FFVII: Blue Wanderer - In the lines von Ich_eben ================================================================================ Kapitel 21: Stand der Dinge --------------------------- In einer Nacht, die sich vielleicht nur durch die ruhelos in ihr treibenden Gedanken von Tausend ähnlichen Nächten vorher und Tausenden noch kommenden unterschied, sickerte das Licht einer schmalen Mondsichel lautlos auf die Erde unter sich hinab; fast vorsichtig, als fürchte es, all die Träumer zu wecken. Midgar schlief. Wer jetzt noch wach war, folgte entweder dringenden menschlichen Bedürfnissen – oder aber arbeitete. General Sephiroth Crescent hätte seine aktuelle Tätigkeit allerdings eher als `Meditation´ beschrieben. Unsterbliches Mondlicht glänzte auf der Klinge des legendären Katanas, während dieses durch die Luft glitt, geführt von zwei Händen, die genau wussten, was sie taten. Langsame, geschmeidige Bewegungen, absolviert in absoluter Lautlosigkeit und oft von anderen kopierter, aber nie auch nur im Ansatz erreichter Perfektion. Für gewöhnlich trainierte Sephiroth unter höchsten Schwierigkeitsbedingungen in einem der Simulatorräume, diesmal jedoch befand er sich in seinem privaten Übungsraum, hatte auf eine künstliche Erhellung verzichtet und war mit seiner Waffe und den Komponenten der Nacht allein. Er beendete mit einer letzten, fließenden Bewegung die Grundtechniken und ging zu den von allen Gegnern gefürchteten und ständig verbesserten Eigenkreationen über, führte sie erst langsam aus, als habe er einen Schüler, und dann mit der gewohnten Schnelligkeit, der das Auge kaum zu folgen vermochte, hielt nach jeder Lektion einige Sekunden in der Endstellung inne, und nahm dann mit der Geschmeidigkeit von fließendem Wasser eine neue Position ein. Er war diese lange, furchtbare Klinge. Das Geräusch, wenn sie durch die Luft glitt. Die Kälte, die Schärfe, unnahbar und erhaben, die Stärke, welche sich jeder Herausforderung stellte. Geist, Körper und Waffe bildeten die perfekte Einheit, immer wieder und wieder, ohne Pause oder sichtliche Anzeichen von Erschöpfung. Kein anderes Todesurteil auf Gaia verfügte über ähnliche Grausamkeit, Anmut – und Schönheit. Irgendwann hielt Sephiroth inne, nickte zufrieden, trank ein paar Schlucke aus der bereitgestellten Wasserflasche und ließ sich schließlich in einer entspannten, sitzenden Position auf dem Boden nieder und platzierte Masamune neben sich. Die nach einem solch intensiven Training empfundene Ruhe war etwas Besonderes, und so schloss er für einen Moment die Augen, um sie zu genießen. In letzter Zeit hatten ihm die Umstände kaum Zeit für sein Training gelassen, (selbst jetzt wäre er von anderen lieber hinter seinem Schreibtisch gesehen worden), aber es gab zweifelsfrei Dinge, die nur für eine begrenzte Dauer aufgeschoben werden konnten. Um alles andere würde er sich später kümmern. Missionsaufstellungen, den neusten Aktivitäten der sich `Liberation´ nennenden Rebellenorganisation in Midgar, den üblichen Papierkram – und ein Standardschreiben an die Angehörigen eines gefallenen `Blue Wanderers.´ `Blue Wanderer´, oder auch `Projekt B 14 / BW´ war der Name jener Einheit, deren Mitglieder in der Lage waren, die `Lines´ zu sehen, bunte, vom Planeten zu jedem Gegenstand gebildete Energielinien. Die Art des Planeten, die Dinge auf seiner Oberfläche wahrzunehmen. Ein `Blue Wanderer´ war nicht nur in der Lage, diese `Lines´ zu sehen, sondern auch, ihnen jede nur gewünschte Eigenschaft über das zugehörige Objekt zu entnehmen. Dabei spielte die Farbe einer jeden `Line´ bei der Zuordnung eine wichtige Rolle. So stellten sich beispielsweise Wasseransammlungen in `Lines´ dar, deren Farbe je nach Flüssigkeitsmenge in den unterschiedlichsten Blautönen variierte. Und jetzt, dachte Sephiroth, sind es `nur noch´ 13 Blue Wanderer. Den aktuell in Ausbildung befindlichen Jahrgang nicht mit eingerechnet. Die Anzahl spielt im Grunde keine Rolle, solange für Nachschub gesorgt ist. Obwohl... (sein kaum wahrnehmbares Schmunzeln verlor sich in der Dunkelheit) ... ich kann es nicht leugnen: Es gibt eine Ausnahme. Eine Ausnahme zu sein beschwor eine Vielzahl von Nebenwirkungen herauf. Nicht jedem gelang es, erfolgreich damit umzugehen. Tzimmek Cutter aber schlug sich mit bemerkenswerter Tapferkeit. Und sie hütete eines der vielleicht größten Geheimnisse des Planeten: Als einziger in ShinRa Diensten stehender Blue Wanderer war es ihr möglich, die `2nd Lines´ zu betreten – eine Ebene, die offiziell nicht existierte und daher in keinem Lehrbuch dieser Welt vorkam, in der aber jeder Mensch durch eine farblich einzigartige `Line´ dargestellt wurde. Bewacht wurde diese Welt durch eine tiefschwarze `Line´, welche scheinbar nach eigenem Belieben auftauchte und keinem Objekt zugeordnet war, sondern eine Grenze von enormer Tücke darstellte: Überschritt man sie ohne einen Anker, den `mentalen Fokus´, die wichtigste Sache im individuellen Universum eines Blue Wanderers, raubte einem der Vorstoß den Verstand – dauerhaft. Auf höchst abenteuerlichem Wege war Sephiroth zu Cutters `mentalen Fokus´ geworden. Und auch, wenn den General dieser Status nicht im Geringsten beeinflusste, für Cutter bedeutete es den sicheren Hin- und Rückweg in die `2nd Lines´. Aber trotz Instinkt und Talent in der Praxis war es dem Teenager nicht gelungen, die alles entscheidende theoretische Prüfung am Ende der Ausbildung erfolgreich zu absolvieren. Erst Sephiroths Eingreifen hatte das Blatt wieder gewendet. Er war das Risiko einer Niederlage eingegangen und dem Präsidenten der Electric Power Company, Rufus Shinra persönlich, Cutters Fall geschildert. Das Ergebnis war ein Arbeitsvertrag gewesen – wenn auch mit gewaltigen Einschneidungen, zu denen unter anderem ein niedriges Gehalt, keine Kündigungsfristen und kein Urlaub oder freie Tage zählten. Sephiroth hatte in einem Gespräch mit Cutter klar gestellt, dass es sich hierbei um einen reinen Ausbeutervertrag handelte, und der letztendlichen Unterschrift des Mädchens war der harte, vorangegangene Kampf mit sich selbst anzusehen – aber die Unterzeichnung existierte. Und das machte den Teenager zu einem winzigen Teil im gigantischen ShinRa Universum. Seit der Unterzeichnung des Vertrages waren nun etliche Wochen vergangen. Cutter kämpfte mit der erwarteten Entschlossenheit eines Menschen, der ausnahmslos alles zu verlieren hatte und dies um jeden Preis verhindern wollte. Die von anderen verfassten Missionsreporte vermittelten folgenden Eindruck: `Innerhalb der Lines ein kleines Genie! Außerhalb ein Schussel, auf das man immer ein Auge haben muss.´ Sephiroth hatte genug mit Cutter erlebt um zu wissen, dass sie sich nicht immer durch eigene Schuld in Gefahr brachte. Manchmal schien es, als ändere sich die Situation ganz bewusst, um ein entsprechendes Ereignis hervorzurufen, und die Unterschiede waren nicht selten so minimal, dass sie kaum auffielen. Davon völlig unabhängig suchte der Teenager stets unverzüglich nach einem Ausweg – bislang erfolgreich. Aber ewig würde es nicht gut gehen. Es lag Sephiroth fern, dem Mädchen zu schaden, momentan allerdings musste selbst er sich an die strengen Vorgaben des Vertrages halten. Die dicht aufeinander folgenden Missionen und kostbaren Pausen des Teenagers selbst zu verwalten schien ein Vorteil zu sein – entpuppte sich jedoch bei näherer Betrachtung lediglich als Verzögerung des Unvermeidbaren: Irgendwann würde die Erschöpfung ihren Tribut fordern. Alles in allem war es kein Zustand, den der General länger als nötig hinzunehmen plante! Die aktuelle Situation... stand den eigentlichen Fähigkeiten des Teenagers im Weg! Und ich, dachte Sephiroth, werde es beenden, sobald ich die Gelegenheit herbeiführen kann oder sie sich bietet! Sofern Cutter diese `Gelegenheit´ überlebte. Denn egal, was die Zukunft für sie bereithielt, es würde während einer Mission stattfinden, und was dann geschah hing von allen zu diesem Zeitpunkt relevanten Details ab. Allein das war Grund genug, den Teenager im Auge zu behalten. Von General Sephiroth Crescent beobachtet zu werden... alle anderen hätte das in ein Stadium höchster Nervosität versetzt. Cutter hingegen... verhielt sich völlig normal, ohne dabei respektlos zu wirken. Nicht einmal die Genehmigung, mich bei Vornamen zu nennen, hat daran etwas geändert. Ich bezweifle allerdings stark, dass ihr bewusst ist, dies als Ausgleich für alles verlorene bekommen zu haben... Er seufzte leise und hob den Kopf. Mondlicht sickerte durch die Fenster in den Trainingsraum, und Sephiroth wusste, dasselbe Licht glänzte auch auf den Dächern des scheinbar friedlich schlafenden Midgars. Aber er wusste es besser. Diese Stadt... schlief niemals wirklich. Er lag richtig. Gerade noch weit genug entfernt, um unverdächtig zu wirken, verbrachte jemand die Zeit mit aufmerksamen Beobachtungen aus dem tiefen Schatten heraus, eine Observation, die einem bestimmten Teil des ShinRa HQ galt. Unbemerkt von allen Betroffenen innerhalb des Gebäudes nahm außerhalb ein Schlachtplan immer weiter Gestalt an, und die Gedanken im Kopf der organisierenden Person glichen Messern von beeindruckender Schärfe und Treffsicherheit. Es... würde stattfinden. Bald! Ein die Dunkelheit widerspiegelndes Lächeln huschte über das Gesicht des wartenden Beobachters, ehe sich dieser zum gehen wandte und unauffällig in einer Seitenstraße verschwand. Kaffee... Brauche Kaffee... Kann nicht mehr denken ohne Kaffee... Cutter unterdrückte mit großer Mühe ein Gähnen. Zwei Stunden Schlaf waren nicht gerade viel, aber immer noch besser als eine Stunde oder keiner. Dennoch... mittlerweile fiel es ihr deutlich schwerer, positiv zu denken. Lange halte ich das nicht mehr durch... Sogar diese Kaffeesorte wirkt kaum noch, und stärkere Getränke gibt es einfach nicht. Der nächste Schritt wären illegale Aufputschmittel gewesen. Cutter wusste, dass sich unter den Mitarbeitern auch Dealer befanden, aber ihr fehlten sowohl die Namen, als auch das entsprechende Geld. Und so ruhten all ihre Hoffnungen einmal mehr auf Sephiroth. Sie wusste... hoffte, dass – gäbe es eine Möglichkeit, die Situation zu entspannen – er sie finden würde. Bis dahin muss ich durchhalten, egal wie! Ich bin... so müde... Sie wollte eben den entsprechenden Knopf am Kaffeeautomaten drücken, als sich unvermittelt zwei Arme um ihren Körper schlossen. „Hab dich!“, jubelte jemand in ihr Ohr. Cutters Müdigkeit schrumpfte für einen Augenblick in sich zusammen. Das Mädchen lachte vergnügt und legte den Kopf in den Nacken, um Blickkontakt zu der einzigen Person aufzunehmen, deren `Überraschungsbegrüßungsangriffe´ im ganzen ShinRa Universum ebenso bekannt, wie auch beliebt und gefürchtet waren. „Hi Zack.” Der SOLDIER erwiderte ihr Grinsen mit der für ihn typischen Fröhlichkeit. Jemanden wie Zack(ary) Fair in einem so erbarmungslosen Unternehmen wie ShinRa zu treffen, wirkte völlig verkehrt, und es war schon mehr als eine Person nach einem ersten Treffen mit ihm in einen Zustand sprachloser Verblüffung katapultiert worden, aus dem eine Befreiung nur mit großer Kraftanstrengung gelungen war. Zacks offene, ehrliche Art, sein Lachen, seine scheinbar ewig gute Laune, die Fähigkeit mit einem einzigen Blick Freunde zu gewinnen und selbst ein ganz besonderer Freund zu sein... all das ließ ihn absolut Einzigartig werden. Auf dem Schlachtfeld jedoch wurde er zu einem von ShinRa´s gefürchtetsten Gegnern, ein 1st Class SOLDIER, der sein respekteinflößendes Busterschwert führte wie kein Zweiter. Momentan allerdings war er nur jemand, der einen sehr liebgewonnenen Teenager begrüßte. „Morgen, Cuttie-cut! Ich will Seph ärge... äh, besuchen. Kommst du mit?“ „Geht leider nicht. Nächster Einsatz in 10 Minuten und 36 Sekunden.“ „Verstehe. Cuttie“, in seine Stimme stahl sich ein Anflug von Sorge, „du siehst müde aus.“ Aber das Mädchen schüttelte den Kopf. „Mein Kaffeespiegel ist gesunken, das ist alles. Wenn ich das hier getrunken habe...“, sie schwenkte grinsend die eben gezogenen Pappbecher, deren Inhalt laut Aufdruck so stark war, dass er bei ShinRa Mitarbeitern den Spitznamen `Herztod 2000´ erhalten hatte, „...bin ich wieder fit!“ So witzig der Name war – Zack wusste, dass der Kaffee hauptsächlich aus Koffein bestand. Nur extrem müde Menschen griffen auf diese Variante zurück. Und Cutter hatte sogar zwei Becher gezogen. Zack kannte den Arbeitsvertrag. Er hatte ihn gelesen, mehrfach, und seine Wut war ins Unermessliche gestiegen, ebenso wie seine Sorge um Cutter, die er seitdem, wann immer sich die Gelegenheit dazu ergab, einen Augenblick lang genau beobachtete, um ihre noch vorhandenen Kräfte einschätzen zu können. Viel, dessen war er sich jetzt sicher, war nicht mehr übrig. Aber er wusste, dass aufgeben für den Teenager nicht in Frage kam und sie bis zum Letzten kämpfen würde. „Sei vorsichtig, hörst du?“ Er klang immer noch besorgt. „Und viel Glück.“ „Versprochen, danke schön.“ Zack sah ihr nach und schüttelte äußerst nachdenklich den Kopf. Es war an der Zeit, mit der einzigen Person, die an diesem Zustand etwas ändern konnte, zu sprechen. Sephiroth hatte seine Kaffeetasse glücklicherweise gerade abgestellt, als die Tür sich schwungvoll öffnete und ein extrem gut gelaunter Zack hereinmarschiert kam. „Yo, Boss. Hier ist der heutige Missionsbericht, quasi druckfrisch und fast ganz ohne Rechtschreibfehler, in nahezu zusammenhängenden, fast sinnvollen Sätzen, im Eiltempo überbracht von deinem Lieblings 1st Class SOLDIER Zack Fair. Bitte kein Applaus, das macht mich immer so verlegen.“ Mit einer nahezu perfekten Verbeugung überreichte er strahlend das Dokument. „Ich hab mir richtig Mühe gegeben.“ „Mit anderen Worten: Du hast mehr als deine üblichen 5 Zeilen verfasst?“ Er warf einen Blick auf den Bericht. „6 Zeilen. Beeindruckend.“ „Alles, damit mein General stolz auf mich sein kann.“ Sephiroth ließ sich dazu herab, den... `Bericht´ ... zu überfliegen. Seine eigenen Reporte beinhalteten alle nur erdenklichen Details und waren, inklusive Zeichensetzung und Rechtschreibung, perfekt. Die ihm hier präsentierte Dokumentationen hingegen... „Ich werde das so nicht akzeptieren, Zackary!“ „Dachte ich mir schon. Daher hab ich gleich hinterher einen neuen geschrieben.“ Verschmitzt grinsend legte er eine von der Zeilenanzahl wesentlich ernst zu nehmendere Version auf den Tisch und wartete gespannt auf eine Reaktion... die allerdings ausblieb. „Nun lächel doch wenigstens einmal“, versuchte Zack zu animieren. „Nur kurz!“ „Dazu sehe ich keinen Grund“, lautete die kühle Antwort. Ihm wäre eher danach gewesen, die Einsatzpläne des 1st´s ein wenig zu straffen, denn ganz offensichtlich hatte dieser immer noch viel zuviel Zeit für Unsinn. Aber vor ihm stand Zackary Fair. Mehr gab es dazu nicht zu sagen. „Siehst du“, erklärte dieser gerade im Brustton der Überzeugung, „und deshalb haben die Leute Angst vor dir!“ „Nur die Schwachen.“ Zack stöhnte laut auf und rollte mit den Augen. Als gäbe es in General Sephiroth Crescents Gegenwart starke Menschen... Während der General den Bericht durchging, ließ sich der 1st in einem der vor dem Schreibtisch befindlichen Sessel nieder. „Seph, unserer Cuttie...“ „Es ist nicht unsere Cutter.“ „... geht’s nicht gut. Sie...“ „Danke. Erlaubnis zum wegtreten erteilt.“ „... braucht dringend Unterstützung in nicht flüssiger Form.“ Über den Ausdruck in den Augen des Generals legte sich eine weitere Eisschicht. „Ich sagte `wegtreten´, Zackary!“ „Wirklich?“ Gesichtsausdruck und Betonung waren die Unschuld selbst. „Muss ich glatt überhört haben. Vielleicht solltest du mich auf die Krankenstation schicken.“ „Sehr gerne! Welche Verletzungen soll ich dir bevorzugt hinzufügen?“ „Kommt drauf an, in welcher Abteilung die neuen Schwestern arbeiten...“ „Verlass mein Büro, Zackary, jetzt!“ Der 1st verschwand, und wie sein Grinsen mehr als deutlich sagte, ohne das geringste schlechte Gewissen. Sephiroth zu ärgern, war gefährlich, aber sonst gab es niemanden, der es wagte, ihn daran zu erinnern, dass die Welt aus mehr bestand als Schlachtfeldern und Papierkram. Zum Beispiel anderen Menschen. Die ihn brauchten und ihm vertrauten. Wie Cutter. Er wird dich nicht im Stich lassen, Cuttie, dachte Zack. Du wirst sehen. Als sich die Tür hinter dem 1st schloss, hielt Sephiroth einen Augenblick lang inne. Er wusste, dass Cutter dringend Hilfe brauchte und arbeitete bereits an einer Lösung. Durch die scharf gezogenen (und für andere ein unüberwindbares Hindernis darstellenden) Grenzen fühlte er sich mehr herausgefordert als eingeschränkt. Regeln, Verbote, Verträge... konnte man sie nicht brechen, musste man sie geschickt umgehen. Viel Zeit blieb jedoch nicht mehr. Cutters Kräfte würden irgendwann versiegen. Und der menschliche Körper hatte die unangenehme Eigenart, eine gewisse Resistenz gegen ihm regelmäßig zugeführte Stoffe zu entwickeln. Unglücklicherweise galt auch für Kaffee, egal, wie stark er sein mochte. Vielleicht lag es letztendlich nur an der Gewissheit, dass alles außer ShinRa noch härter war, aber Cutter hielt weiterhin durch, schlief, wann immer sich die Gelegenheit dazu ergab, und kämpfte sich unter Einsatz aller ihr noch zur Verfügung stehenden Kraftreserven vorwärts. Aber eines Tages, gerade als die von Sephiroth angeführte Mission ins HQ zurückkehrte während eine andere, der Cutter als Blue Wanderer zugeteilt war, selbiges verließ, genügte ihm ein Blick um zu erkennen, dass der Teenager am absoluten Ende aller Kräfte war. Kurzerhand übernahm der General die Mission selbst. Cutter war so entkräftet, dass sie den Wechsel nur am äußersten Rande ihrer Wahrnehmung bemerkte – ebenso wie die Tatsache völlig ignoriert zu werden. Als die kleine Truppe in einen Hinterhalt geriet, ging der Teenager zwar automatisch in Deckung, aber ihr Versteck war nicht gut durchdacht, und das Unvermeidbare geschah. Es dauerte nur eine Sekunde. Aber der Schmerz war zu intensiv, zu schwer, um ihn ignorieren zu können – und es war definitiv nicht sein eigener. Sephiroth sorgte mit einem letzten Schlag für den endgültigen Sieg SOLDIERs, dann ließ er den Blick prüfend über das Schlachtfeld gleiten. Die Situation war vollständig unter Kontrolle, und seine Männer unverletzt - nur von Cutter fehlte jede Spur. Sephiroth hatte immer ein wachsames Auge auf unerfahrenen Teilnehmern, um im Ernstfall schnell handeln zu können, und so wusste er genau, wo das Mädchen in Deckung gegangen war. Nur Sekunden später befand er sich neben dem zusammengesunkenen Körper, untersuchte mit geübten Handgriffen die Verletzung. Es war ein glatter Schulterdurchschuss, schmerzhaft, aber da kein Fremdkörper zurückgeblieben war, vollständig mit Materia heilbar. Sephiroth tat genau das. Es dauerte nur Sekunden, ehe der Teenager wieder zu sich kam, und die erste bewusste Empfindung war die einer sich an ihre Lippen drückenden Flasche. Cutter schluckte blind vertrauend und spürte nur Sekunden später, wie sich die Wirkung der Potion in ihrem Körper entfaltete und unter anderem die Kraft verlieh, zu blinzeln. Als erstes sah sie Sephiroth. Er saß in der Hocke vor ihr und beobachtete all ihre Reaktionen aufmerksam und abwartend. Cutter erinnerte sich an die Kugel und den rasenden Schmerz, aber die von dem Elitekämpfer ausgehende Ruhe machte deutlich, dass die Situation entschärft war. Weil er dafür gesorgt hatte. Grenzenlose Dankbarkeit durchflutete Cutter. Und als habe Sephiroth das genau gespürt... „Fall mir nicht um den Ha...“ Pure Selbstbeherrschung verhinderte eine reflexartige Befreiung. „Lass los!“ Cutter wich, erschrocken über sich selbst, zurück, flüsterte „Entschuldigung, Sir“, und versuchte den wie mit vergifteten Pfeilen gespickten Blick, der einwandfrei die Botschaft `Mach das nicht noch einmal!´ beinhaltete, irgendwie zu parieren, gab mit einem Nicken zu verstehen, dass sie ganz genau begriffen hatte und kam wieder auf die Beine. Noch während sie Sephiroth zurück zum Rest der Truppe folgte, begannen in ihrem Körper Potion und Müdigkeit einen erbarmungslosen Kampf um die Vorherrschaft und bewirkten im Kopf des Mädchens eine äußerst hartnäckige Benommenheit, die einfach nicht verschwinden wollte. Ungeachtet dessen wurde die Mission erfolgreich beendet, und bei Einbruch der Nacht erreichte die kleine Truppe das ShinRa HQ, wo Sephiroth den Teenager unverzüglich auf die Krankenstation brachte. „Du hast doch Materia eingesetzt“, murmelte Cutter verwirrt während sie einen Augenblick an der Anmeldung warteten, „warum...“ „Vorschrift“, lautete die sachliche Antwort. „Des weiteren stehst du ab jetzt hier 24 Stunden unter Beobachtung.“ Er sah sie nicht einmal an. Als wenig später einer der Ärzte erschien, folgte sie diesem sichtlich niedergeschlagen. Sephiroth wandte sich an eine der Schwestern und gab Anweisung, den Teenagers in jedem Fall ausschlafen zu lassen. Dann kehrte er in sein Büro zurück. Fürs erste war Cutter mit der Möglichkeit, den verlorenen Schlaf aufzuholen, geholfen, aber zufrieden konnte der General damit nicht sein. Die Zukunft verlangte eine dauerhafte, nachvollziehbare Lösung, die sich in regelmäßigen Abständen wiederholen ließ, ohne unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen oder uneffektiv zu wirken. Eine Art... Nebenstraße parallel der Hauptstraße verlaufend. Cutter Tzimmek, dachte Sephiroth, du stellst mich immer wieder vor neue Herausforderungen. Abenteuer, in der Tat. Er gestattete sich ein Lächeln. Gefällt mir. Aber die Nebenstraße, auf die ich dich diesmal schicken werde, ist höchst anspruchsvoll und wird dein ganzes Können als Blue Wanderer erfordern. Ich bin gespannt, ob du ihr gewachsen bist. Besagte Nebenstraße hatte sogar einen offiziellen Namen. `M.I.A. – Missing In Action – Vermisst´, und sie bestand aus Akten der SOLDIER, die aus ungeklärten Gründen von Einsätzen nicht zurückgekommen waren. Sephiroth hoffte, die Anzahl der Akten mit Hilfe der 2nd Lines und Cutter schneller verringern zu können als es die momentan noch damit beauftragte Abteilung tat. Leicht, das wusste er, würde es nicht werden. Aber war es das bezüglich Cutter jemals gewesen? Er dachte an die zurückliegenden Abenteuer und schüttelte kaum merklich den Kopf. Es waren... außergewöhnliche Situationen gewesen, die außergewöhnliche Reaktionen erfordert hatten. Warum hätte die Zukunft anders aussehen sollen? Drei Tage später (denn so lange dauerte es, bis sich der Teenager restlos ausgeschlafen wieder bei ihm meldete) präsentierte er ihr die Nebenstraße, und wartete gelassen auf die Reaktion. Niemals zuvor hatte sich Cutter so sehr einen zweiten, wesentlich erfahreneren 2nd Lines Blue Wanderer gewünscht. Aber es gab keinen. Sie war gezwungen, ihre Fähigkeiten alleine zu beurteilen. Sephiroth beobachtete den sich auf ihrem Gesicht überdeutlich abzeichnenden Kampf aufmerksam, und als sie aufsah, versicherte er ihr durch seinen Blick (abwartend, aber nicht drängend), sich im Zentrum seiner Aufmerksamkeit zu befinden, er sie jedoch auf keine Art und Weise beeinflussen würde – es sei denn, sie wünschte es. Wenn ich mich überschätze, dachte Cutter während sie den unergründlichen Blick erwiderte, ist alles aus. Und wenn ich mich unterschätze, sowieso. Warum bin ich immer so kurz davor, alles zu verlieren? Es war ihr nicht bewusst, aber die Frage stand überdeutlich in ihren Augen geschrieben. Sie erflehte förmlich eine Antwort. „Cutter...“, begann Sephiroth, „manchen fällt alles in den Schoß, ohne dass sie sich auch nur im Geringsten dafür anstrengen müssten. Andere hingegen verbringen ihr ganzes Leben im Kampf. Das jedoch muss kein Nachteil sein. Ständig am Rande des Abgrunds zu kämpfen heißt, ihn und die eigenen Fähigkeiten besser kennen und einschätzen zu lernen. Wenn du überlebst, wirst du vielleicht eines Tages feststellen, dass er dich nicht mehr erschreckt. Und du wirst frei sein.“ Frei sein... „Es sind“, fuhr Sephiroth ruhig fort, „immer die nie geführten Schlachten, die einen Krieger ewig beschäftigen. Alle anderen lässt er irgendwann hinter sich. Du... bist so ein Krieger. Und noch lange nicht am Ende deiner Fähigkeiten.“ Cutter schwieg einen Augenblick, ließ das Gehörte einsinken. Lauschte auf ihr Gefühl. Und dann... „Zwei Erfolge sind zuviel um von Zufall zu sprechen, oder, Sir?“ „In der Tat.“ Er schwieg einen Augenblick. „Zwei bis dreimal pro Woche. Hier, denn diese Akten sind streng vertraulich, außerdem wirst du Fragen haben. Die restliche Zeit dieser Tage steht dir zur beliebigen Verfügung frei. Deine Missionen werden von mir entsprechend umgestaltet. Bist du einverstanden?“ Cutter, tief bewegt, konnte nicht sofort antworten. Zu intensiv verblasste das Gefühl, dies alles nur zu träumen. „Ja, Sir!“ Und dann, flüsternd und mit Tränen der Erleichterung in den Augen: „Ich habe so gehofft, dass du eine Möglichkeit findest, diesen Vertrag auszutricksen. Danke...“ Verträge hin oder her, dachte der General während sich Cutter energisch über die Augen fuhr, aber ich werde keines der mir unterstellten Leben kampflos aufgeben. Auch deines nicht. „Dann sind wir uns also einig“, fasste er zusammen. „Vermutlich möchtest du vorher gerne noch an ein paar Missionen teilnehmen, um dir zu beweisen, dass du wieder fit bist, korrekt?“ Cutter nickte und grinste vergnügt. Die Erleichterung war ihr deutlich anzusehen, und das Funkeln ihrer Augen... erhellte den Raum. Was denke ich hier für einen Blödsinn, schimpfte sich der General lautlos und wies sie darauf hin, wo und dass ihr nächster Einsatz in weniger als 5 Minuten beginnen würde. Cutter verabschiedete sich militärisch korrekt – dann raste sie aus dem Zimmer. Sephiroth schüttelte missbilligend den Kopf. Dieses Mädchen hatte noch einiges zu lernen! Dann aber huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Cutters typische, begeisterte Energie... Ob sie dem Teenager auch helfen würde, mit den M.I.A. Akten zurechtzukommen? „Wir werden sehen“, murmelte der General und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Es wurde schwieriger, als beide angenommen hatten. Jede Möglichkeit, in den 2nd Lines gezielt nach einem bestimmten, aber fremden Menschen zu suchen, eröffnete mindestens ein Dutzend weitere, und manchmal musste jede einzeln überprüft werden, nur um sich letztendlich in der bitteren Erkenntnis wiederzufinden, dass keine der Möglichkeiten richtig gewesen war und die Suche mit einer neuen Strategie von vorne begonnen werden musste. Am frustrierendsten für Cutter war, zu erkennen, wie viel Glück sie mit ihren beiden bisherigen Treffern wirklich gehabt hatte. Andererseits nahm sie diese Erfolge als Ansporn. Aber letztendlich endeten sie und Sephiroth gemeinsam über den Aufzeichnungen und entwickelten zusammen eine Strategie von komplizierter Einfachheit. Jede einzelne der 2nd Lines beinhaltete unter der farblich einmaligen Hülle den menschlichen Körper betreffende, äußerst anpassungsfähige Lines, und jeder Körper wies Einzigartigkeiten auf, die sich mit Hilfe der detailliert geführten Akten (ShinRa schien ausnahmslos alles über seine Mitarbeiter zu wissen) und der Lines nachvollziehen ließen. Die Strategie sah vor, gezielt nach diesen Details zu suchen und die betreffende Person so ausfindig zu machen. Tage, angefüllt mit für Cutter äußerst zeitintensiver und mühsamer Recherche vergingen. Aber eines Tages (Sephiroth bearbeitete gerade seine Mails und fragte sich entsetzt, wie es möglich war, so viele Fehler in so wenig Wörtern unterzubringen), vernahm er ein kaum wahrnehmbares flüstern aus der Richtung ihm gegenüber. „Ich hab ihn!“ Und dann... Der General hatte im Laufe seiner Karriere schon viel gesehen – aber noch niemals eine solche Freude in seiner Gegenwart. Es brachte ihn derartig aus dem Konzept, dass es ihm erst nach etlichen Sekunden gelang, sich halblaut zu räuspern um an seine Gegenwart zu erinnern. Cutter hielt inne, war aber viel zu begeistert, um Verlegenheit zu empfinden. Sephiroth sagte kein Wort – er hob lediglich langsam eine silberfarbene Augenbraue, warnend, verriet aber nicht einen Funken der empfundenen Irritation hinsichtlich des so unmilitärischen Verhaltens. Cutter grinste verlegen. „Verzeihung, das war wohl ein wenig überschwänglich.“ Etwas repräsentativer fuhr sie fort: „Sir, ich kann einen ersten Erfolg bezüglich der mir anvertrauten M.I.A. Akten melden. Wie lautet die weitere Vorgehensweise?“ Sephiroth gestattete sich ein auf rein mentaler Ebene existierendes Seufzen, ehe er die mehr als angebrachte Rüge nicht aussprach und Cutter stattdessen anwies, den aktuellen Aufenthaltsort sowie körperlichen Zustand der Person schriftlich zu vermerken, der Akte beizufügen und das Dokument an ihn auszuhändigen. Der Teenager begann begeistert zu schreiben. „Cutter“, ließ sich der General irgendwann vernehmen, „fügst du diesen eine streng geheime Militärakte betreffenden Angaben gerade Herzchen hinzu?“ „Ja, Sir!“ Es klang sehr glücklich. „Lass das.“ Wenig später wechselte die mit herzchenfreien Beschreibungen versehene Akte den Besitzer. Cutter ließ sich zurücksinken und begann abermals verschmitzt zu grinsen. Zu Beginn ihrer ernsthaften Arbeit mit den 2nd Lines hatte sie sich das Versprechen gegeben, bei Erfolg einen ganz bestimmten Schritt zu unternehmen... „Sephiroth-sama? Ich beantrage eine Namensänderung.“ Der Blick des Generals wanderte langsam vom Computermonitor zu dem immer noch vergnügt grinsenden Teenager. Bei Zack war Heiterkeit dieser Form grundsätzlich gleichzusetzen mit irgendwelchen Absurditäten. Was Cutter anging... Im Grunde besaß Sephiroth noch Hoffnung. „Nämlich“, fuhr das Mädchen fort, „von `Blue Wanderer´ in `Ghost Walker´. Ich hab mir überlegt, wenn ich mich schon selbst nicht `Blue Wanderer´ nennen darf... Der Begriff wird sowieso immer abgekürzt, `G´ und `B´ klingen fast gleich, das `W´ bleibt sowieso dasselbe, und weil ich doch eigentlich gar nicht hier sein dürfte, und wegen der 2nd Lines, und...“ Sie verstummte. Auch Sephiroth schwieg einen Moment, versuchte zu definieren, ob er nun erheitert war, verärgert oder doch etwas völlig anderes. Im tiefsten Grunde seines Herzens hatte er schon mit einer ähnlichen Aktion Cutters gerechnet. Es wäre völlig untypisch für sie gewesen, keinen Versuch zu starten, eine gewisse Sympathie für die Situation zu entwickeln. Schließlich jedoch teilte er mit: „Abgelehnt. Gerade du solltest darauf achten, so wenig Aufmerksamkeit wie möglich auf dich zu ziehen. Abgesehen davon... Wenn die Namensänderungen um sich greifen, haben wir hier bald keine SOLDIER und Blue Wanderer mehr sondern...“ ... denk wie Zack... „`Chaoskrieger´ und `Apokalyptiker´. Das werde ich zu verhindern wissen.“ „Schade“, seufzte der Teenager enttäuscht – griff aber nur Sekunden später höchst motiviert zur nächsten M.I.A. Akte und war schon bald wieder in den 2nd Lines unterwegs. Sephiroth sah zu ihr hinüber. Ghost Walker! Ghost Walker Cutter Tzimmek! Er schüttelte den Kopf. Es war nicht so, als hätte sie keine eigene Bezeichnung verdient. Aber unter den gegebenen Umständen würde sie sich mit seinem endgültigen Urteil abfinden müssen. Was die 2nd Lines anging... Äußerlich blieb der General völlig unbeeindruckt - aber in seinen Augen, tief unter all dem Eis, saß ein zufriedenes Funkeln. Ich wusste, dass du es schaffen würdest! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)