleißig gewesen. Die Hintergrundgeschichte der beiden und der Tochter, finanzielle und rechtliche Schwierigkeiten, Meinungen von Kollegen und Bekannten, sie hatten zusammen getragen was auch immer sie finden konnten, in der Hoffnung irgendwo einen Hinweis zu entdecken, was der Grund des Ganzen sein könnte – die Entführer selbst hatten sich nämlich auch drei Stunden nach der Tat noch nicht gemeldet. „Carlyn Custeau“, begann Colby und ein Bild der Mutter erschien auf der Projektionsfläche. „32 Jahre alt, geborene Rines, aufgewachsen in Ohio, Angestellte in einem kleinen Lebensmittelfachgeschäft im westlichen Los Angeles. Sie ist seit zehn Jahren offenbar glücklich mit ihrem Mann Peter Custeau verheiratet. Jennifer ist ihr erstes und einziges Kind. Ihre Kolleginnen beschreiben sie als ruhig, aber freundlich. Sie kommt mit allen im Laden gut klar und hat auch unter den Kunden scheinbar keine Feinde...“ „Ihr Mann ist Verkäufer in einem Autohaus von Toyota“, fuhr Megan fort. „Auch seine Kollegen behaupten er sei eher der gelassene Typ, niemand der schnell wütend wird oder andere unnötig provoziert. Die zwei gingen zusammen auf dieselbe High School, lernten sich da kennen und heirateten kurze Zeit später. Die letzte Rate für ihr Haus zahlten sie termingerecht vor zwei Monaten, so dass sie keinerlei Schulden haben. Ihrer beider Gehalt ist mittelmäßig, nichts was übermäßige Begehrlichkeiten weckt. Polizeilich ist keiner von ihnen je aufgefallen, bis auf Peter, der einmal fünf Meilen pro Stunde zu schnell auf einem Highway erwischt wurde. Sie engagiert sich im Elternrat von Jennifers Schule, er hilft des öfteren ehrenamtlich im Pflegeheim.“ „Tja, wir haben also das vollkommen durchschnittliche, kleinbürgerliche Pärchen, ohne Feinde und ohne Möglichkeit einer großen Lösegeldzahlungen. Mit anderen Worten: Wir haben keine Ahnung, was ihr Motiv sein könnte.“ Man merkte David an, dass er von den Aussichten alles andere als begeistert war, als er ihre Kenntnisse zusammen fasste. „Warum schalten wir nicht Charlie ein? Er findet doch öfters Zusammenhänge, wo keiner sonst sie sieht.“ Colby schien sich zu wundern warum Don seinen Bruder nicht längst schon hergerufen hatte. „Das will ich nicht“, lehnte der leitende Agent ab. „Charlie kannte die Familie gut, er hat sich mindestens zweimal wöchentlich mit dem Mädchen getroffen. Ich kann ihn durchaus hinzuziehen, wenn er das Opfer nicht kennen würde, aber er hat nie gelernt sich emotional abzuschotten. Die Sache würde ihm viel zu nahe gehen. Ich weigere mich ihn für diesen Fall einzusetzen.“ „Ich glaube nicht, dass er sich davon abhalten lassen würde.“ „Doch, das wird er. Wenn er nämlich nichts erfährt, bis dieser Fall abgeschlossen ist!“ Grimmig schaute Don in die Runde, als würde er die anderen herausfordern es zu wagen seinen Bruder zu informieren. „Äh...“, Colby musste schlucken, als Reaktion auf den Blick den er für seine unwillkommene Lautäußerung erntete. Trotzdem sprach er weiter. „Äh... Don... ich glaube dafür ist es etwas zu spät.“ Mit einem Nicken deutete er auf die Tür im Rücken seines Vorgesetzten. Mit einer Miene, die verriet, dass dieser ahnte, was hinter ihm war, drehte er sich um. „Wenn du wirklich niemanden in die Sache verwickeln willst, solltest du den nächsten Eltern sagen, dass sie ihren Haustutor abbestellen sollen“, sagte Charlie vollkommen ohne Humor. Ohne auf die Reaktion seines Bruders zu warten, trat er ein. „Hey, Char...“ „Wage es!“ Fast drohend fuhr der Mathematiker ihn an. „Wage es, mich aus diesem Fall rauszuhalten und ich werde alles, was du je geheim halten wolltest auf Youtube veröffentlichen. Ich werde Briefe an jeden schicken, den es betrifft, und ihnen mitteilen, was du nie zugeben wolltest.“ Fast musste der Ältere über diese in seinen Augen kindische Maßnahme lächeln. Glaubte wirklich jemand, das würde ihn einschüchtern? Wenn er etwas wirklich geheim halten wollte, wusste es niemand – nicht einmal sein Bruder. „Charlie, ich...“ „Ach, dann ist es dir lieber ich ermittle allein in diesem Fall? Denn genau das werde ich tun. Es ist mir egal, was du davon hältst. Wenn du mich dem FBI hierbei nicht helfen lässt, versuche ich es auf eigene Faust. Und übrigens – ich weiß das mit Ramon.“ Der Mund des Special Agent Eppes klappte auf und zu, auf und wieder zu, wie ein Fisch im Trockenen. Es war nicht ganz klar, welche Bemerkung genau ihm die Sprache geraubt hatte, aber irgendetwas hatte genau ins Schwarze getroffen. Schließlich ließ er die Schultern sinken. „Okay Charlie, aber keine Alleingänge. Und wenn dir irgendetwas zu nahe geht, sprichst du mit einem von uns. Mit Dad, mit mir, oder mit Megan, Colby, David, such dir jemanden aus, aber wehe du frisst das in dich hinein! Ich weiß, was für eine Belastung so etwas für die Psyche bedeutet, also nimm es nicht auf die leichte Schulter.“ Plötzlich gar nicht mehr bedrohlich sondern eher kleinlaut nickte der Mathematikprofessor nur stumm. Er ließ sich neben seinem Bruder nieder und packte den Laptop, ohne welchen er scheinbar nie aus dem Haus ging, auf den Tisch. Stillschweigend hämmerte er auf die Tasten ein und wurde sich erste nach etwa einer halben Minute der neugierigen Blicke der anderen bewusst. „Ich gebe gerade die Daten in VAUKUAG ein, vielleicht finden wir etwas ähnliches.“ „Was zum Teufel ist Vaukuag?“ Die Gesichter der restlichen Teammitglieder zeigten das gleiche Unverständnis wie Colbys Worte. „Vergleichende Analyse ungelöster Kriminalfälle unter algorithmischen Gesichtspunkten“, murmelte Charlie. „Was für ein... griffiger Name“, rutschte es David heraus, welcher jedoch nicht beachtet wurde. „Ich habe es vor einem Monat geschrieben. Es beinhaltet die Daten von ungelösten Fällen der letzten fünf Jahre und vergleicht diese mit den neu eingegebenen Daten unter verschiedenen Aspekten. Viele dieser Anhaltspunkte gehören nicht gerade zu den augenfälligen, können in ihrer Gesamtheit aber auf einen gleichen Täter hinweisen. Allerdings ist es noch nicht ganz fertig, ich habe noch nicht alle Daten eingegeben.“ „Warum hast du so ein Programm geschrieben?“ Don konnte es nicht fassen, dass er davon noch nicht einmal etwas gehört hatte. „Warum nicht? Es wäre viel einfacher, schneller und genauer, als ständig alle Daten von Hand durchzugehen. Die Techniker hier haben mir sogar dabei geholfen die Daten einzugeben. Ich habe zum Beispiel jetzt schon mehrere Treffer, obwohl viele davon wohl überflüssig sind. Warte ich schreibe kurz etwas um die weniger wahrscheinlichen auszugrenzen.“ Es wunderte den älteren Bruder, dass er überhaupt noch staunen konnte. Hätte er sich nicht längst an Charlies Genie gewöhnen müssen? „Okay, ich habe es. Fünf Fälle allein im letzten Jahr. In allen Fällen wurde ein Kind entführt, indem es von der Betreuung im Hort oder Kindergarten abgeholt wurde. Die Täter hatten stets ein Dokument mit der Unterschrift der Eltern dabei, welches ihnen die Berechtigung gab die Kinder im Namen der Eltern abzuholen. Die Erzieherinnen ließen die Kinder mit ihnen gehen und die Kleinen kamen nie zu Hause an.“ „Und wo liegt da die Verbindung? Solche Fälle sind häufiger als man denkt“, hakte David nach. „Warte einen Moment... ah, hier. Die Eltern waren alle auf derselben High School, sogar in demselben Jahrgang. Es war...“ Er verstummte. „Was war es Charlie?“, fragte sein Bruder besorgt nach. Als der Mathematiker den Kopf hob, war er deutlich blasser als vorher. „Don. Sie waren alle von unserer High School. Aus unserem Jahrgang – unserem Abschlussjahrgang.“ „Was... was ist mit den Kindern passiert?“ „Sie wurden nie gefunden.“ „Warum... warum habe ich nie etwas davon gehört?“ Noch einmal ging Charlie die Liste der Namen durch. „Es war nicht deine Clique Don. Darren, Melinda, Lucy, Thomas, Jonas. Du hast nie viel mit ihnen herumgehangen, und ich... nun, ich auch nicht. Wir haben uns nach dem Abschluss aus den Augen verloren, dass ist immerhin schon über zehn Jahre her. Es ist nicht deine Schuld Don.“ Der FBI-Agent nickte. „Du hast recht, es ist nur... es ist als... es ist...“ „Ich weiß. Niemand von uns hat es bemerkt. Doch jetzt haben wir es herausgefunden. Jetzt können wir etwas dagegen tun. Und das werden wir Don.“ Er riss sich zusammen. Das war nicht die Zeit für Reue und Selbstzweifel, die würde es später immer noch geben. Entschlossen richtete er sich auf. „Versucht soviel wie möglich über die Fälle herauszufinden. Sprecht mit den Eltern, mit den Officern die dafür zuständig waren, mit allen die irgendetwas wissen können. Ich... werde den anderen Eltern aus meinem Jahrgang Bescheid geben. Charlie, du schaust dir die alten Akten an, vielleicht findest du irgendetwas brauchbares. Und guck auch nach, was aus den restlichen Leuten unseres Jahrgangs geworden ist, vielleicht will sich irgendjemand für früher erlittene Demütigungen rächen. Okay Leute, ihr wisst, dass jede Minute zählt, also macht euch an die Arbeit.“ Langsam sackte Charlies Kopf nach vorne. Er war so müde... Er hatte die Nacht vorher nicht geschlafen, weil er unbedingt noch ein paar Daten in VAULUAG hatte eingeben wollen, damit dies so vollständig wie möglich war. Am Morgen war er dann ohne Schlaf, dafür mit vier großen Tassen Kaffee intus zum Campus gefahren um Vorlesungen zu halten. Gegen Mittag hatte er sich einfach auf dem Fußboden seines Büros ausgestreckt, war jedoch nach nur zwanzig Minuten seliger Ruhe von Larry aufgeweckt worden, welcher unbedingt mit ihm über eine neues Projekt der physikalischen Fakultät hatte reden wollen. Dann kamen wieder Vorlesungen, um dann nach Hause zu fahren, sich schnell ein kaltes Sandwich und noch mehr Koffein einzuverleiben, bevor es weiterging zu Jennifer. Sobald er dort von der Entführung erfahren hatte, war er zum FBI gefahren, hatte dort Don angeschnauzt – inzwischen war er der festen Überzeugung dass 92,3 Prozent seines übertriebenen Auftritts dem Schlafmangel zuzuschreiben waren – und seitdem das Besprechungszimmer nur verlassen um dem Drang der Natur nachzugeben und sich ein paar Hände kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen. Ein plötzliches Piepen bewahrte ihn davor mit dem Kopf auf der Tastatur einzuschlafen. Wiederwillig öffnete er die Augen und wünschte sich ein paar Streichhölzer. Ob es wirklich klappte, wenn man sich die zwischen Ober- und Unterlid klemmte? Ein Versuch war es eventuell wert... Als es ihm jedoch endlich gelang genug Aufmerksamkeit auf den Bildschirm zu richten um das dort Dargestellte zu begreifen, waren alle Gedanken an Streichhölzer aus seinem Kopf verschwunden. Stattdessen drückte er sofort die erste Kurzwahltaste seines Handys. „Hey Charlie, was hast du rausgefunden?“, meldete sich die Stimme seines Bruders. „Don, ich glaube ich weiß wer der Täter ist. Erinnerst du dich an Dunkin? Dunkin Moren? Er war mehrfach angeklagt wegen Freiheitsberaubung und Erpressung, kam bis jetzt aber immer mit höchstens zwei Jahren davon, weil all seine Opfer unbeschadet überlebten. Laut der Beschreibung der Erzieherinnen ist er nicht der Mann, der die Kinder immer abholt. Aber zwei von ihnen erzählten der Täter sei zusammen mit den Kindern in ein Auto gestiegen, in dem bereits ein Fahrer saß. Erinnerst du dich daran, was Dunkin immer über seinen Wagen erzählt hat?“ „Dass er jetzt eine alte Schrotkarre fährt, später aber einen schwarzen Porsche haben wird?“ „Genau. Und jetzt rate mal, in was für einem Auto die Kinder fortgebracht wurden...“ „Ein schwarzer Porsche? Aber Charlie, das wäre doch ein viel zu auffälliges Auto. Bestimmt sind alle Besitzer von schwarzen Porsche längst überprüft worden.“ „Alle gemeldeten Don, nur die Gemeldeten. Rate mal was für ein Auto auf Dunkin gemeldet wurde.“ „Keine Ahnung, sag du es mir.“ „Keins. Kannst du dir das vorstellen nicht eins, nicht einmal eine kleine alte Klapperkiste. Und du weißt, dass Dunkin sein Auto fast mehr brauchte als die Luft zum Atmen.“ „Aber was hat er für ein Motiv Charlie? Ich kannte Dunkin damals nicht sonderlich gut, um ehrlich zu sein konnte ich ihn nicht einmal leiden. Aber was hat er für ein Motiv?“ „Noch weiß ich es nicht, aber das wird sich zeigen. Ich leg seine Akte mal Megan vor, wenn sie aus dem Archiv zurückkommt, vielleicht findet sie was.“ „Mach das. Ach, und Charlie?“ „Ja?“ „Geh ne Runde schlafen – du hörst dich an als hättest du mehr Koffein als Blut im Körper.“ Nachdem er das Handy zugeklappt hatte, beschloss der Professor auf den Rat seines Bruders zu hören – wenn er nicht bald ins Bett kroch, würde er wahrscheinlich im Stehen einschlafen. Allerdings hatte er nicht wirklich Lust nach Hause zu fahren. Vage erinnerte er sich an ein Sofa, dass hier irgendwo rumstand... Mühsam richtete er sich auf und schlurfte Richtung Ruheraum. Als er eintrat, ließ er seinen Blick durch das Zimmer gleiten. Gleich links neben der Tür welkte ein traurig wirkender Gummibaum einsam vor sich hin. Daneben stand ein altes Fernsehgerät, dass offensichtlich nur hier war, weil es jemand bei sich zu Hause aussortiert hatte. Die Wand direkt gegenüber der Tür war mit mehreren Bildern geschmückt, von denen Charlie vermutete, dass sie entweder ein Agent oder jemand aus der Familie des Agents gemalt hatte – niemand gab für so etwas hässliches auch noch Geld aus. An der Wand rechts von ihm fand er schließlich das Ziel seiner Träume. Ein Sofa. Alt, abgenutzt und in einem grauenerregendem Grünton, aber immerhin lang genug, dass er sich bequem darauf ausstrecken konnte. Er schleuderte die Schuhe von den Füßen und machte es sich bequem. Noch einmal streckte er die Arme über den Kopf um endlich die Augen schließen zu können. Der Klingelton seines Handys ließ ihn aufschrecken, noch bevor er ganz eingedämmert war. Wütend griff er nach dem Störenfried mit dem Gefühl das Ding am liebsten direkt gegen eine dieser schrecklichen Gemälde zu werfen. Leider hielt ihn sein Verantwortungsbewusstsein davon ab und er nahm den Anruf stattdessen an. „Charles Eppes.“ „Hallo Freakie.“ Das Blut gefror dem Mathematiker in den Adern, als er diese Stimme wieder erkannte. Ebenso wie den Spitznamen. Der Anrufer war niemand anderes als Dunkin Moren. „Was willst du Dunkin?“ „Oh, hat der kleine Freak also mit seiner kleinen Freakshow herausgefunden wer ich bin?“ „Was willst du?“ Charlie versuchte sich von dem fünf Jahre Älteren nicht einschüchtern zu lassen. Ein schwieriges Unterfangen, schließlich war ihm die Furcht vor Dunkin Moren damals in Fleisch und Blut übergegangen. Er hatte stundenlang gewartet, bevor er nach Hause gegangen war, nur um sicher zu gehen, dass Dunkin ihn nicht allein erwischte. Er war in der Bibliothek immer in Sichtweite der Bibliothekarin geblieben, nur um sicher zu gehen, dass Dunkin ihn nicht allein erwischte. Er hatte den Lehrern in den Pausen geholfen Bücher zu tragen, nur um sicher zu gehen, dass Dunkin ihn nicht allein erwischte. Aber das war Jahre her. Er war älter geworden, erwachsener. Er war nicht mehr der kleine Junge, der sich von allen, und vor allem von Dunkin Moren herumschubsen ließ – jedenfalls versuchte er sich das einzureden. „Nun, ich will eigentlich nur eines, Freakie. Dich. Wenn du nicht in sechzig Sekunden hier unten am Taxistand bist, hat die arme kleine Jennifer ein Loch mehr in ihrem hübschen blonden Köpfchen. Also, ich warte.“ Klickend wurde die Verbindung beendet. Ohne überhaupt auch nur an die Müdigkeit zu denken, die ihn bis eben noch fast bewegungsunfähig gemacht hatte, sprintete Charlie barfuß wie er war los. Im Laufen drückte er die Kurzwahltaste für Don, bekam jedoch nur die Mailbox zu sprechen. Während er die Treppe des nächtlich leeren Gebäudes hinunterrannte – auf den Fahrstuhl zu warten würde wertvolle Zeit kosten – entschied er sich dafür es nicht noch bei den anderen zu versuchen. Er hatte keine Zeit, vor allem da jeder ihn unterbrechen würde, anstatt einfach nur sechzig... nein, 42 Sekunden lang zuzuhören. „Don, Dunkin hat Jennifer. Er schießt ihr eine Kugel in den Kopf, wenn ich nicht in wenigen Sekunden bei ihm bin. Das heißt beim Taxistand vor dem FBI-Gebäude. Ich werde versuchen die kleine irgendwie rauszuhandeln. Sag Dad, dass ich ihn liebe. Sag allen anderen, dass sie klasse sind. Mach dir keine Vorwürfe. Und übrigens – ich habe keine Ahnung, was damals mit Ramon passiert ist. Denk daran, keine Vorwürfe, ich versuche das Handy anzulassen, aber vielleicht nimmt er es mir ab. Viel Glück bei den weiteren Ermittlungen.“ Er klappte das Gerät zu und ließ es in seiner Jackentasche verschwinden, während er durch die Eingangshalle sprintete, die Rufe der skeptischen Rezeptzionistin ignorierend. Ganze fünfzehn Sekunden vor Ablauf der Frist kam er keuchend am Taxistand zum Stehen. Er musste sich an dem Schild festhalten um nicht umzufallen, denn die Welt drehte sich um ihn. Oder vielleicht drehte er sich um die Welt. Oder vielleicht auch seine Augen in ihren Höhlen. Es fiel ihm schwer einen klaren Gedanken zu fassen, denn Adrenalin und Müdigkeit hatten sein Gehirn in einen großen Wattebausch verwandelt. „Hierher Freakie!“ Er stolperte in die Richtung, aus der die Stimme kam. Als sich die Welt etwas langsamer drehte, konnte er einen schwarzen Porsche erkennen, der ganz vorne parkte. Ohne zu zögern näherte er sich ihm und lugte in die geöffnete Tür zur Rückbank. Jennifer lag dort, das Gesicht tränenüberströmt, der Mund mit Paketklebeband bedeckt, die Hände mit Kabelbinder hinter dem Rücken verschnürt. „Rein, Freakie.“ Sofort gehorchte er, setzte sich direkt neben Jennifer und strich ihr beruhigend über die Schulter. Dunkin grinste ihn aus dem Fahrersitz an, während ein anderer Mann, offensichtlich sein Komplize, mit ausdruckslosem Gesicht eine Schusswaffe auf ihn richtete. „Schnall deine Füße fest, Freakie.“ Verwirrt sah Charlie erst Dunkin an, dann auf seine Füße. Er begriff. Im Fußraum lagen zwei Paar Handschellen, jeweils mit einem Ende bereits an dem Vordersitz befestigt. Er legte sich die anderen Enden um die Knöchel und ließ sie mit einem Knacken einrasten. „Brav gemacht Freakie. Lass uns eine kleine Spazierfahrt unternehmen.“ „Was wollt ihr mit uns beiden machen?“ „Wieso mit euch beiden? Wir brauchen nur dich, Freakie. Der Kleinen setzen wir an irgendeinem schönen, abgelegenen Ort eine Kugel in den Kopf.“ Charlie wollte erst protestieren, sah jedoch ein wie sinnlos dies war. Stattdessen beobachtete er seine Umgebung. Sie fuhren recht langsam, etwas unter 10 Meilen pro Stunde, da sie sich in einer geschwindigkeitsbegrenzten Zone befanden. Der Untergrund bestand aus großem Kopfsteinpflaster, dass im Gegensatz zu Asphalt eine recht glatte Oberfläche hatte. Es regnete, was bedeutete, dass man noch zusätzlich rutschte. Der Verkehr war gering, jedoch waren immer mindestens zwei Autos in Sichtweite. Er sah zu dem Mädchen, was sich eng an ihn gekuschelt hatte. Sie trug, der kalten Witterung entsprechend, eine daunengefütterte Jacke und eine ebensolche Hose. Ihre Schuhe wirkten stabil und an ihrer Jacke befand sich eine ebenfalls dick gefütterte Kapuze, welche er ihr nun über den Kopf und tief ins Gesicht zog. Dunkins Komplize beobachtete diese Bewegung misstrauisch, ließ es aber geschehen. Nach mehreren genauen Berechnung, auf der Grundlage von leider recht ungenauen Daten stand Charlies Plan fest. Sie würden ihn dafür eventuell erschießen, aber das machte ihm nichts aus. Nein, das war gelogen. Es machte ihm etwas aus. Er fürchtete sich beinahe zu Tode und hätten sich am liebsten zu einer Kugel zusammen gerollte und sich voll und ganz auf P vs. NP konzentriert. Doch das weiche Gewicht, welches er an seiner Seite spürte und welches das kleine Mädchen darstellte, hielt ihn davon ab. Er würde es durchziehen, denn sie hatte die Chance zu leben verdient, so wie jedes Kind diese Chance verdient hatte. Er hatte als Kind nichts getan, obwohl er wusste, dass einem anderen Kind Leid geschah – diesen Fehler würde er nicht wiederholen. Ungeduldig ließ er seinen Blick durch die Umgebung schweifen, und endlich schien ihm das Glück hold. Vor ihnen schaltete eine Ampel auf rot. Dunkin hielt an, in der festen Überzeugung die Missachtung der Verkehrsregeln würde nur ungewünschte Aufmerksamkeit auf den schwarzen Porsche lenken. Charlie beobachtete erleichtert, wie sich andere Autos an der Kreuzung sammelten, darauf warteten dass ihr Lichtsignal umschaltete. Zufrieden sah er mehrere Fußgänger, die am Rande der Kreuzung stehen blieben. Er spürte den Ruck, der durch das Auto ging als sie anfuhren. Dann handelte er. In einer einzigen hektischen Bewegung riss er die Tür auf – und stieß Jennifer hinaus. Er hatte die Kraft genau berechnet und wusste, dass sie nicht mehr als ein paar Schrammen davon tragen würde. Zum Glück war kein Auto direkt hinter ihnen, so dass sie nicht Gefahr lief überfahren zu werden. Stattdessen stiegen die Fahrer der anderen Fahrzeuge aus, rannten panisch auf sie zu, einige bereits ein Handy am Ohr um den Rettungsdienst zu alarmieren. Sie war außer Gefahr. Sie würde leben. Ihm Gegensatz zu ihm, wie er vermutete. Der Komplize, bisher still und ausdruckslos, ließ einen Schwall wilder Schimpfwörter los, die selbst einen Zuhälter die Röte ins Gesicht getrieben hätten. Er hatte auf Charlie geschossen, kaum dass dieser das Mädchen hinaus gestoßen hatte, jedoch nicht wirklich gezielt, so dass es bei einem höllisch brennenden Streifschuss geblieben war. Dunkin hingegen grinste nur, während er nun mit voll durchgedrücktem Gaspedal über die buckelige Straße bretterte. Er schien zufrieden damit zu sein Charlie in seiner Gewalt zu haben. Und offensichtlich glaubte er, dass diese sich, angekettet und nun auch verletzt, nicht mehr befreien könnte. Damit mochte er sogar recht haben, jedoch hatte der Mathematiker gar nicht vor sich zu befreien. Es reichte ihm vollkommen aus, diese beiden Kindesmörder nicht ungeschoren davon kommen zu lassen. Aufmerksam beobachtete er den Straßenverlauf. Als eine scharfe Kurve vor ihm auftauchte, sah er seine Chance gekommen. Mit aller Kraft die ihm geblieben war – zugegebenermaßen nicht viel – begann er Dunkin zu würgen. Mit zwei schnellen Schüssen in seine Schultern, beendete der Komplize das Manöver der Geisel, doch es war bereits zu spät. Abgelenkt durch diesen unerwarteten Angriff hatte Dunkin die Kontrolle über das Auto auf dem nassen rutschigen Kopfsteinpflaster bereits verloren und das Gefährt raste nahezu ungebremst über einen kleinen Abhang. Trotz der Tatsache, dass er wahrscheinlich gleich sterben würde, musste Charlie lächeln. Er war nicht mehr der Junge, der sich vor Dunkin fürchtete. Immerhin etwas, das er erreicht hatte, bevor er starb. Erstaunlicherweise war er nach dem Aufprall nicht sofort tot. Sein Körper fühlte sich seltsam an, verdreht in unmöglichen Winkeln, aber diese Erfahrung war eindeutig zu schmerzhaft. Von weitem hörte er die Sirene eines Krankenwagens. Vielleicht... vielleicht... war er doch nicht tot. Vielleicht... vielleicht... würde er es überleben. Der Gedanke freute ihn absurder weise vor allem deshalb, weil er dann Jennifer weiter in Mathe unterrichten konnte – die Kleine hatte eindeutig Talent. Sein Handy klingelte, doch er hatte nicht die Kraft ran zu gehen. Langsam schweiften seine Gedanken ab. Er dachte an seine Familie. Don würde bestimmt sauer sein, weil er nicht schlafen gegangen war, kam ihm in den Sinn. Aber es ging wahrscheinlich in Ordnung. Apropos Don... irgendwann müsste er ihm erzählen, was er und Ramon damals für ein Zeug geraucht hatten. Ich mache es kurz und schmerzlos: Das sollte eigentlich viel kürzer sein. Und vor allem sollte es mich nicht bis nach null Uhr wach halten, wenn ich am nächsten Morgen früh aufstehen muss. Aber egal. Ich hoffe man merkt der Geschichte nicht zu sehr an, dass ich beim Schreiben schon halb geschlafen habe – aber immerhin ist sie dadurch absolut assoziativ, ich bin zu müde um vorauszuplanen. ;) Ich hoffe sie hat euch gefallen – und ich stelle mit Erstaunen fest, dass es bisher die einzige Numb3rsfiction auf Animexx ist. Dem muss Abhilfe geschaffen werden! Schnappt euch Stifte oder Tastatur und schreibt. Okay, ich sollte wirklich Schluss machen – ich fange an Unsinn zu quasseln. Wenn es euch gefallen hat, lasst mir nen Kommentar da. Wenn es euch nicht gefallen hat ebenfalls. Und lest auch die anderen Geschichten des Assoziativen-Schreiben-Zirkels zu diesem Satz. ;) P.S: Endlich wieder wach und was muss ich feststellen? Ich habe vergessen meine Gedankengänge bezüglich Dunkins Handlungsweise darzulegen. Ausnahmsweise wird es also einen kleinen Epilog zu diesem Oneshot geben. ^^ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)