FFVII: Blue Wanderer - In the lines von Ich_eben ================================================================================ Kapitel 31: Entwicklungen ------------------------- Auf manchen Ebenen war das Wort des legendären General Sephiroth Crescent Gesetz. Es entschied über Schicksale. Ebnete Wege oder errichtete unüberwindbare Hindernisse, ließ Träume zerplatzen oder verhalf zum nächsten Schritt auf der Karriereleiter, beschützte oder richtete hin. Niemand außer Präsident Shinra, Hojo und Zack hatten dem jemals etwas wirkungsvolles entgegenzusetzen gehabt. Jetzt allerdings gesellte sich eine vierte Person hinzu – wenn auch denkbar unfreiwillig. Sephiroth war intensiver auf Cutters Schuldgefühle eingegangen, als jemals zuvor bei einer anderen Person. Seiner Ansicht nach hatte er alle Gewissensbisse neutralisiert. Aber er irrte sich. Und bei aller strategischen Brillanz – diesmal wusste selbst er nicht, wie er dem Mädchen helfen konnte, ohne schädliche Konsequenzen heraufzubeschwören. Den Teenager weiterhin auf Missionen zu schicken war aus vielen Gründen unabdingbar, und Cutter leistete, wie üblich, gute Arbeit – aber sie litt. Nicht zuletzt, weil sich auf Einsätzen innerhalb Midgars das feindliche Feuer kurz- oder langfristig stets auf sie konzentrierte. Die Stadt wusste um den Tod der Rebellenführerin, ließ den Teenager dies überdeutlich spüren, und Cutter akzeptierte die Bestrafung und den Schmerz für eine immer noch als Fehler empfunden Tat mit einer für sie absolut unpassenden Ergebenheit. Sephiroths Aufmerksamkeit hätte dieser Tage auf anderen Ereignissen liegen müssen (zum Beispiel war es der Waffenabteilung in gewünschter Rekordzeit gelungen, Aufbau und Funktionsweise des `FireBooster´s zu entschlüsseln, die Arbeit an einer entsprechenden Antwort fand im 3 Schichtbetrieb statt und Ergebnisse standen kurz bevor) - aber sie tat es nur bedingt. Cutters Verhalten weckte tief in ihm eine undefinierbare Art von Zorn und ließ ein erneutes Gespräch unaufschiebbar werden. „27“, wiederholte der General die eben erhaltene Information. „27 im Laufe der vergangenen Missionen erhaltene, auf Schusswaffen zurückzuführende Treffer. Nicht tödlich, dank des Anzuges. Darf ich fragen, wann du anfangen willst, dich zu wehren?!“ „Ich... ich habe Angst, die anderen Missionsteilnehmer in Gefahr...“ „Deine Teamkollegen“, unterbrach Sephiroth scharf, „sind SOLDIER! Cutter, du wirst dein Verhalten ändern! Augenblicklich!“ „Ja, Sir“, murmelte der Teenager mit gesenktem Kopf. „Cutter...“ Etwas in seiner Stimmlage veränderte sich, wurde weicher ohne an Eindringlichkeit zu verlieren. „Wo ist dein Stolz? Du hast keinen Fehler gemacht! Du verdienst diesen Schmerz nicht! Du...“ Warum kann es mir, solange du deine Arbeit ordentlich erledigst, nicht einfach egal sein? Weshalb möchte ich, dass du dich selbst besiegst? Dass es dir gut geht? Dich so leiden zu sehen... Alles ist falsch! Aber ich kann nicht tatenlos mit ansehen, wie du an dir selbst zugrunde gehst. Ich kann... dich nicht allein lassen. „... hast nicht so hart gekämpft, um dich jetzt als Sandsack benutzen zu lassen. Wehr dich! Du hast alles, was du dafür brauchst. Benutz es!“ „Ich versuch´ s.“ „Nein!“ Das `weiche´ in seiner Stimme wich schlagartig dem harten, militärischen Tonfall. „Du wirst es schaffen! Haben wir uns verstanden! Wegtreten!“ Nur Worte, dachte er. Mehr kann selbst ich diesmal nicht tun. Du treibst mich, den großen General Crescent, an eine meiner wenigen Grenzen. Ich dürfte das nicht zulassen. Ich nicht... Und doch ist dem so. Ich hoffe, meine Worte bewirken etwas... Aber er wusste - wenn selbst ihm nicht mehr blieb als Hoffnung, war die Situation nahezu unlösbar. Er war nicht der Einzige, der sich sorgte. Auch Zack behielt seinen Lieblingsteenager im Auge, und als er sicher war, dass sich die Situation nicht bessern würde, fing er das Mädchen eines Abends in den Fluren ab und nahm sie mit auf den am höchsten gelegensten (und eigentlich für Normalsterbliche ohne Genehmigung nicht zugänglichen) Punkt oberhalb der Platte: Das Dach des mächtigen ShinRa HQs. Es war bereits dunkel, eine ungewöhnlich klare und kalte Nacht. Cutter fröstelte. „Was...“, begann sie, und Zack schüttelte den Kopf und wies nach oben. „Es müsste jeden Moment soweit sein.“ Cutter hob den Kopf. Über ihr leuchteten Milliarden von Sternen am tiefschwarzen Firmament. Sephiroths Line kam ihr in den Sinn, aber dann zog etwas anderes ihre Aufmerksamkeit auf sich: Eine Sternschnuppe. Es dauerte nur wenige Sekunden, ehe sie wieder verglühte – aber ihr folgte eine zweite. Und eine dritte. Und diesen Unzählige. Leuchtende Bahnen, die sich lautlos nacheinander und gleichzeitig durch die Dunkelheit zogen und verblassten, lange, kurze, mal sehr hell, dann wieder fast schüchtern. Wie Wünsche, die für einen flüchtigen Augenblick Gestalt angenommen hatten. Es dauerte mehrere Minuten, ehe das seltene Schauspiel vollständig vergangen war. „Wow“, hauchte Cutter hingerissen. „So etwas geschieht erst in 150 Jahren wieder“, sagte Zack neben ihr leise. „Und wenn du dich im Reaktor nicht gewehrt hättest, wäre es dir vielleicht für immer versagt geblieben.“ Er schwieg einen Augenblick. „Leben ist... etwas seltsames, Cutter-chan. Manche halten es für sinnlos, weil es, wie sie sagen, sowieso dem Tod geweiht sei, und deshalb wehren sie sich nicht, wenn ihr Leben in Gefahr ist. Aber wenn du dich mal umsiehst, wirst du überall gute Argumente entdecken, die dagegen sprechen. Nimm die Tierwelt, zum Beispiel. Selbst schwer verletzt würde jedes Tier noch um sein Leben kämpfen, egal, wie aussichtslos die Lage ist. Und warum tun sie das? Weil sie ihr Leben lieben. Es ist... ein Geschenk. Und dieses Geschenk mit allen Mitteln zu verteidigen, liegt in ihrer Natur. Genau wie bei uns.“ „Aber ich habe Toron getötet, Zack! Dazu hatte ich kein Recht!“ „Weißt du, es gibt da eine Grundformel. `Wer angreift, muss mit Widerstand rechnen.´ Leben begegnet Bedrohungen nicht mit demutsvoll gesenktem Kopf und harrt der Dinge, die da kommen. Leben nimmt festeren Stand und ist bereit zum Kampf! So wird es immer sein. Oder denkst du, Toron hätte sich an deiner Stelle anders verhalten?“ Cutters Kopfschütteln machte diese wichtige Erkenntnis zwar klar, aber Zack spürte, dass es immer noch nicht ausreichte, um das Mädchen von ihren Schuldgefühlen zu befreien – und vorher würde keiner von ihnen dieses Dach verlassen! Er wechselte die Strategie. „Als ich zu ShinRa kam, wollte ich nur eines werden: SOLDIER 1st Class. Im Training versuchen sie, einen auf alles mögliche vorzubereiten. Auch aufs Töten. Irgendwann dachte ich, ich sei bereit, und es würde mir nichts ausmachen. Aber als es dann soweit war...“ Er schüttelte den Kopf. „Es gibt Dinge, auf die ist man niemals vorbereitet. Ich habe mir dieselben Fragen gestellt, wie du jetzt. Hätte ich es verhindern können? Hätte es eine andere Möglichkeit gegeben? Welche Konsequenzen hat meine Tat ausgelöst, und bin ich stark genug, damit klar zu kommen? Eine Weile ging es mir nicht besonders gut, genau wie jetzt bei dir. Aber dann... habe ich es begriffen.“ Er nahm den Teenager in den Arm, und als er wieder sprach, klang seine Stimme leise, aber eindringlich. Fast, wie eine Zauberformel. „Du hast um dein Leben gekämpft und das großartig! Das ist kein Fehler!“ Jedes seiner Worte schien Finsternis und Zweifel in Cutters Herzen ein wenig zurückzudrängen, Raum zu schaffen für neue Gedanken. Wie eine kleine Insel inmitten eines gigantischen Ozeans aus Schuldgefühlen. Bis schließlich... Er hat Recht, dachte Cutter irgendwann. Es ist mein Leben. Wer soll darum kämpfen, es beschützen, es leben, wenn nicht ich selbst? Ich habe diesen Streit nicht angefangen. Ich habe Toron niemals bedroht. Ich war... ein Rädchen in ihrem Plan, das nicht wie erwartet funktioniert hat. Deshalb wollte sie mich töten. Aber ich war stärker! Ich habe `mich´ beschützen können... Und das war gut! Über ihr erklang abermals Zacks leise Stimme. „Jeder in deiner Lage hätte dasselbe getan.“ Er schnaubte. „Außer diesen Schwachköpfen, die glauben, Leben sei es nicht wert, darum zu kämpfen.“ In seinen Armen begann Cutter, leise zu lachen – zum ersten Mal seit Tagen voller Finsternis und Zweifeln. Und Zack wusste, dass es ihm gelungen war, den erdrückenden Ring aus Schuldgefühlen um ihre Seele zu sprengen. Gleichzeitig konnte er spüren, wie sie sich an ihn drückte, ein wortloses, aus tiefstem Herzen kommendes `Danke´. „Bitte, bitte“, grinste der 1st. „Überweis einfach den üblichen Betrag wie gewohnt auf mein Konto.“ Abermals musste Cutter lachen, dann atmete sie befreit auf. Die Schwere war fast vollständig aus ihrem Herzen verschwunden, und an ihren Platz war etwas anderes getreten: Die Gewissheit, sich auch in jeder noch folgenden Schlacht mit allen ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten verteidigen zu dürfen. Und das schloss sämtliche Missionen in Midgar mit ein! Vier Tage und etliche extrem gut gezielten Materiaangriffe später war den Rebellen die Lust, auf den sich schlagartig mit äußerster Entschlossenheit verteidigenden Teenager zu schießen, gründlich vergangen. Etwas wie Normalität kehrte zurück. Und Sephiroth, dem Zack natürlich von dem Gespräch auf dem Dach erzählt hatte, und der völlige Gleichgültigkeit hätte empfinden müssen, wusste nicht, ob er erleichtert sein oder sich ärgern sollte, an einer Situation gescheitert zu sein. Nur eine Erkenntnis blieb. Früher wäre es mir völlig egal gewesen. Nein, nicht einmal das. Ich hätte gar nichts gefühlt. Aber jetzt... Ich habe mich weiter entwickelt. Rein innerlich. Ich bin nicht sicher, ob das gut ist. Aber ich kann es nicht rückgängig machen. Also bleibt mir wohl nur, es weiter zu beobachten... Auf alle Fälle ist das immer eine gute Strategie, wenn man nicht weiß, in welche Richtung die Dinge sich bewegen. Dann schmunzelte er sachte. Cutter ist wieder in Ordnung. Vielleicht hat Zack doch Recht, und es steckt tatsächlich etwas wie ein Phoenix in ihr. Ich sollte mir abgewöhnen, seine Aussagen zu schnell zu verurteilen. Gerade Zack kann... sehr weise sein. Auf seine Art. Vermutlich war er es schon immer. Ich habe es nur nie akzeptiert... Es gibt so viele Dinge, die mir erst seit kurzem richtig bewusst werden. Dinge, die mich stören oder aufregen oder ärgern oder... freuen. All diese Gefühle waren schon immer da, eingefroren in dem Eispanzer um mein Herz und meine Seele... Ich war wohl einfach der Ansicht, sie nicht zu brauchen und habe ihr Erwachen nicht zugelassen. Aber jetzt... Meine Sicht auf diese Welt... ändert sich. Und damit auch meine Welt. Alles nur, wegen Cutter! Dennoch, ich bin... gespannt, wohin die Reise führt. Neue Entwicklungen allerdings gestatteten es ihm nicht, sich länger mit Gedanken wie diesen zu befassen, denn Hojo hielt die Zeit für gekommen, ihn mit einer Langzeitstudie zu beschäftigen. Sephiroth konnte länger als jeder andere SOLDIER ohne Schlaf auskommen – nach etlichen Tagen und Nächten ohne Erholung allerdings, begann auch seine Konzentration zu schwanken. Hojos letzte Injektion ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Und wenn er jetzt einmal mehr mitten in der Nacht ziellos durch die Gänge des HQs streifte, dann nur in der Hoffnung, den Schlaf durch Bewegung herbeiführen zu können oder wenigstens das Konzentrationstief zu überwinden, um mit seiner Arbeit fortzufahren. Dabei der ebenfalls schlaflos durch die Flure wandernden Cutter zu begegnen, war nicht Teil des Plans gewesen – von ihrer Reaktion, nachdem er sie zu guter Letzt wieder vor ihrem Quartier absetzte, ebenso wenig. Sephiroth hielt seine Verblüffung zurück, bis er sein Quartier erreichte. Erst dann betrachtete er den Gegenstand in seiner Hand eingehend, legte ihn schließlich kopfschüttelnd weg und suchte das Badezimmer auf. Als er es wieder verließ, warf er dem in seinem Appartement seltsam fremd wirkende Gerät einen erneuten, kritischen Blick zu, betrat das Schlafzimmer, schlug die Bettdecke zurück, hielt inne, seufzte – und ging hinüber zu dem Tisch, auf dem er den Gegenstand abgelegt hatte. Ein... Cutters... MusicPlayer. „Ich höre zum Einschlafen immer Musik, aber diesmal... klappt´s irgendwie nicht. Vielleicht funktioniert es ja bei dir?“ Sephiroth wusste einmal mehr nicht, was er fühlen sollte. Er hatte von der hilfreichen Wirkung, die Musik haben sollte, gehört, aber es selbst einmal auszuprobieren... Dabei weiß ich nicht einmal, ob ich Musik mag... Diese Erkenntnis stimmte ihn für einen Augenblick sehr nachdenklich und brachte ihn dazu, die von ihm ein wenig hervorgehobenen Dinge aufzuzählen. Viele waren es nicht. Masamune, natürlich. Seine perfekten Kampftechniken. Eine in allen Punkten erfolgreich durchgeführte Mission mit nur wenigen oder gar keinen Verlusten auf der eigenen Seite. Ein von allem Papierkram befreiter Schreibtisch. Die Ruhe seines Appartements. Ein gutes Buch. Aber... wie wichtig war die Erkenntnis, etwas zu mögen, überhaupt für jemanden, dessen Welt in jeder einzelnen Sekunde überdurchschnittliche Leistungen und Erfolge verlangte? Und... wie würde ein solches Universum auf zusätzliche Methoden, sich zu definieren, reagieren? Bei allen anderen schien es zu funktionieren... Das Bewusstsein, nicht wie andere zu sein, drängte sich kalt und scharf in den Vordergrund seiner Gedanken – und stieß, zum ersten Mal seit Sephiroth denken konnte, auf Widerstand. Zaghaft. Aber existent! Korrekt. Ich bin nicht wie andere. Aber... habe ich es jemals versucht? Habe ich mich jemals `normal´ verhalten? Bewusst `menschlich´? Ich kann... mich nicht erinnern. Ich musste immer perfekt sein, um so wenig Angriffsfläche wie möglich zu bieten, und, ich kann es nicht leugnen – es hat Vorteile. Aber jetzt habe ich das Gefühl, als sei mir diese Perfektion... als sei ich mir selbst im Weg. Menschen sind nicht `perfekt´. Sie haben Fehler und Stärken und Schwächen... All das ist Teil ihrer Persönlichkeit. Eine Persönlichkeit habe ich auch, aber besteht meine wirklich nur aus `Stärke´? Ich weiß jetzt wieder, wie sich `Verzweiflung´ anfühlt. Oder `Sorge´. Oder `Hilflosigkeit´. Oder... `Freude´. `Erheiterung´. Das sind keine Schwächen, sondern Gefühle. Habe ich Schwächen? Es muss doch wenigstens eine geben, etwas, das Hojo übersehen hat... Er dachte einen Augenblick lang nach, kam zu keinem Ergebnis, griff fast grimmig zum Telefon, wählte... „Zack! Habe ich Schwächen? Oder einen... Tick? Irgendetwas?“ „Oookkeeey, was hat dir Hojo diesmal verabreicht?“ „Nichts. Beantworte meine Frage!“ Einen Moment lang blieb es ganz still am anderen Ende der Leitung. „Du bist ein verdammter Ordnungsfanatiker, Seph!“, sagte der größte Chaot ganz ShinRa´s schließlich bestimmt. „Ich meine, die Bücher in deinem Appartement sind nicht nur nach Themen, sondern auch nach Dicke, Größe und farblichem Einband sortiert. Bei dir liegt niemals was rum, immer ist alles ordentlich. Und staubfrei! Sogar dein Fußboden ist immer sauber. Das ist unheimlich! Und es nervt!“ „Verstehe. Danke.“ Er legte auf, bevor Zack Gelegenheit bekam, näher nachzufragen, ignorierte das wiederholte Klingeln des Handys und ließ seinen Blick durch das Appartement schweifen. Was Sauberkeit und Ordnung anging, hatte der 1st Recht. Ich kenne es nur so. Im Labor war und ist bis zum heutigen Tag immer alles ordentlich aufgeräumt, weil Hojo Unordnung jeglicher Art und Weise verabscheut. Ich... muss das übernommen haben. Unbewusst. Ordnung ist mit Sicherheit ein Vorteil, aber vielleicht habe ich es übertrieben? So zu sein wie Hojo, und sei es nur ein Punkt, ist... Er schüttelte sich unwillkürlich. Dabei fiel sein Blick auf eines der großen Bücherregale. Auch die Ordnung hier hatte Zack bemängelt, und noch während Sephiroth die wohlstrukturierten Armeen aus Buchstaben betrachtete, kam ihm eine Idee. Wenn ich wirklich herausfinden will, ob auch ich mich zusätzlich auf andere Art und Weise definieren kann, muss ich aus meinem bisherigen Schema ausbrechen. Etwas verändern. Nicht schlagartig. Aber irgendwo muss es anfangen. Er griff nach einem erst kürzlich gelesenen (und somit in nächster Zeit nicht aktuellen) Buch – hielt inne, schüttelte fast ärgerlich den Kopf, wählte ohne genau hinzusehen ein anderes Exemplar und platzierte es ans Ende der langen Reihe, trat zurück und ließ den Anblick auf sich wirken. Das Buch wirkte fehlplatziert, unordentlich, brachte das Schema durcheinander... und ließ das gesamte Regal anders wirken. Lebendig. Sephiroth nickte, teils zufrieden, teils überrascht von dem großen Effekt, den eine solch geringe Veränderung haben konnte, dann betrachtete er abermals den eigentlichen Auslöser für das kontrolliert verursachte Minichaos, den MusicPlayer in seiner Hand, seufzte leise... und gab sich geschlagen. Er kehrte ins Schlafzimmer zurück, zog die Decke über sich, platzierte die Stöpsel und aktivierte das Gerät. Töne, dunkel und hell gleichzeitig, begannen in seinem Kopf zu tanzen, mal langsam, dann wieder schnell, fast als spielten sie miteinander. Sie schwangen sich wie auf unsichtbaren Flügeln getragen hoch auf, und dann wieder hinunter, beschrieben sanfte oder auch steile Kurven, wirbelten umeinander, schienen einander zu umarmen und nur wenige Herzschläge später loszulassen um einander nur Sekunden später erneut zu begegnen... Das ist also deine Musik.., dachte Sephiroth. Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf und ließ sich tiefer in das fremde, aber nicht bedrohliche Tonuniversum sinken. Als das sechste Lied begann fiel ihm ein, dass Cutter einen Satz anfangen und verlegen abgebrochen hatte. „Lied Nummer sechs erinnert mich immer an...“ An mich, dachte Sephiroth irgendwann. Es erinnert dich an mich. In deinem Kopf habe ich ein eigenes Lied? Ich frage mich, was du mir noch alles gewidmet hast... Aber eine Antwort blieb aus. Und so hörte er den Liedern einfach weiter zu, seltsam fasziniert und nachdenklich. So schön die Musik war – ein Erfolg blieb leider aus. Sephiroth war gezwungen, seinen neuen Arbeitstag ebenso müde zu beginnen, wie er den alten beendet hatte, und seine Begeisterung hielt sich in Grenzen. Dennoch schaffte er es, die Dinge wie gewohnt zu regeln ohne anderen einen Grund zur Beanstandung zu geben. Die einzige Störung belief sich auf den uneingeplanten Besuch eines Offiziers, der eine in den folgenden Tagen stattfindende Mission leiten sollte und irgendwie den Mut aufgebracht hatte, bezüglich der vom General getroffenen Mitgliederauswahl Bedenken anzumelden. Sephiroth war schlicht und ergreifend zu müde für Zurechtweisungen oder gar Diskussionen (außerdem hatte er sich über Nacht fest vorgenommen, ab sofort jeden Tag eine Kleinigkeit `anders´ zu machen als bisher). Er übernahm die Mission selbst und ließ den Grund dafür antreten. „Cutter, ich habe dich einer Mission in die Eiszapfenregion zugeteilt. Was sagt dir das?“ „Meterhoch Schnee, Eis, Kälte, mögliche Schneestürme, Schneeverwehungen, Rutschgefahr, potentielles Risiko einer Schneeballschlacht...“ Der General lauschte den (wie er sich eingestehen musste, durch seine ungenaue Frage förmlich herausgeforderten) Ausführungen und dachte darüber nach, dass er diese Mischung aus höchstwahrscheinlich eintretenden Befürchtungen und Absurditäten bis vor wenigen Monaten noch mit einem scharfen Verweis unterbrochen hätte. Jetzt lauschte er diesen mit einer sanften, immer weiter steigenden Heiterkeit, bis endlich der gesuchte Begriff fiel. „Korrekt“, bremste er den Teenager, „Ausrüstung. Hol sie in der Kleiderkammer ab, hier ist das entsprechende Dokument. Überprüf alles, besonders die Schuhe, am besten zweimal, denn sollten Probleme auftauchen - ich werde dich auf keinen Fall tragen.“ Cutters `Ja, Sir!´ klang durch und durch professionell – innerlich aber führte sie einen Freudentanz auf. Die letzte Mission gemeinsam mit Sephiroth war ihres Erachtens nach schon viel zu lange her. Sie nahm den Schein an sich, hielt inne... „Mh... hat das mit der Musik geklappt?“ Und als Sephiroth verneinte, seufzte sie leise: „Schade.“ „Es spielt keine Rolle.“ Ein wenig würde er noch ohne Ruhe auskommen können. Cutter jedoch sah das anders. „Sag das nicht. Schlaf ist wichtig – sogar für dich.“ Sie verzog das Gesicht. „Das war respektlos. Ich bitte um Verzeihung, Sir!“ Das will ich dir auch geraten haben!, schien der Blick des Generals zu sagen. „Wenn du möchtest“, sagte Cutter und wirkte sehr verlegen, „dann... behalte den Player noch ein bisschen, weil... manchmal muss man Musik öfter hören, ehe sie einen zum Einschlafen... Ich hole die Sachen aus der Kleiderkammer!“ Sie salutierte und verließ den Raum. Sephiroth stöhnte leise und schüttelte den Kopf. Früher oder später würde er schon Schlaf finden, entweder weil sein Körper kollabierte oder weil die Wirkung der Injektion nachließ. Alles eine Frage der Zeit. Dass Cutter ihm so gerne helfen wollte, war... Er wusste selbst nicht genau, was es war. Aber er hätte sich sehr gewundert, wäre ihr Verhalten anders gewesen. Er wandte seine Aufmerksamkeit der in Kürze stattfindenden Mission zu. Die Gegend war bekannt für ihre tückischen und urplötzlich auftretenden Schneestürme, und die Chancen, sich in einem wiederzufinden, standen in dieser Jahreszeit extrem gut. Nicht zuletzt deshalb hatte der General Cutter dieser Mission zugeteilt. Er wusste, dass sie die Nerven behalten würde. Zwei Tage später blickte ein Teenager mit relativ ungutem Gefühl dem sich immer weiter entfernenden Black Hawk Helikopter nach – ein immer kleiner werdender Punkt inmitten eines Himmels, der fast so weiß war, wie der den Boden bedeckende Schnee. Der Transport war bisher ruhig verlaufen, dann hatte Sephiroth ein Schneetraining angeordnet, was bedeutete, dass die kleine Truppe den restlichen Weg zum eigentlichen Missionsziel zu Fuß zurücklegen würde. Keine leichte Aufgabe bei einem Untergrund, der einen stellenweise bis zu den Knien einbrechen ließ, aber die SOLDIER waren schlau genug, ihren Unwillen nicht zu zeigen. Besonders einer gab sich restlos begeistert. „Hey“, jubelte Zack, „hier ist es so kalt – ich kann meinen Namen in die Luft hauchen!“ Ein nahezu etwas krakeliges `Z´ stieg in die kalte Luft auf, dicht gefolgt von einem `A´ und einem perfekt geformten `C´. Sephiroth reagierte unverzüglich und verwies den Atemluftkünstler ans Ende der Truppe. Zack nahm den Platz schmollend ein, dann setzte sich die kleine Truppe in Bewegung. Natürlich war der General nicht so naiv, anzunehmen, der äußerst unvorteilhafte Platz würde dem 1st die Albernheiten austreiben, und so wandte er sich irgendwann um. Die Hauchbuchstaben hielten sich eine ganze Weile in der Luft, ehe sie zerfaserten, und so ließ sich das Resultat der letzten Minuten nach wie vor gut lesen. `S´ `E´ `P´ `H´ `I´ `R´ `O´ `T´ `H´ `I´ `S´ `T´ `D´ `O´ Sephiroth warf Zack einen Blick zu, der einen Kontinent hätte spalten können, und Zack hauchte mit absoluter Unschuldsmiene den Rest des Satzes in die Luft. `C´ `H´ `L´ `I´ `E´ `B´ `.´ Ich bring ihn um, dachte der General. Eines Tages bring ich ihn um! Was dich angeht... „Cutter, wo ist dein Platz?!“ Der Teenager bewegte sich schon seit etlichen Minuten ihres Erachtens nach völlig unauffällig neben ihm her. Jetzt hob sie den Kopf und antwortete zu gleichen Teilen todernst wie unschuldig: „Der Platz eines Blue Wanderers ist hinten, aber ich bin ja ein Ghost Walker, und die gehören nach vorne!“ „Die gehören nach vorne?“ Seine Stimme war eine Mischung aus Missbilligung und Erheiterung. „Wie konnte ich das nur vergessen... Ich nehme an, du möchtest diese Position beibehalten?“ „Ja, Sir!“ Sie grinste. „Nun gut. Ich bin sehr gespannt, ob dir das im Schneesturm gelingt.“ „Schneesturm?“ Sephiroth wies in Richtung des Himmels. Noch war dessen Hauptfarbe weiß – nicht weit entfernt allerdings hatte sich ein schwarzer Fleck gebildet, der rasend schnell an Größe zunahm. Der Wind frischte merklich auf. Cutter sah zu Sephiroth hinauf. Dieser erwiderten den Blick. Und grinste. Das war also einer der berüchtigten Schneestürme der Eiszapfenregion, dachte Cutter. Der wird mir für den Rest meines Lebens in Erinnerung bleiben, keine Frage! Sie hatte Bilder gesehen und Geschichten gehört, aber niemals mit einer solchen Urgewalt gerechnet. Eisiger Wind, der einem hart ins Gesicht schlug und in den Augen brannte, Schnee, in dem man förmlich versank, dazu Abermilliarden von tanzenden Flocken, die einem jegliche Sicht nahmen und das Gefühl vermittelten, gegen eine weiße Wand zu laufen... Das Erreichen der winzigen Ortschaft, nahe des eigentlichen Missionszieles inmitten dieses Infernos aus Eiskristallen, war daher nicht zuletzt auch Cutters Verdienst, aber sie fühlte sich weder stolz noch glücklich, sondern einzig und allein bestrebt, wieder aufzutauen – allerdings ließ der Wunsch, in die hell lodernden Flammen des riesigen, vor ihr befindlichen Kamins zu kriechen, langsam nach. Zeitgleich kam das Interesse für alles außer dem wärmenden Feuer vorsichtig aus seinem Versteck und sah sich neugierig um. Die Ortschaft mochte klein sein – besaß aber einen Gasthof mit genug freien Zimmern für eine Nacht und einer reichhaltigen Speisekarte. Letzteres zu großen Erleichterung der hungrigen SOLDIER, welche die zurückliegenden Strapazen wesentlich besser vertragen hatten. Cutter warf ihnen einen verstohlenen Blick zu, seufzte leise, wünschte sich ähnliche Fähigkeiten und drehte sich, um auch ihren Rücken weiter aufzutauen. Dabei fiel ihr Blick auf eine kleine Gruppe Gäste in unmittelbarer Nähe, die zu ihr hinübersahen – mehrere Sekunden lang schweigend. Dann aber sagte einer von ihnen laut genug um sicher zu gehen, dass auch Cutter es hörte: „Tatsächlich. Ein Mädchen. Noch fast ein Kind. Wie verzweifelt muss das arme Ding gewesen sein, diesem Verein beizutreten?“ Cutter wandte sich wieder dem Feuer zu, streckte die Arme aus... Ein Kind?, dachte sie nachdenklich. Immer noch? Man scheint mir nicht anzusehen, was ich schon alles erlebt habe. Ich darf es ihnen nicht übel nehmen. Bestimmt meinen sie es nicht böse. Die lebhafte (und gut hörbare) Diskussion hinter ihr allerdings, an der sich immer mehr Gäste beteiligten, lief auf das genaue Gegenteil hinaus, und machte sehr schnell deutlich, welches Ansehen ShinRa hier genoss. `Terror-Regime´, `Ausbeutung´, und `Diktatur´ waren nur ein paar der immer wieder aufgegriffenen Bezeichnungen. Als einer der Gäste anmerkte, es sei eine Schande, dass sich ShinRa jetzt auch noch ungestraft an kleinen Mädchen vergreifen dürfte, explodierte Cutters aufgestaute Wut. „Schluss jetzt!“, fauchte sie energisch. „Ich arbeite gerne bei ShinRa! Falls Sie es noch nicht mitbekommen haben, wir sind hier, um Ihnen zu helfen! Wie wäre es mit ein bisschen mehr Freundlichkeit?! Und ganz abgesehen davon sind ja wohl die Rebellen die Bösen, und nicht wir!“ Einige der Anwesenden begannen, höchst erheitert zu lachen. Andere blickten den entrüsteten Teenager mit einer Mischung aus Mitleid und Verwirrung an. „Helfen wollt ihr uns?“, zischte schließlich irgendjemand. „Dann zieht wieder ab!“ „Sachte“, bremste ein älterer Mann. „Bring dich und deine Familie nicht in Gefahr. Mir scheint, sie erzählen den Kindern immer noch Märchen.“ Er wandte sich Cutter zu. „Da bist du bei mir an den Richtigen geraten, Kleine. Ich will dir mal die Wahrheit über ShinRa sagen!“ An seinem Tisch auf der anderen Seite des Raumes hob Sephiroth den Kopf und gab Zack lautlos den Befehl, einzugreifen. Der 1st nickte, marschierte los und tauchte nur Sekunden später wieder vor dem General auf, die wutschnaubende Cutter vor sich herschiebend. „Hast du das gehört?!“, fauchte der Teenager ohne jemanden gezielt anzusprechen. „Wir kämpfen uns stundenlang durch diesen gigantischen Schneesturm, um hier alles in Ordnung zu bringen, und dann kommt sowas?! Wenn die uns nächstes Mal rufen, bleiben wir im HQ, wo es warm ist, und trocken!“ „Vor allem“, Sephiroths Stimme klang ruhig, beinhaltete aber wohldosierte Portion Missbilligung, „habe ich gehört, wie du dich hast provozieren lassen. Ich lege keinen gesteigerten Wert auf eine Wiederholung dieses Szenarios.“ „Aber...“ Die sich langsam hebende, silberfarbene Augenbraue verwandelte Cutters geplanten Protest in ein gemurmeltes: „Ja, Sir.“, - aber sie verstand die Welt nicht mehr. Wenn Sephiroth alles gehört hatte – warum war er dann nicht auf ihrer Seite?! Und warum nahm sie hier eigentlich niemand ernst?! „Guck mal“, jubelte Zack erleichtert, „da kommt unser Essen!“ Die Bedienung, eine Frau, der man ihre Gutmütigkeit schon von weitem ansah, näherte sich dem Tisch, stellte das Essen ab und - entdeckte Cutter. „Oh! Dich habe ich ja noch gar nicht gesehen. Du bist aber niedlich! Möchtest du eine Tasse heißen Kakao?“ Hinter Cutter begannen die SOLDIER, schallend zu lachen. Selbst Zack und Sephiroth hatten Mühe, ernst zu bleiben. Vor ihnen schnappte Cutter entrüstet nach Luft. „Kakao ist doch was für kleine Kinder! Ich bin... ich bin... “, sie suchte nach einem überzeugenden Argument, „... ein brutaler und kaltherziger Killer...“ ... hinter ihr steigerte sich die Erheiterung hörbar ... „ich will trinken was... was General Crescent trinkt!“ „Du trinkst, was ich trinke?“ Es war ihm unmöglich, die Erheiterung in seiner Stimme zu verbergen. „Ja, Sir!“, lautete die entschlossene Antwort. „Wenn das so ist...“ er wandte sich der Bedienung zu, „... nehme ich eine Tasse heißen Kakao.“ „Gerne. Mit Sahne?“ „Warum nicht.“ „Kommt sofort.“ Völlig perplex beobachtete Cutter, wie die Bedienung davon eilte. Gleichzeitig erklang Sephiroths dunkle Stimme, freundlich und dennoch warnend. „Versuch nie wieder, mich herauszufordern, Cutter. Die Konsequenzen könnten weniger süß sein als diesmal.“ „Ja, Sir!“, antwortete der Teenager in einer Betonung, die größtenteils Dank über die Nachsichtigkeit des Generals, aber auch eine winzige Dosis Unmut verriet. Die Bedienung kam nur kurze Zeit später mit den bestellten Getränken zurück, wünschte einen `Guten Appetit´, lächelte die innerlich leicht bis mittelschwer ramponierte Cutter noch einmal fröhlich an und verschwand in der Küche. „Oh, nun schmoll nicht, Cuttie!“, versuchte Zack zu versöhnen. „Dein Essen wird kalt.“ „Und dein Kakao“, ergänzte Sephiroth freundlich. „Du warst völlig durchgefroren und er ist heiß, also trink ihn.“ Gnadenlos geschlagen ließ sich Cutter auf ihren Platz fallen. „Der Kakao ist übrigens wirklich sehr lecker“, grinste Zack. Er hatte sich aus Solidarität mit dem völlig überstimmten Teenager ebenfalls eine Tasse bestellt. Das Mädchen warf ihm einen finsteren Blick zu – dann allerdings begann ihr Magen auf eine Art und Weise zu knurren, die keinerlei Verzögerung der Nahrungsaufnahme mehr zuließ, und es dauerte nicht lange, ehe von ihrer Portion kein Krümel mehr übrig war. Mit der Sättigung kam die Müdigkeit. Cutter gähnte hinter vorgehaltener Hand, dann legte sie die Arme auf den Tisch, murmelte: „Ihr hattet Recht... Der Kakao war heiß. Und hat gut geschmeckt...“ ließ ihren Kopf auf die Arme sinken und schloss die Augen. Sephiroth beobachtete sie schweigend. Wenn er sich richtig erinnerte, wollten Teenager niemals vor den `Erwachsenen´ ins Bett, und es lag ihm fern, Cutter auf erdrückende Art und Weise zu bevormunden, jetzt allerdings... Für gewöhnlich hätte er den Teenager wecken lassen, aber da sich ihm heute noch keine Möglichkeit ergeben hatte, etwas `anders´ zu machen... Sephiroth überlegte einen Augenblick, dann stieß das Mädchen auf eine sehr sanfte Art und Weise mit der Schulter an und erreichte ein mattes Blinzeln. „Cutter, du bist todmüde. Geh schlafen.“ „Ja, Sir“, murmelte der Teenager, erhob sich, salutierte so respektvoll wie möglich und machte sich auf den Weg in das ihr zugeteilte Einzelzimmer. Sephiroth sah ihr nach, unauffällig – und auf exakt dieselbe Methode von Zack beobachtet. Ich habe mich nicht geirrt, dachte dieser gerade. Früher hätte er niemals freiwillig körperlichen Kontakt zu einem anderen Menschen gesucht, erst recht nicht außerhalb des Schlachtfeldes. Aber das gerade... Er verändert sich. Ganz vorsichtig, aber er tut es. Viel Glück, mein Freund. Du wirst es brauchen... Es dauerte nicht lange, ehe viele aus der ShinRa Truppe ebenfalls die ihnen zugewiesenen Schlafplätze aufsuchten, und schon bald wurde es still in der Gastwirtschaft. Sephiroth wusste nicht, ob es an der Erschöpfung, dem Nachlassen der Injektion oder dem mitgenommenen MusicPlayer lag – aber in dieser Nacht gelang es ihm zum ersten Mal seit einer Ewigkeit, wieder ein paar Stunden zu schlafen. Als er aufwachte, herrschte vor dem Fenster seines Einzelzimmers Dunkelheit jener Sorte, die es nur jenseits der großen Städte gab, wie Samt, und mit völliger Stille gesegnet. Und doch... war dort irgendetwas. Er trat ans Fenster. Der Schneesturm hatte sich gelegt und eine Landschaft hinterlassen, die wie neu erschaffen wirkte. Lediglich ein Element entzog sich diesem Anblick. Sephiroth seufzte leise, kleidete sich an, griff nach Masamune und verließ das Gasthaus. „Sich unerlaubt von der Truppe zu entfernen zieht harte Konsequenzen nach sich, Cutter!“ „Entschuldigung, Sir“, murmelte der Teenager ohne die geringste körperliche Reaktion und mit einem Blick, der in weite Ferne gerichtet war, „aber ich... Die Nacht ist so schön. Ich musste einfach raus.“ „Und genau dafür muss ich dich jetzt bestrafen!“ Seine Stimme wurde etwas weicher. „Aber zuerst findest du den kürzesten Weg zum eigentlichen Ziel dieser Mission.“ Cutter nickte, überprüfte die Lines und lieferte innerhalb weniger Sekunden die gewünschte Antwort. „Darf ich mitkommen?“, fragte sie dann leise. „Du sollst sogar mitkommen. Teil der Konsequenzen.“ Sie begannen, die Magie der Nacht zu durchqueren. Die am tiefschwarzen Himmel leuchtenden Sterne und der silberfarbene Halbmond brachten den Schnee am Boden förmlich zum Glühen. Hin und wieder begleiteten die Schatten von halb oder vollständig unter unzähligen Eiskristallen begrabenen Gegenständen die beiden Wanderer. Bis auf das leise Knirschen des Schnees unter ihren Füßen herrschte absolute Stille. Atemwolken zerfaserten langsam in der kalten Luft. Cutter war gefangen in all der melancholischen, kalten Schönheit der Landschaft – und Sephiroths Nähe. Er bewegte sich neben ihr her wie eine Metapher des Augenblicks, schweigend, aber nicht gelangweilt, wachsam, aber nicht angespannt. Die Strecke war schnell zurückgelegt, und die Beiden hielten am Rande des den Hauptgrund der Mission darstellenden Sees. ShinRa hatte in entsprechenden Regionen eine Menge dieser Wasservorräte anlegen lassen und je nach Bedarf mit entsprechender Technik versehen – dieser Teich hätte niemals zufrieren dürfen, war aber laut dessen Line erstarrt bis zum Grund. Gezielter Einsatz von Materia legte die Technik frei. Sephiroth überprüfte sie auf Fehler, aber befreit vom Eis arbeiteten die Geräte völlig normal. „Sabotage?“, fragte Cutter leise, und als der General nickte fragte sie nachdenklich: „Denkst du, die Bewohner waren es selbst?“ „Möglich. Aber unerheblich. Sie können frisches Wasser auch durch das Schmelzen des Schnees gewinnen. Was wir hier haben, ist... abgelehnter Luxus.“ Gemeinsam schmolzen sie das restliche Eis des Sees. Während Cutter mit Hilfe der Lines das Auftauen der zum Dorf führenden Wasserleitung verfolgte, hing sie ihren Gedanken nach. Das Verhalten der Bewohner ergab keinen Sinn. Und Sephiroths Reaktion... Die gezielten Provokationen von vorhin zu ignorieren, war Absicht gewesen. Aber warum hatten die Gäste überhaupt damit angefangen? Cutter sah zu ihrem Begleiter auf, und dieser erwiderte ihren Blick. In seinen makogrünen Augen schien eine Aufforderung zu sitzen. `Frag mich...´ „Weißt du“, sagte sie leise, „ich habe die Lines dieser Menschen gecheckt. Ihre Gefühle... sie waren voll von Misstrauen und Angst und Wut uns gegenüber, und ich... verstehe nicht, warum. Wir wollen ihnen doch nichts Böses!“ Und dann, in einem jähen Anflug Zweifel: „Ich hab doch Recht – oder, Sephiroth-sama?“ Cutters Gesichtsausdruck... ihr bröckelnder Glaube... und die gleichzeitige Hoffnung, sich zu irren... Sephiroths linke Hand wollte dem Teenager unwillkürlich tröstend durch die Haare streicheln, wie Zack es immer tat. Er beherrschte sich im letzten Augenblick. „Gehen wir zurück“, sagte er schließlich, und als sie die ersten Schritte hinter sich gebracht hatten, begann er zu erklären. „ShinRa hat die Gesetze dieser Welt rücksichtslos zu eigenen Gunsten verändert. Die Menschen fühlen sich machtlos und übergangen, regiert von einer überdimensionalen Macht, die sie nicht einschätzen können. Sie möchten mehr Beständigkeit. Sicherheit. Vertrauen in ihre Führung. Aber an all diesen Dingen hat ShinRa kein Interesse.“ Cutter wusste, wie entsetzlich es sich anfühlte, nicht gefragt zu werden, und nickte verstehend. Aber `Vertrauen in ihre Führung´? ShinRa kümmerte sich doch um... Nein. Sephiroth-sama kümmert sich um mich. Das... ist nicht dasselbe. „Anlagen wie diese hier“, fuhr der General fort, „verbessern den Lebensstandard, bedeuten aber vor allem Eines: Abhängigkeit. Bedenke, ein Knopfdruck reicht, um einer ganze Region angenehme Dingen wie warmes Wasser und Energie zu nehmen. Somit stellen wir für viele eine Bedrohung dar, gegen die sie sich wehren möchten. Abgesehen davon sind viele der Ansicht, unsere Reaktoren würden dem Planeten Energie absaugen, welche dieser zur Regeneration benötigt.“ Langsam begannen die harten Worte der Diskussionsteilnehmer im Gasthaus Sinn zu ergeben. Von einer solch uneinschätzbaren Macht regiert zu werden, war nicht gerade beruhigend. „Aber jeglicher Widerstand gegen ShinRa bewirkt nur erhöhtes Interesse. Jeder, der sich nicht anpasst, wird als potentieller Rebell angesehen. Genau wie diese Leute hier ab heute. Sollte sich hier ein ähnlicher Vorfall innerhalb der nächsten Zeit wieder ereignen, werden wir hart durchgreifen. Unser Präsident duldet keine vorsätzliche Beschädigung seines Eigentums.“ Cutter schwieg einen Moment lang. Dann fragte sie leise und sichtlich erschüttert: „Wir sind... also doch... die Bösen?“ Sephiroth wusste, das Verhältnis des Teenagers zu ShinRa ließ sich nicht mit dem anderer vergleichen. Viele Dinge waren dafür verantwortlich: Der Vertrag, Cutters Fähigkeiten... die Tatsache, dass ShinRa ihrem Leben eine nie zuvor gekannte Beständigkeit verlieh. All das ließ den General die einzig richtige Antwort geben. „Diese Frage kannst du dir letztendlich nur selbst beantworten.“ Nachdenkliche, minutenlange Stille kehrte nach seinen Worten ein. „Hätte ich es wissen müssen?“, fragte Cutter schließlich leise. „Wie... respektlos ShinRa mit dieser Welt umgeht? Die Lines erzählen nichts darüber. Und das mit den Reaktoren... ich dachte immer, diese Energie erneuert sich selbstständig...“ „Vergiss nicht, wie kompliziert die Wahrheit sein kann, wie gerne sie sich tarnt und versteckt. Sie bleibt selten für lange Zeit dieselbe. Denk an dich: Alle hielten dich für einen kompletten Versager. Dabei bist du etwas absolut Außergewöhnliches. Das ist eine simple Feststellung, Ghost Walker. Kein Grund zu erröten.“ „Das sagst du so einfach!“, flüsterte Cutter. Ihr Gesicht fühlte sich heiß an, und ihre Gedanken drehten sich wild um die eigene Achse. Er hat recht, es ist eine simple Feststellung, also reiß dich zusammen! Aber... es kommt von ihm... von meinem Sephiroth... Ich... Es ist schön. Und fühlt sich so warm an... Neben ihr seufzte der General: „Ich glaube, ich muss deinen Kopf etwas kühlen, bevor er explodiert.“ Die Handvoll Schnee traf den Teenager schmerzfrei – und völlig unvermittelt. Cutter erstarrte in der stärksten Verblüffung ihres bisherigen Lebens, während auf ihrem Kopf Eis zu Wasser wurde und langsam ihren Nacken herunterrann, sah zu Sephiroth hinüber. Dieser stand ebenfalls völlig bewegungslos da und... war es tatsächlich ein grinsen auf seinem Gesicht oder spielte das Mondlicht ihr einen Streich? Cutter wusste es nicht. „Was?“ Seine Stimme klang undefinierbar. „Sieh es außerdem als Konsequenz fürs unerlaubte Entfernen von der Truppe. Oder... willst du deinem kommandierenden Offizier widersprechen?“ Das diesmal gut sichtbare Grinsen auf seinem Gesicht... der zweite Schneeball in seinen Händen... „Allerdings!!“ Mit beiden Händen griff Cutter in die unbegrenzte Munition. Eine Schneeballschlacht angedroht zu bekommen (Zack), von einer zu hören oder unfreiwilliger Zuschauer zu werden... Bisher hatte er sich verständnislos abgewandt. Jetzt aber war er aktiver Teilnehmer einer solchen – zum ersten Mal in seinem bisherigen Leben. Und es machte Spaß! Sephiroth hätte mit Leichtigkeit jede Kugel in ein tödliches Geschoss verwandeln können, aber Cutter zu treffen ohne sie zu verletzen war viel interessanter. Cutter verhielt sich völlig ungezwungen. Sie wich seinen Attacken mit der für sie typischen körperlichen Beweglichkeit aus, zögerte allerdings keine Sekunde einen Angriff zu starten, wenn sich die Gelegenheit ergab, und Sephiroth musste mehr als einmal ausweichen, um nicht selbst getroffen zu werden. Letztendlich beendete er den für ihn mehr als ungewöhnlichen Zeitvertreib mit einem geschickten Manöver, das ihn hinter seinen Gegner brachte, fing ihre Hände ab und fixierte ihren Körper indem er blitzartig seine Hand auf ihren Bauch legte. Er hätte mit Widerstand gerechnet. Aber stattdessen ließ sich Cutter gegen ihn sinken. Ihr Körper war noch wärmer als sonst, und sie war ein wenig außer Atem, aber dabei völlig entspannt. Und dann... sah sie zu ihm auf mit diesem seltsam offenen Blick. Sephiroth begegnete diesem nicht zum ersten Mal. Aber jetzt war er... war irgendetwas in ihm... intensiver als jemals zuvor. Und es ließ sich immer noch nicht deuten. Ein Geheimnis so tief wie der Himmel und rein wie frisch gefallener Schnee. Oh bitte, dachte Cutter, ihr Götter Gaias... lasst die Zeit still stehen... ich flehe euch an... Der Körper hinter ihr war so groß und stark. Warm. Und Sephiroths lächeln genau dasselbe wie vor wenigen Wochen im Zelt, fast schüchtern... Ich liebe dich! Ich hab dich so wahnsinnig lieb... Es tut mir leid... so leid... Cutter wollte den Moment nicht zerbrechen. Aber ihr war klar, dass sie es tun musste. Ohne zu wissen, woher die Kraft kam, gelang es ihr, frech zu grinsen. „Gibst du auf?“ Heiteres Lachen antwortete ihr, gleichzeitig gaben sie die seltsam fremden, aber so warmen Hände wieder frei. „Habe ich eine andere Wahl? Bei einem so furchterregenden Gegner...“ Diesmal musste Cutter lachen. Gleichzeitig begann sie, die wenigen Trefferspuren abzuklopfen. „Deine körperlichen Fähigkeiten haben sich schon wieder verbessert“, bemerkte Sephiroth. „Jaa, weißt du“, begann der Teenager völlig ernsthaft, „es gibt da diesen furchtbaren General, der mich ständig von einer Mission zur nächsten jagt...“ Besagter General schnaubte amüsiert und schüttelte schmunzelnd den Kopf. „Von dem habe ich gehört. Eine gefährliche Persönlichkeit.“ „Ich mag ihn sehr.“ Gleichzeitig hätte sie sich auf die Zunge beißen können, aber glücklicherweise ging die SOLDIER Legende nicht auf die letzte Äußerung ein, sondern nahm den Rückweg wieder auf. Cutter schob sich neben ihn, und für mehrere Minuten blieb es zwischen ihnen völlig still. Sephiroth hing seinen Gedanken nach. Das zurückliegende Verhalten war... Er wusste selbst nicht, was es war. Nur, dass Cutter ihn dazu gebrach hatte. Einmal mehr nicht gezielt. Und, dass er sich mit keiner anderen Person auf dieser Welt etwas ähnliches hätte vorstellen können. Cutter schien seine Gedanken zu erraten. „Noch ein Geheimnis, das wir uns teilen“, schmunzelte sie. „Hm“, lautete die nachdenkliche, ganz und gar unmilitärische Antwort des Generals. Die Aussage des Mädchens weckte die Erinnerung an eine Situation, verbunden mit einem Verhalten, das er nicht verstand. Die dazugehörige Frage... er hatte sie nie stellen wollen. Jetzt aber... „Cutter...“ Seine Stimme klang ganz leise. „Als wir damals zusammen abgestürzt sind... Du hast den Flügel gesehen. Und keine einzige Frage gestellt. Warum?“ „Es war keines deiner Geheimnisse, das du freiwillig mit mir geteilt hast“, lautete die ruhige Antwort. „Ich... hatte kein Recht, zu fragen.“ Kein Recht, zu fragen? „Es ist ein einzelner schwarzer Flügel!“, knurrte Sephiroth gereizt. „Jeder andere...“ „Und ich“, unterbrach Cutter ruhig, „bin, wie du vorhin gesagt hast, nicht wie Andere. Aber... wenn ich eine Frage stellen dürfte...“ „Du darfst.“ Es war eine schnelle, intuitive Entscheidung. Fast reflexartig. Und Cutter nahm sie an. „Kannst du wirklich richtig fliegen?“ „Rein physikalisch ist es nicht möglich. Aber... ja. Wenn es nicht anders geht. In manchen Momenten ist der durch ihn erreichbare Schub außerordentlich hilfreich. Aber... ich setzte diesen Flügel so selten ein, wie möglich.“ „Du magst ihn nicht, oder?“ „Nein.“ Cutter schwieg einen Augenblick. „Ich habe mir immer Flügel gewünscht“, sagte sie dann leise. „Menschen sollten keine Flügel haben. Es ist ihnen vorherbestimmt, zu laufen. Abgesehen davon...“ ... jetzt klang seine Stimme fast bitter ... „Was nützen einem Flügel, wenn man doch immer wieder zum Boden zurückkehren muss?“ „Sie schaffen Distanz“, antwortete Cutter ernst. „Manchmal braucht man Entfernung, um etwas wirklich zu begreifen. Und nach der Landung kann man die gewonnenen Daten ausarbeiten und eine neue Strategie entwickeln. Ich würde versuchen, meine Flügel so einzusetzen. Wenn ich welche hätte. Aber das wird wohl ein Traum bleiben.“ Sie lächelte verlegen. „Entschuldige, ich rede zuviel. Danke schön, dass ich fragen durfte. Ich weiß, wie schwer dir das gefallen sein muss. Ich habe... auch Geheimnisse, über die ich lieber nicht sprechen möchte.“ „Zum Beispiel der Blick von vorhin?“ Cutter schluckte heftig. „Welcher Blick?“, fragte sie dann ein wenig zu schnell. „Oh, der...“ Er hat es gemerkt, er hat es gemerkt, verdammt! Und jetzt?? „Hat nichts zu sagen. Absolut nichts. Beruht auf... Ist völlig unwichtig. Wollen wir bis zum Gasthof joggen?“ Sie kam genau einen halben Meter weit, ehe Sephiroths Hand nicht hart, aber unmissverständlich nach ihrem Uniformkragen griff und so jede weitere Vorwärtsbewegung verhinderte. Cutter hielt inne, mit heftig klopfendem Herzen und rasenden Gedanken. Das... ist nicht richtig. Ich... kann das nicht einfach so sagen, ich... „Befiehlst du mir, zu antworten, Sephiroth-sama? Dann werde ich es tun, aber... Das soll keine Herausforderung sein, auch, wenn es wie eine klingt... Aber ich bin nicht sicher... nein, ich bin ganz sicher, dass du es nicht verstehen wirst... Verstehst du?“ Es klang fast verzweifelt. Und Sephiroth begriff, dass Cutter versuchte, etwas zu beschützen. Vor ihm, und vielleicht sogar vor sich selbst. Er ließ den Teenager los. „In Ordnung. Aber lass dich bitte nur in von mir lösbare Schwierigkeiten verwickeln.“ „Ich versuch´s.“ Sie erreichten das winzige Dorf, zogen vorbei an noch schlafenden, dick eingeschneiten Häusern, und betraten schließlich den Gasthof. Als sich die Tür hinter ihnen schloss, trat in einer der vermeidlich ruhenden Behausungen die nette Bedienung aus dem Gasthaus vom Fenster zurück und griff zum Telefon. Die nach Midgar übermittelten Informationen waren knapp – aber von äußerster Wichtigkeit. So ist das also, dachte Tyrer. Sephiroth... `Liberation´ ist noch nicht am Ende! Du und ShinRa werdet das bald spüren! Wir werden euch für alles büßen lassen! Er wandte den Kopf als leises Klirren aus dem Nebenzimmer erklang. Speziell für eure Vergehen Rail gegenüber. Diesmal wird euer Blut die Erde tränken! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)