Zerspringende Ketten von Benjy ================================================================================ Kapitel 11: Gespielte Gefühle ----------------------------- Yuzuru saß an seinem Schreibtisch und versuchte sich auf seine Hausaufgaben zu konzentrieren. Es fiel ihm nicht leicht, da seine Ohren seit mehr als einer Stunde von lauten Flüchen, und den darauf meist folgenden Siegesschreien attackiert wurden. Er seufzte resigniert und ließ seinen Kopf seitlich auf das offene Buch vor ihm sinken. „Hey Takaya...“, brachte er gequält hervor. Yuzuru wartete auf eine Antwort, aber nichts geschah. Er stöhnte missmutig, da er langsam das Gefühl bekam, er würde Selbstgespräche führen. „Du kannst das Spiel gerne mit nach Hause nehmen. Hey?! Hast du gehört?“, bot Yuzuru an und drehte sich zu Takaya um. Dieser saß auf seinem Bett und starrte konzentriert auf den flackernden Bildschirm vor ihm. „Oh Mist! Verdammt... Ja! Das hat du davon...und den noch... Haha! Hä? Was hast du gesagt, Yuzuru!?“, antwortete Takaya beinah eine Minute später. Yuzuru grinste schief und schüttelte nachsichtig den Kopf. Er konnte an Takayas Verhalten ablesen, dass mit ihm etwas nicht stimmte. Irgendwas schien Takaya nach wie vor zu belasten und er tat alles, um sich davon abzulenken. Die Tatsache, dass Takaya nicht mit ihm darüber sprach, machte ihn traurig. Yuzuru hatte gehofft, dass sich dieser, nach allem, was sie gemeinsam erlebt hatten, etwas offener ihm gegenüber zeigen würde, aber dem war noch immer nicht so. Ihm blieb daher also nichts weiter übrig, als weiterhin geduldig darauf zu warten, dass Takaya ihm irgendwann sein Herz ausschüttete. Yuzuru dachte an die Ereignisse der letzten Tage. Als Takaya sich vor zwei Tagen überraschend bei ihm gemeldet hatte, um ihm mitzuteilen, dass er wieder zurück war und es Naoe gut ging, war er überglücklich gewesen. Takaya hatte ihm erzählt, dass Naoe gerade dabei war, einen Auftrag zu erledigen und dieser daher keine Zeit hatte, sich zu melden. Yuzuru ahnte zwar, dass das nicht die komplette Wahrheit war, aber er bedrängte Takaya in dieser Hinsicht nicht weiter. Er hoffte einfach, dass er bald selbst die Möglichkeit bekam, Naoe mit eigenen Augen zu sehen. Überdies hatten seine schrecklichen Träume zu jenem Zeitpunkt aufgehört, als sich Takaya zurückgemeldet hatte – demzufolge bestätigte das Ausbleiben seiner Alpträume Takayas Worte. Yuzuru freute sich darüber, dass Takaya auf seine spezielle Art ehrlich zu ihm war. „Was hast du gesagt?“ Takaya wiederholte seine Frage und guckte mit gerunzelter Stirn zu Yuzuru rüber, der nun seinerseits nicht reagierte, da er gedankenverloren zum Fenster hinausblickte. Takaya sah hinter sich und griff nach dem Kopfkissen. Seine Augen blitzten vergnügt auf, als er ausholte und das Kissen warf. Yuzuru drehte sich im ungünstigsten Moment um, denn das Kissen landete mitten in seinem Gesicht. Ein überraschter Laut kaum aus seinem Mund, während es zu Boden fiel und er wieder freie Sicht auf Takaya hatte. Völlig verblüfft über Takayas Tat konnte er sehen, wie dieser erfolglos versuchte, nicht laut loszulachen. Yuzuru zögerte keine Sekunde. Er sprang erbost auf, schnappte sich das Kissen und stürmte auf Takaya los. Diesem blieb das Lachen im Hals stecken, während er entgeistert zu dem temperamentvoll näher kommenden Yuzuru starrte. „Hey! Halt! Was hast du vor?“, stammelte Takaya, der augenblicklich den Controller aus der Hand warf und abwehrend die Hände hob. Yuzuru stoppte seinen Lauf nicht wirklich, sondern holte zudem mit dem Kissen aus. Er verfehlte Takayas Oberkörper nur deshalb, weil sich dieser nach hinten aufs Bett warf. „Ha! Fehler!“, brüllte Yuzuru begeistert, der Takayas schlechte Defensive ausnutzte. Er setzte sich rittlings auf dessen Schoß und hatte somit die Möglichkeit, ihn aus dieser Position heraus mit dem Kissen zu bearbeiten. Takaya hob lachend die Arme und machte sich daran, Yuzuru von seinem Körper zu werfen. „Was ist denn in dich gefahren?!“, brachte Takaya belustigt hervor, als er es endlich geschafft hatte, Yuzuru neben sich auf das Bett zu stoßen. Beide lagen schwer atmend nebeneinander auf dem Rücken und starrten an die Decke. „Keine Ahnung! Vielleicht war ich einfach genervt davon, dass du unaufhörlich meine vier Wände mit unanständigen Ausdrücken beschmutzt hast!“, witzelte Yuzuru, der seinen Kopf Takaya zudrehte. „Ich und unanständige Worte! Verwechselst du mich vielleicht mit Chiaki?“, entgegnete Takaya in gespielter Empörung. Er schloss seine Augen und genoss Yuzurus Nähe. Er konnte sich immer noch nicht erklären, warum er in Yuzurus Gegenwart komplett abschalten konnte und es ihm leichter fiel, seine innere Ruhe wieder zu finden. Er seufzte zufrieden. „Es tut gut, dein Lachen zu hören, Takaya!“, erwiderte Yuzuru aufrichtig. Er blickte weiterhin in Takayas Richtung. Dieser drehte ihm den Kopf zu und hob ungläubig die Augenbrauen. „Woah! Das klingt völlig schräg, wenn das aus deinem Mund kommt!“, stellte Takaya fest und verpasste Yuzuru eine leichte Kopfnuss. „Autsch! ... Ey, lass das! Ich würde es niemals wagen, mich über dich lustig zu machen! Es bereitet mir eben Sorgen, weil du dich so benimmst, wie du dich benimmst!“, meinte Yuzuru im beleidigten Tonfall, der sich den Kopf an der Stelle rieb, die Takaya mit seiner Faust drangsaliert hatte. „Ich bin dein bester Freund! Ist es da nicht normal, sich zu sorgen?! Nur leider muss ich die schwere Bürde tragen, dass mein bester Freund gleichzeitig ein sehr verschlossener ist...“, entgegnete Yuzuru seufzend, der dem aufbegehrenden Takaya mit einer Handgeste augenblicklich das Wort abschnitt. „Ich beklage mich hier nicht, Takaya! Noch will ich dich zu irgendwas drängen... Das Einzige, was ich will, ist dir helfend zur Seite zu stehen. Nun, und wenn das eben bedeutet, dass ich einfach deine wechselhaften Stimmungen aushalten muss, dann soll es so sein. Aber du sollst wissen, dass du über alles mit mir reden kannst!“ Als Yuzuru seine leidenschaftliche Erklärung beendet hatte und Takaya direkt in die Augen sah, konnte er neben Bewunderung auch ein belustigtes Funkeln erkennen. Er wandte verlegen seinen Blick ab und wartete darauf, dass Takaya die Stille brach. „Danke, Yuzuru! Du weißt gar nicht, wie sehr du mir hilfst, weil du so bist, wie du bist!“, antworte Takaya aufrichtig und lachte dabei glücklich. „Warum werde ich das Gefühl nicht los, dass du mich gerade aufziehst?!“ Während Yuzuru das sagte, richtet er sich auf und sah skeptisch neben sich. Takaya lugte zu ihm hoch und grinste über das ganze Gesicht. „Meine Worte waren aufrichtig gemeint!“, erwiderte dieser mit Nachdruck und setzte sich ebenfalls auf. Sein Gesicht nahm einen ernsten Ausdruck an, als er die nächsten Worte sprach. „Wirklich, Yuzuru. Ich mag vielleicht nicht über alles reden können, aber wenn ich sage, dass ich in deiner Gegenwart zur Ruhe komme, dann ist das so! Ich weiß natürlich, dass das meine Probleme nicht löst, aber es hilft mir trotzdem ungemein. Es ist fast so, dass ich aus meiner neu gewonnen Mitte heraus die problematischen Dinge leichter betrachten kann – was für deren Lösung sehr von Vorteil ist! Wie du siehst, du tust mehr, als du eigentlich denkst!“, offenbarte Takaya einem verblüfft schauenden Yuzuru. „Also, wenn DU so etwas sagst, dann klingt das noch viel schräger!“ Yuzurus Augen funkelnden schelmisch. „Und was machen wir jetzt?! Vielleicht Ringe austauschen?!“, scherzte Takaya, der sich auf die Suche nach dem weggeworfenen Controller machte. „Hast du Lust, eine Runde gegen mich anzutreten?! Ist irgendwie langweilig, ständig gegen den Computer zu spielen.“ Als Takaya das Gesuchte gefunden hatte, sah er fragend zu Yuzuru, der seinen Blick fassungslos erwiderte. „Ringe?!? Ich wusste gar nicht, dass du auf so einen Kitsch stehst! Aber wenn du meinst... Wenn ich mich recht erinnere, dann müsste ich hier irgendwo welche aus dem Kaugummiautomat liegen haben...“, meinte Yuzuru belustigt und schickte sich an, dass Bett zu verlassen, aber er wurde vom laut lachenden Takaya daran gehindert. „Okay, okay... Ich nehme das zurück! Aber würdest du jetzt endlich eine Runde gegen mich spielen!?“, drängte Takaya weiter, der sich inzwischen wieder neben Yuzurus auf das Bett gesetzt hatte. „Tut mir leid! Ich kann nicht! Ich muss noch den größeren Teil der Hausaufgaben machen. Wenn du nicht die ganze Zeit so laut gewesen wärst, dann wäre ich womöglich schon fertig!“ Während Yuzuru Takayas Bitte ablehnte, sah er ihn entschuldigend an. „So?! Und warum habe ich jetzt das Gefühl, dass dir das nicht wirklich leid tut?!“, argwöhnte Takaya, der insgeheim schon längst beschlossen hatte, Yuzuru endlich allein zu lassen, damit dieser seiner „Leidenschaft“ nachkommen konnte. „Vielleicht solltest du auch ab und zu an diese Dinge denken!“, sprudelte es Yuzuru frech aus dem Mund, der aufstand und sich wieder zu seinem Schreibtisch begab. Er hörte, wie Takaya ergeben seufzte und auch aufstand. „Nun, diesen letzten Satz von dir werde ich ganz schnell vergessen! Aber ich nehme dich beim Wort! Ich werde mir das Spiel ausborgen. Also erwarte nicht, dass ich mit gemachten Hausaufgaben in der Schule auftauche!“ Takaya schnappte sich seine Jacke, das Spiel und ging zur Tür. Er drehte sich noch einmal zu Yuzuru um, der ihn mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen ansah. „Hey?! Alles okay? Soll ich das Spiel lieber hier lassen?!“, fragte Takaya, der fast befürchtete, dass Yuzuru ihm nun zwischen Tür und Angel von weiteren bizarren Träumen berichten würde. Er sah ihn erwartungsvoll an. „Oh?! Nein. Es ist nichts. Du kannst es gerne mitnehmen. Bestell Miya liebe Grüße!“, entgegnete Yuzuru eine Spur zu hastig, was für Takaya mehr als verdächtig klang. „Wie du meinst... Wenn etwas ist, dann zögere nicht, mich anzurufen! Verstanden? Also, bis morgen!“ Takaya verschwand durch die Tür und ließ einen ratlosen Yuzuru zurück. Dieser glaubte, für einen kurzen Moment eine Frau hinter Takaya schwebend gesehen zu haben. Diese Frau richtete ihren liebevollen Blick von Takaya auf ihn und lächelte. Es war ein sanftmütiges Lächeln, aber zur gleichen Zeit ein unendlich trauriges. Yuzuru hatte diese Person noch nie zuvor gesehen. Aber sein Gefühl sagte ihm, dass sie keine Bedrohung war und er Takaya mit seinem Schweigen darüber wohl einen Gefallen tat. Yuzuru ging zum Fenster und sah hinaus. Er konnte sehen, wie sein bester Freund gerade die Straße betrat und unschlüssig stehen blieb. Dieser setzte sich einen Augenblick später in Bewegung, um dann aber erneut stehen zu bleiben. Takaya griff in seine Hosentasche und holte sein Telefon hervor. Er starrte kurz auf das Display, bevor er das Gespräch während dem Weitergehen annahm. Yuzuru verfolgte Takaya neugierig mit seinen Augen, bis dieser an der nächsten Hausecke aus seinem Sichtfeld verschwand. Er seufzte leise und ermahnte sich innerlich, seine Sorgen um Takaya in den Griff zu bekommen, damit diese sein Leben nicht noch mehr beeinflussten, als sie es ohnehin schon taten. Yuzuru setzte sich zurück an seinen Schreibtisch und nahm seine Arbeit dort wieder auf, wo er sie vor wenigen Minuten gestoppt hatte. Takaya saß gelangweilt auf der Schaukel des ihm vertrauten Spielplatzes, der sich in der Nähe seines Zuhauses befand. Er blickte sich suchend um, aber konnte nirgends die Person entdecken, die ihn hier treffen wollte. Sein Telefon fand den Weg zurück in seine Hand und er ging unbestimmt die Adressliste durch. Als er bei Naoes Namen angekommen war, spürte er einen kleinen Stich im Herzen. Takaya musste augenblicklich an die Erlebnisse der letzten Wochen denken – aber vor allem an die aktuellen von vor zwei Tagen. Er konnte es noch immer nicht glauben, aber Naoe war tatsächlich frei und körperlich den Umständen entsprechend unversehrt. „Naoe...“, murmelte Takaya sehnsuchtsvoll und schloss die Augen. Er rief sich den schlafenden Naoe zurück ins Gedächtnis, den er vorfand, als er die Hütte im Wald betreten hatte. Sein Gefühlschaos drohte ihn in jenem Moment zu zerreißen. Auf der einen Seite hätte Takaya Naoe augenblicklich wach prügeln können, aber auf der anderen wollte er einfach Naoes Lippen mit seinen verschließen. Dieses Bedürfnis war letzten Endes das größer gewesen, so dass er Naoe zwar nicht küsste, ihn aber auch nicht unsanft aus dem Schlaf weckte. Trotzdem schaffte es Takaya nicht, seine widersprüchlichen Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. Wenn er an jenes Verhalten zurückdachte, dass er Naoe gegenüber gezeigt hatte, dann wurde ihm unwohl zumute. Er hatte ihn geschlagen, ihn sexuell genötigt und lauter, wie er nun fand, unreife Dinge gesagt. Es war nicht so, dass er Naoe seine wahren Gefühle offenbart hatte, aber dennoch glaubte Takaya, dass er Naoe viel mehr gezeigt hatte, als er eigentlich beabsichtigt hatte. „’Mein Leben gehört dir...auf immer und ewig!’ Eine Liebeserklärung, genau wie damals am See... Der Kuss...“, flüsterte Takaya gedankenverloren, der ein begieriges Beben bei diesen Worten nicht unterdrücken konnte. Seit sich Takaya allen Anteilen seiner Persönlichkeit geöffnet hatte, spürte er erneut die geballte Kraft der scheinbar auswegslosen Lage, in der sich Naoe und er befanden. Das Treffen mit Takahashi hatte eine alte, aber folgenschwere Wunde abermals aufgerissen und somit erneut Öl ins Feuer gegossen. Takaya konnte und wollte Naoe nie verzeihen, was dieser damals getan hatte. Dennoch spürte er zur gleichen Zeit großes Verlangen nach der Nähe dieses Menschen. Er versuchte die ganze Zeit über zu verstehen, was Naoe dazu gebracht haben könnte, sich zu jenem Zeitpunkt so grausam zu verhalten. Bisher war es ihm schwer gefallen, auch nur ansatzweise legitime Gründe dafür zu finden. Wenn er aber an die Ereignisse der letzten Wochen dachte, und sich die damit verbundenen Ängste zurück ins Gedächtnis rief, dann hatte er das Gefühl, dass er nun in der Lage war, wenigstens einen kleinen Teil von Naoes zerrissener Persönlichkeit zu verstehen – Takaya hatte sich dabei ertappt, dass auch er, wenn nötig, alles getan hätte, um Naoe möglichst unversehrt aus Shishidos Fängen zu befreien. Takaya fragte sich immer wieder nach dem Grund, warum auch er auf fragwürdiges Verhalten zurückgreifen würde. Konnte er nicht ohne die Person leben, die ihm so großes Leid zugefügt hatte? Aus Angst vor dem Alleinsein? War es Takayas oder Kagetoras Anteil seiner Persönlichkeit, der sich nach Naoe sehnte? Es verwirrte ihn – seine Gefühle verwirrten ihn. „Warum muss alles immer so kompliziert sein...“, sprach er leise, während er ungeduldig die Uhrzeit überprüfte. Takaya sah sich anschließend erneut um, aber er konnte noch immer keine Spur von der erwarteten Person sehen. Er spürte, dass er langsam wütend wurde – aber er war sich nicht recht sicher, ob er dies darauf zurückführen konnte, dass er zum einen einfach zum Warten verurteilt wurde, oder er aber zwangsläufig die Zeit hatte, um über sich und Naoe nachzudenken. „Verdammt, Chiaki! Beweg deinen...“ Takaya verstummte, als er Schritte vernahm. Er blickte in die mutmaßliche Richtung und konnte wage eine Person erkennen, die lässige Sportkleidung trug und Kopfhörer aufgesetzt hatte. Ein Jogger?! Um diese Uhrzeit? Gut, so spät ist es auch wieder nicht..., dachte Takaya beiläufig, während er die Augen zusammen kniff, um so mehr erkennen zu können. Er begann seine Sinne zu schärfen, um sich für eine mögliche Konfrontation bereit zu machen. Takaya erhob sich von der Schaukel und sah gespannt der Person entgegen, die jetzt eine Laterne passierte und somit deutlich für ihn erkennbar war. Er entspannte sich augenblicklich, als er Chiaki erkannte. Dieser winkte ihm gerade fröhlich zu, als sein Handy zu klingeln begann. Takaya kramte es aus seiner Jackentasche hervor und erstarrte, als er den Namen auf dem Display las. „Naoe!“, brachte er zwischen zusammengepressten Lippen hervor. Er sah kurz zu Chiaki rüber, der noch einige Meter entfernt war, und nahm mit klopfendem Herzen das Gespräch an. „Naoe?! ... Mir geht es gut. ... Nein, bisher nicht. Aber ich treffe mich gerade mit ihm. Warum? ... So?! Und was für einen Grund mag es geben, dass du nicht direkt mit mir darüber sprechen kannst? ... Das verstehe ich nicht. ... Ich wusste gar nicht, dass du Chiaki als deine erste Anlaufstelle siehst?! ... Vergiss es. ... Nein. Egal. Ich werde das Gespräch jetzt beenden. ... Bis dann.“ Takaya sah aufgelöst auf das Display hinab, das noch für einen kurzen Moment aufleuchtete, bevor es sich verdunkelte. Er fühlte sich auf einmal schlecht. So schlecht, dass er am liebsten einfach nach Hause gerannt wäre und alles um sich herum vergessen hätte. Takaya hatte keine Ahnung gehabt, was er sich von seinem ersten Gespräch mit Naoe nach der fürchterlichen Begegnung in der Hütte erhofft hatte, aber es war bestimmt nicht das – Naoe gab sich unerträglich reserviert und kühl, und zu allem Überfluss hatte er sich allein mit Chiaki getroffen, um ihn so über seine Fortschritte zu informieren. Aber warum hatte ihn Naoe dann angerufen? Das passte nicht zusammen. Wollte er etwa seine Stimme hören? Takayas Gedanken begannen zu rasen. Gleichzeitig spürte er die ihm vertraute Wut auf Naoe in sich aufsteigen, so dass es ihm äußerst schwer fiel, seine nun schlechte Laune für sich zu behalten. Kaum war Chiaki bei ihm angekommen, ließ er seinem Zorn freien Lauf – auch wenn er wusste, dass er sich unfair verhielt. „Wenn du mich das nächste Mal um ein Treffen bittest, dann sei gefälligst pünktlich! Hast du verstanden!“, schleuderte er Chiaki bösartig entgegen, so dass dieser perplex stehen blieb und ihn mit einem unbestimmten Ausdruck in den Augen ansah. „Ich weiß zwar nicht, was dir gerade über die Leber gelaufen ist, Takaya, aber für die kleine Verspätung musst du mich nicht gleich anmachen!?“ Chiaki, der sich inzwischen auf die Schaukel neben Takaya gesetzt hatte, starrte interessiert zu diesem rüber, der nun den Kopf gesenkt hielt. Er konnte Takayas Gesicht kaum erkennen, da dessen dunkle Haare die Sicht darauf verdeckten. Er registrierte Takayas verkrampfte Hände und hob irritiert die Augenbrauen. Bevor Chiaki ihn darauf ansprechen konnte, steckte Takaya sie hastig in die Jackentaschen und begegnete offen seinem Blick. „Worüber wolltest du mit mir sprechen?“, fragte Takaya wieder ruhiger, der innerlich versuchte, sein Unbehagen Naoe gegenüber vorerst zu verdrängen. „Wie geht es Yuzuru?“, begann Chiaki neugierig, der es sich nicht nehmen ließ zu schaukeln, wenn er schon einmal auf einer saß. Er grinste breit, als er Takayas missbilligenden Gesichtsausdruck sah. „Guck nicht so! Ist schon etwas länger her, seit ich das zum letzten Mal gemacht habe. Meine Technik ist nicht so berauschend, was?“, scherzte er und ließ Takaya dabei nicht aus den Augen. „Warum willst du wissen, wie es Yuzuru geht? Hast du ihn heute nicht selbst in der Schule getroffen?“, erwiderte Takaya irritiert. „Das stimmt, aber ich wollte einfach von seinem besten Freund wissen, was der dazu sagt...“, meinte Chiaki schlicht, der sein Schaukeln plötzlich stoppte und Takaya mit einem ernsten Gesicht anschaute. „Ich habe vorhin mit Naoe gesprochen. Er hat mir beunruhigende Informationen mitgeteilt...“, sprach Chiaki mit leiser Stimme und sah sich für einen Moment alarmiert um. Anschließend wandte er seine Aufmerksamkeit wieder Takaya zu. In dessen Augen nahm er für einen Augenblick das ihm vertraute wütende Funkeln wahr, das alles und jeden in die Knie zwingen konnte, wenn es darauf ankam. Ist wohl gerade nicht leicht für dich... Auch ich habe weder Einfluss auf Naoe, noch verstehe ich sein Verhalten völlig! Warum er aber freiwillig mit Kousaka zusammenarbeitet, ist mir beinah unheimlich! Nun, da ist wohl Vertrauen angesagt... „Wie dem auch sei...“, beendete Chiaki seinen Gedanken laut und begann, Takaya das Gehörte anzuvertrauen. „Es sieht so aus, dass Yuzuru wieder zur Zielscheibe wird...“, sprach Chiaki leise und sah Takaya abwartend an. Dieser blickte ihn für einen Moment schockiert an, bevor sich sein Ausdruck erneut wandelte – Chiaki sah nun Arroganz aufblitzen, die er nur zu gut kannte. „Inwiefern?“, fragte Takaya in einer Gelassenheit, die seinem inneren Aufruhr Lügen strafte. Die plötzliche Angst um seinen besten Freund verdrängte sogar die Wut auf Naoe, die sich seit dem Telefonat ungehindert mehr und mehr Raum in seinem Denken genommen hatte. „Naoe wollte nicht alles am Telefon erzählen und hält es daher für nötig, dass wir uns alle Morgen treffen und die neuen Entwicklungen besprechen sollten. Die Entscheidung darüber, ob Yuzuru bei dem Treffen dabei sein sollte, wollte er dir überlassen.“ Chiaki schloss seine Übermittlung mit einem verunsicherten Blick auf Takaya ab, da er ahnte, was jetzt kommen würde. Er machte sich auf dessen Wutausbruch gefasst, aber wurde überrascht. Er schaute zu Takaya rüber, der gedankenverloren in die Dunkelheit starrte und nicht erkennen ließ, ob er das Gesagte gehört hatte. Chiaki runzelte verwirrt die Stirn und überlegte, ob er den letzten Satz wiederholen sollte, als sich ihm Takaya gequält lächelnd zuwandte. Chiaki riss konfus die Augen auf. Alles hatte er erwartet, aber nicht diesen Anblick. Ihm wäre es lieber gewesen, wenn Takaya ihn ärgerlich angebrüllt und sich zudem über Naoes anmaßendes Verhalten aufgeregt hätte. Aber ein einfaches, wenn auch gepeinigtes Lächeln? Chiaki rollte ratlos mit den Augen und versuchte in Takayas Gesicht irgendwelche anderen Gefühlsregungen erkennen zu können, aber seine Suche blieb erfolglos. Chiaki blickte in Takayas dunkle Augen und wollte gerade wieder das Wort ergreifen, als dieser unerwartet hastig aufstand, ein paar Schritte ging und dann mit dem Rücken zu ihm stehen blieb. „Ich werde mich dann mal auf den Heimweg machen. Wir sehen uns morgen in der Schule. Unterrichte bitte alle über das morgige Treffen – 19 Uhr sollte okay sein.“, erklärte Takaya mit emotionsloser Stimme und war im Begriff zu gehen, als ihn Chiakis Worte daran hinderten. „Hey!? Alles in Ordnung? Du hast meine Frage außerdem noch nicht beantwortet! Wie geht es Yuzuru nun?“, fragte Chiaki, der über Takayas seltsames Verhalten ein wenig beunruhigt war. „Ihm geht es gut. Ich komme gerade von seinem Zuhause. Wir werden das Treffen vorerst ohne ihn abhalten und dann entscheiden, ob wir ihn anschließend einweihen. Also, bis später...“, entgegnete Takaya müde und ging davon. Chiaki sah ihm besorgt hinterher und fluchte innerlich über die verfahrene Situation zwischen Naoe und Takaya. Er vermutete, dass die beiden nach ihrem Aufeinandertreffen in der Hütte noch kein klärendes Gespräch miteinander geführt hatten. Nicht, dass sie das vorher jemals wirklich getan hätten. Aber nach den Wochen der Sorge um Naoe, der sich absichtlich völlig zurückgezogen hatte, um Takaya nicht in Gefahr zu bringen, war ihre, auf den ersten Blick zerbrechliche, Beziehung zum Zerreisen gespannt. Chiaki war sich sicher, dass Takaya mit der aktuellen Situation fertig werden würde. Aber auf lange Sicht gesehen, hoffte er einfach, dass Naoe den erforderlichen Schritt auf Takaya zugehen würde, damit die Spannung ein wenig nachließe – eine Aussprache war mehr als nötig, so dass zumindest die neuen Wunden geheilt werden konnten. „Okay. Dann werde ich wohl mal den Leuten Bescheid geben und hoffen, dass das Treffen nicht in einer Katastrophe endet...“, murmelte Chiaki skeptisch, der sich ebenfalls von der Schaukel erhob, sein Telefon hervor zog und Naoes Nummer wählte. Ernüchtert über Chiakis beunruhigende Neuigkeiten, spazierte Takaya mit hängendem Kopf gedankenversunken auf dem Gehweg, der ihn direkt nach Hause führen würde. Er dachte an Yuzuru und fluchte laut. Takaya hatte die Hoffnung gehabt, dass vorerst niemand weiter Interesse an Yuzuru und seiner unerklärlichen Kraft zeigen würde, und sie sich daher allein auf Shishido konzentrieren konnten. Aber das nun dem Anschein nach ihre Gruppe gleichzeitig von zwei unterschiedlichen Seiten unter Druck gesetzt wurde, passte ihm überhaupt nicht in den Kram. Über Shishidos Beweggründe besaßen sie nach wie vor kaum Informationen und was die hinzugekommene Seite anging, tappten sie womöglich noch mehr im Dunklen – außer Naoe konnte morgen unerwartet Genaueres berichten, was Takaya inständig hoffte. „Verdammt... Kann denn nicht eins nach dem anderen kommen?!?“, sprach Takaya verärgert, der gleichzeitig hörte, dass sich ein Auto näherte. Augenblicklich schärfte er seine Sinne und warf einen Blick hinter sich, um zu überprüfen, wo sich das Auto befand. Nachdem er sich einen Überblick verschafft hatte, ging er mit selbstsicheren Schritten weiter den Fußweg entlang. Das Auto war Takaya zwar nicht vertraut, aber er hatte auch nicht das Gefühl, dass ihm irgendeine Gefahr drohte. Er versuchte sich zu entspannen und hoffte, dass der Wagen ihn bald überholte, und er sich wieder seinen frustrierenden Gedanken widmen konnte. Nach ungefähr zwanzig weiteren Schritten bemerkte Takaya, dass das Auto aufgeschlossen hatte und langsam neben ihm herfuhr. Er blickte neugierig rüber und versuchte angestrengt zu erkennen, wer hinter dem Steuer saß, aber die Dunkelheit ließ es nicht zu. Takayas Gedanken begannen zu rasen. Die Tatsache, dass der Wagen nicht den Eindruck erweckte, dass er jeden Moment wieder an Geschwindigkeit zunehmen würde, um ihn hinter sich zu lassen, ließ seine Anspannung erneut ansteigen. Er blieb abrupt stehen und drehte sich gereizt dem Auto zu, das ebenfalls seine Fahrt gestoppt hatte. Takaya begann seine Kräfte zu konzentrieren, um möglichst schnell einen Schutzschild aufbauen zu können, falls es nötig wäre, und starrte ungeduldig auf das Fahrzeug. Einen kurzen Moment später öffnete sich die Fahrertür und eine Person stieg aus, die Takaya einen Schauer über den Rücken laufen ließ. Überrascht hielt er den Atem an und stierte fassungslos zu der Person rüber, die er für sein Gefühlschaos verantwortlich machte. „Naoe...“, flüsterte er verzweifelt, während er seine Hände zu Fäusten ballte. Naoe erwiderte seinen Blick gelassen und lächelte. „Soll ich dich nach Hause fahren, Takaya?“, fragte Naoe erwartungsvoll, während er seine Arme locker auf das Autodach legte und Takaya von oben bis unten musterte. Takaya saß aufgewühlt auf dem Beifahrersitz und blickte zum wiederholten Male verstohlen zu Naoe rüber, der seinerseits stumm den Wagen fuhr. Seit Beginn ihrer Fahrt hatte Naoe weder ein Wort mit ihm gewechselt, noch hatte er in seine Richtung geschaut. Naoes konzentrierter Blick war stur auf die Straße vor ihm gerichtet, so dass Takaya das Gefühl hatte, dieser hätte seine Anwesenheit schlichtweg vergessen. Takaya wusste nicht, was er jetzt machen sollte. Auf der einen Seite gab es so vieles, was er von Naoe wissen wollte, aber er nicht wusste, wie er danach fragen sollte. Auf der anderen Seite hingegen war er so voller Zorn, dass es ihm mit jeder Minute schwerer fiel, einfach nur still zu sitzen und darauf zu warten, dass Naoe endlich eine Reaktion zeigen würde. Takaya hätte Naoe am liebsten am Kragen gepackt und alles aus ihm heraus geschüttelt. Verdammt, verdammt...verdammt! Sag endlich etwas! Behandle mich nicht wie Luft..., flehte Takaya innerlich, der sich nicht entscheiden konnte, welcher Gefühlsregung er den Vorrang lassen sollte. Wie sehr sich Takaya auch anstrengte, Naoes Verhalten verstehen zu wollen, kam er letztendlich nicht umhin sich einzugestehen, dass er dabei keine befriedigende Lösung erhielt. Es widerte ihn beinah an, dass Naoe so gelassen neben ihm sitzen konnte und es dadurch den Anschein hatte, als hätten sich die Wochen der Gefangenschaft überhaupt nicht ereignet. Takaya biss sich gedankenverloren auf seine Unterlippe und schmeckte Blut. Überrascht darüber, zuckte er kaum merklich zusammen und sah verlegen aus dem Beifahrerfenster. Gut, gut...du hast gewonnen, Naoe! Wenn du nichts sagst, dann werde ich es eben tun... Takaya verzog für einen Moment verärgert das Gesicht, und konzentrierte sich anschließend auf seine Atmung. Er musste ruhiger werden. Wenn nicht, dann befürchtete er, dass er bei der kleinsten falschen Bemerkung in die Luft gehen würde. Diese Genugtuung wollte er Naoe nicht geben – zu oft hatte dieser in der Hinsicht schon über ihn triumphieren können. Takaya war sich bewusst darüber, dass der Altersunterschied zwischen ihm und Naoe einen Vorteil für diesen bedeutete, dennoch besaß er allein die uneingeschränkte Befehlsgewalt über ihn und den Rest der Gruppe. Er könnte Naoe also einfach den Befehl erteilen, alles zu erzählen, was er wissen wollte, aber dieser Gedanke erschien ihm nicht richtig. Takaya bemerkte, dass sich seine anvisierte innere Ruhe in Luft aufzulösen begann. Er presste unzufrieden die Lippen aufeinander und sah erneut zu Naoe rüber. Dieser hatte unerwartet seinen Blick auf ihn gerichtet. Ihre Augen trafen sich und Takaya hielt überwältigt inne. Es waren nicht viele Tage vergangen, seit er Naoe zuletzt in der Hütte gesehen hatte, dennoch verursachte ihm dessen Anblick erneut eine Gänsehaut. Takaya hatte keine Ahnung, was in Naoes Kopf vorging, wenn dieser ihn so ansah. Dafür wusste er aber umso besser, was sich bei ihm selbst alles tat, wenn er in Naoes Augen blickte – neben seiner Wut und Unzufriedenheit, spürte er die immer stärker werdende Präsenz eines weiteren Gefühls, welches ihn mehr und mehr verunsicherte. Takaya wollte und konnte es sich selbst noch nicht eingestehen, aber er spürte die immer größer werdende Zuneigung - daran gab es keinen Zweifel. Die Wochen der Angst und Sorge um Naoe, und natürlich seine unbändige Wut auf diesen waren schon Beweis genug dafür. Aber auch die Tatsache, dass sein Herz vor Eifersucht und Sehnsucht schneller zu schlagen begann, wenn er daran dachte, dass Naoe unfreiwillig mit Shishido geschlafen hatte, ließ keinen Zweifel über seine wahren Gefühle Naoe gegenüber aufkommen. Wenn Naoe ihm so wie jetzt in die Augen sah, hatte Takaya das Gefühl, dass dieser Dinge sah, die er selbst nicht sehen konnte. Es schien, dass Naoe in der Lage war, bis in die hinterste Ecke seiner Seele blicken zu können – eben zu jenen dunklen Flecken, die er selbst erst Stück für Stück zu beleuchten begann. Gerade dieses Gefühl der Entblößung, dass er bei Naoes intensiven Blicken unterschwellig empfand, machte ihm zu schaffen. Takaya fühlte sich unsicher, aber zugleich war er zornig, da er oder eher Kagetora sich selbst in diese Lage gebracht hatte. Er wusste, dass er als Kagetora Naoe schon seit Jahrhunderten kannte, aber als Takaya dagegen erst seit kurzer Zeit. Er hatte inzwischen akzeptiert, dass Kagetora ein Teil von ihm, wie Takaya ein Teil von Kagetora war, dennoch hatte er häufiger das Gefühl, nicht zu wissen, wer er wirklich war. Wenn er Naoe richtig verstanden hatte, dann war er schon immer Kagetora, nur eben ohne jene Erinnerungen. Diese hatten ja auch bis vor kurzem völlig abgekapselt in ihm geschlummert. Es ängstigte ihn nach wie vor, wenn jene ihn überrumpelten und er Dinge sah und spürte, die ihm fremd erschienen. Auch wenn Takaya sich inzwischen damit abgefunden hatte, sich allen erfreulichen wie unerfreulichen Aspekten seiner außergewöhnlichen Persönlichkeit öffnen zu müssen, so hatte er nun Schwierigkeiten herauszufinden, wem Naoes Liebe galt. Er war sich nicht sicher, wen dieser wirklich begehrte – ihn oder Kagetora. Aber wenn er und Kagetora ein und dieselbe Person waren, dann... Takayas Gedanken kreisten ununterbrochen von einer Feststellung zur nächsten und wieder zurück, so dass er nicht mitbekam, dass Naoe ihn etwas gefragt hatte. Erst als sich dieser ein zweites Mal an ihn wandte, reagierte Takaya. „Wa...was?“, brüllte Takaya überrascht und ärgerte sich über das Entgleiten seiner Stimme. Er bemerkte, dass sich Naoes Mund zu einem belustigten Lächeln formte. „Hey! Kein Grund, sich gleich zu amüsieren!“, rief Takaya noch immer ungehalten in Naoes Richtung, der inzwischen wirklich lachte. Takaya wandte abrupt seinen Blick ab und sah nach vorn. Er genoss Naoes ausgelassenes Lachen. Es war lange her, dass er ihn das letzte Mal so lachen gehört hatte. Takaya schluckte seinen Unmut herunter und lächelte besänftigt. „Was für ein seltener Anblick... Du lächelst, Takaya!“, sprach Naoe beeindruckt mit seiner wohlklingenden Stimme. „Wenn du das so sagst, werde ich das Gefühl nicht los, dass du dich über mich lustig machst.“, erwiderte Takaya argwöhnisch, der weiter unbeirrt auf die Straße vor ihm blickte. „Ich würde nie auf die Idee kommen, mich über dich lustig zu machen. Die Äußerung war ernst gemeint! Außerdem steht dir das Lächeln besser als dein mürrischer Ausdruck...“, meinte Naoe vergnügt, der Takayas herannahendem Aufbrausen Einhalt gebot, indem er ihm unerwartet mit seiner Hand die Haare zerwuschelte. Takaya starrte daraufhin völlig perplex zu Naoe rüber, der inzwischen wieder beide Hände am Lenkrad hatte und mit einem entschuldigenden Lächeln die Straße hinter ihnen durch den Rückspiegel überprüfte. „Wie geht es dir, Takaya? Kousakas Vorgehen in der Hütte war ja alles andere als sanft...“, fragte Naoe neugierig, der es nun wieder vermied, ihn anzusehen. Takaya, der bei Kousakas Erwähnung Wut in sich aufsteigen spürte, holte tief Luft, um dieser freien Lauf zu lassen, als ihm augenblicklich Naoes liebevolle Worte und der Kuss zu jenem Zeitpunkt in den Sinn kamen. Verlegen senkte er den Kopf. „Nicht annährend so sanft, wie eine gewisse andere Person...“, stellte Takaya mit leiser Stimme fest. Naoe sah für einen kurzen Moment irritiert zu Takaya, der seinen Kopf noch immer gesenkt hielt und fragte sich, ob er das Gesagte richtig verstanden hatte. Nicht so sanft, wie eine gewisse andere Person?! Was meinst du damit? Halt... Heißt das, du warst gar nicht... Hast du etwa alles mitbekommen?, dachte Naoe verblüfft und fuhr sich schuldbewusst mit der linken Hand durch die Haare. Er fühlte, dass eine leichte Röte seine Wangen überzog. Dann haben Kousaka und ich dich tatsächlich unterschätzt... Aber warum hast du dich ruhig verhalten? Wolltest du auf diese Weise Kousakas Beweggründe herausfinden? Du überrascht mich immer wieder aufs Neue, Takaya... Naoe fuhr langsam an eine rote Ampel heran und überlegte fieberhaft, was er nun sagen konnte. Es war nicht so, dass er sein Verhalten in der Hütte bereute. Aber die Tatsache, dass Takaya ihn bewusst miterlebt hatte, verunsicherte ihn etwas. Er fragte sich, was in Takayas Kopf alles vorgegangen sein musste, als er ihn einfach allein zurückließ. Wäre er an Takayas Stelle gewesen, dann hätten Wut, Enttäuschung und Sehnsucht seine Gedanken bestimmt, aber erging es diesem genauso? Er hatte keine Ahnung. Naoe beschleunigte die Fahrt wieder, als die Ampel auf grün schaltete und seufzte leise. Seine Hände umklammerten das Steuerrad ungewollt fester, als er erneut Takayas Stimme vernahm. „Mir geht es gut. Was ist mit dir? Du hast schließlich in dem Auto gesessen, das den Abhang runtergesaust ist.“, fragte Takaya aufrichtig, der Naoe interessiert von der Seite anblickte. Wenn Takaya an den Unfall zurückdachte, dann wurde ihm noch immer übel vor Sorge – Naoe hatte bei dieser Aktion sein Leben aufs Spiel gesetzt. Glücklicherweise war alles gut gegangen, dennoch verurteilte Takaya Naoes risikobereites Vorgehen. Naoe hätte zu diesem Zeitpunkt nur noch eine kurze Weile ausharren müssen, dann hätten er und Kousaka sie eingeholt, aber so hatte Naoes selbstmörderisches Vorgehen ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht. Takayas abschweifende Gedanken wurden durch Naoes selbstsichere Antwort unterbrochen. „Mit mir ist alles in Ordnung. Lediglich der ein oder andere blaue Fleck schmerzt hin und wieder, aber wie du siehst, wandle ich nicht unter den Toten.“, erwiderte Naoe scherzhaft und sah rüber zu Takaya. Dort traf er auf vor Wut blitzende Augen, die ihm den Atem raubten. Tiger´s Eye..., dachte Naoe berauscht. Er hätte Takaya auf der Stelle küssen können, aber er wusste, dass das nicht möglich war. Nicht, solange sie ihre schwierige Beziehung ungeklärt ließen. Naoe machte sich keine Illusionen darüber, dass das schon in naher Zukunft geschehen könnte, dennoch gab er die Hoffnung nicht auf, Takaya irgendwann bedingungslos in den Armen halten zu können. „War meine Frage etwa so lustig, Nobutsuna?!“, schleuderte Takaya Naoe bitter entgegen und starrte weiter unerschütterlich zu diesem rüber. Naoe wandte betroffen den Blick ab und blieb stumm. „Ich habe dich etwas gefragt! Und ich will eine Antwort!“, beharrte Takaya weiter, der das Gefühl hatte, dass er vor lauter Abneigung nicht mehr atmen konnte. Er versuchte sich zu beruhigen. Es tat ihm weh zu hören, dass Naoe so leichtfertig über diese Sache sprach. Takaya hütete sich davor, darüber nachdenken, was gewesen wäre, wenn Naoe diesen Unfall nicht überlebt hätte. Natürlich wäre dieser wiedergeboren worden, aber wann und wo? Takaya wollte Naoe nicht schon nach so kurzer Zeit verlieren. Es gab so vieles, was er noch erfahren musste und brauchte hierbei die Hilfe von Naoe. Er wollte Naoes völlige Untergebenheit. Er wollte dessen Vertrauen, er wollte nicht allein sein... „Tut mir leid, Kagetora-sama...“, antwortete Naoe mit leiser Stimme. Takaya zuckte bei diesem Namen für einen Moment zusammen. „Ich wollte nicht so sorglos klingen. Ich weiß, dass mein Verhalten nicht-“, begann Naoe seine Erklärung, aber er wurde dabei unsanft von Takaya unterbrochen. „So?! Und welche deiner allein getroffenen Entscheidungen sind deiner Meinung nach fragwürdig?“, hakte Takaya erbarmungslos nach, der spürte, dass er es genoss, Naoe so unter Druck setzen zu können – aber zugleich stieß ihn sein eigenes Verhalten ab. Takaya wäre es lieber gewesen, dass er mit Naoe in Ruhe darüber und über so vieles mehr hätte reden können, aber er schaffte es nicht. Er konnte seine aufbrausenden Gefühle einfach nicht im Zaum halten und hoffte, dass Naoes es ihm nachsah – so wie er es schon immer getan hatte. „Keine meiner Entscheidungen war fragwürdig! Selbst als ich dich allein in der Hütte zurückließ, habe ich mit gutem Gewissen gehandelt!“, entgegnete Naoe mit fester Stimme. „Verstehe.“, flüsterte Takaya verletzt, der sich wünschte, Naoe hätte ihm eine andere Antwort gegeben. Aber welche hatte er hören wollen? Dass Naoe ihm dennoch treu ergeben war? Dass er ihn trotz allem liebte? Dass es ihm Leid tat? Takaya war es aufgrund seines Gefühlschaos nicht möglich, einen klaren Gedanken zu fassen. Das Einzige, was er momentan wusste, war, dass er Naoes Gegenwart nicht länger ertragen konnte. „Halt an.“, sprach Takaya unglücklich. „Was?“ Naoe sah irritiert zu Takaya rüber, der sich anschickte, sich abzuschnallen. „Du hast mich schon verstanden. Lass mich aus dem Auto raus!“, erwiderte Takaya ungeduldig, dessen Stimme wieder an Schärfe gewann. „Warum? Nichts da! Ich fahre dich, wie vereinbart, nach Hause!“, antwortete Naoe mit zunehmender Besorgnis. „Wenn du nicht sofort den Wagen anhältst, dann helfe ich dir gerne dabei!“, drohte Takaya, der nun Naoe in die Augen sah. Dieser erwiderte seinen Blick und presste angespannt die Lippen aufeinander. „Ist es wirklich das, was du willst, Takaya?!“, fragte Naoe betrübt, der den Wagen auf leerer Straße wie befohlen an den Rand fuhr und anhielt. „Muss ich darauf antworten?!“, entgegnete Takaya unberührt und öffnete die Beifahrertür. Als er begann, sich aus dem Sitz zu erheben, spürte er Naoes Hand auf seinem Arm, die ihn sanft daran hindern wollte. Er starrte auf sie hinunter und fühlte Unentschlossenheit in sich aufsteigen. Takaya schloss für einen Moment die Augen, unterdrückte seine Sehnsucht und befreite seinen Arm von Naoes Hand. Er stieg aus und wollte die Tür schließen, als ihn Naoes Stimme davon abhielt. „Takaya, warte...“, sprach Naoe wehmütig und stieg ebenfalls aus. Er sah über das Autodach hinweg zu Takaya, der ihn mit fragenden Augen anblickte. „Es gibt einen Grund, warum ich dich allein treffen wollte.“, meinte Naoe miserable, da es ihm schwer fiel, dass bisherige Gesprächsthema einfach beiseite zu schieben. Er konnte Neugier in Takayas Blick erkennen. „Chiaki hat mir gesagt, dass du wegen Yuzuru Bescheid weißt. Nun, was ich dir jetzt mitteilen werde, weiß bisher weder Kousaka noch Chiaki oder Haruie. Ich bin der Meinung, es sollte auch vorerst so bleiben.“, sprach Naoe leise, der aufmerksam die Umgebung musterte, bevor er erneut zu Takaya sah. „Ich denke, dass es zwischen Shishido und der für uns noch unbekannten Seite, die es auf Yuzuru abgesehen hat, eine Verbindung gibt.“, berichtete er weiter, als Takaya ihn unterbrach. „Was für eine Verbindung?“, wollte dieser alarmiert wissen. „Es hat den Anschein, dass Shishidos Familie dahinter steckt. Shishido selber wird darüber wahrscheinlich nicht Bescheid wissen, da er mit seiner kompletten Familie gebrochen hat. Aber wenn die Informationen stimmen sollten, dann gibt es einen Grund mehr, ihn aufzusuchen.“ Naoe blickte abwartend zu Takaya rüber und versuchte, in dessen Gesicht eine Reaktion auf das eben Gehörte zu entdecken, aber seine Suche blieb erfolglos. Er spürte, dass seine innere Unruhe wuchs. Ratlos verfolgte er, wie Takaya schweigend die Beifahrertür schloss und sich die Hände in die Jackentaschen steckte. Als er auf erneut auf Takayas Augen traf, sprühten diese nun förmlich vor Arroganz. „Warum bist du der Meinung, dass die anderen erst einmal nichts über diese Verbindung erfahren sollten?! Ist das nicht kontraproduktiv? Nun, und dass Kousaka außen vor bleiben soll, kann ich noch nachvollziehen, aber unsere eigenen Leute? Das macht für mich keinen Sinn, Naoe.“, entgegnete Takaya skeptisch. Naoe seufzte erleichtert, da er schon befürchtet hatte, dass Takaya überhaupt nichts dazu sagen würde. „Kousaka vertraue ich nicht, aber das brauche ich nicht noch extra zu erwähnen. Und was unsere Leute angeht, nun, solange Kousaka sich in unserer Nähe aufhält, ist es besser, wenn wir ihm so wenige wie möglich potentielle Quellen zum Ausspionieren bieten. Nicht, dass ich an Chiakis und Haruies Verschlossenheit zweifeln würde. Ich denke aber, dass wir so die Angelegenheit besser im Auge behalten können und später, wenn nötig, werde die anderen eingeweiht.“, erklärte Naoe, der unter Takayas skeptischen Blick ein wenig unsicher wurde. „Ich verstehe zwar noch immer nicht den Sinn und Zweck dieser Überlegung, aber wir werden es vorerst so machen, wie du es vorgeschlagen hast.“, stimmte Takaya Naoes Vorschlag zu. „Wenn das dann alles war, werde ich mich jetzt auf den Weg machen!“, schloss Takaya eisig die Unterhaltung und war im Begriff sich umzudrehen, als ihm Naoes Stimme einen Schauer über den Rücken laufen ließ. „Takaya...ich... Ich wollte nur noch sagen, dass ich...“, brachte Naoe stockend hervor, der das Gefühl hatte, dass ihm seine Sehnsucht nach Takaya den Hals zuschnürte. Er wollte Takaya umarmen, ihn küssen und ihn niemals mehr allein lassen, aber all diese Bedürfnisse fanden nicht den Weg in Form von Worten über seine Lippen. Frustriert über die eigene Schwäche brach er ab. Er blickte entschuldigend in Takayas Augen, die sich für einen Moment überrascht geweitet hatten. Naoe begann zu lächeln, als er erneut das Wort an Takaya richtete. „Wenn ich dich wirklich nicht nach Hause fahren soll, dann werde ich mich hier jetzt verabschieden. Also bis morgen Abend, Takaya!“, sprach Naoe leise, der die eigene Niedergeschlagenheit nicht aus seiner Stimme fernhalten konnte. Takaya nickte stumm und drehte Naoe den Rücken zu, als er endgültig davonging. Naoe schaute ihm eine Weile verloren nach. „Ich liebe dich...“, flüsterte er. Naoe setzte sich anschließend schweigend zurück in den Wagen, wendete und fuhr davon. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)