Somewhere von -Amalthea- ================================================================================ Kapitel 2: Tiefe Nacht ---------------------- Taki saß im Café Roost ruhig vor seinem Kaffee. Er hielt die Tasse mit einer Hand, mit der anderen rührte er gedankenverloren mit dem Löffel in der dunklen Flüssigkeit. Still über einer Tasse Kaffee zu sitzen war zu seinem Morgenritual geworden. Er wollte nicht in der Wohnung frühstücken und von Erinnerungen daran überfallen werden, wie er und sein ehemaliger Partner schon morgens ohne jeden Ernst zu streiten angefangen hatten. Er war inzwischen zu dem Schluss gekommen, dass er Kidaka mochte, aber er wollte ihn nicht mit Go vergleichen. Der Gedanke an ihn versetzte ihm immer noch jedes Mal einen Stich ins Herz. Er hörte nicht, wie die Cafétür hinter ihm geöffnet wurde. Ein hochgewachsener, vornehm aussehender Mann kam an seinen Tisch und räusperte sich leise. Taki drehte sich um. „Guten morgen, Hatozaki-sama.“ „Hatozaki-sama!!! Wie geht es Ihnen??“ jubelte eine junge Stimme über den Tresen hinweg. „Was kann ich Ihnen bringen?“ „Guten morgen, Kanji-kun... Ich möchte im Moment nichts, danke.“ Hatozaki hob ein wenig die Hand in Kanji’s Richtung, als würde er ‚Stop’ sagen. Er mochte den Jungen, aber so viel Fröhlichkeit am frühen Morgen, noch dazu angesichts von Taki’s unnatürlich stillem Gesichtsausdruck, war nichts für ihn. „Ich muss mit Ihnen sprechen,“ sagte der hohe Polizeibeamte so leise, dass ihn niemand außer Taki ihn hören konnte. „Kidaka ist im Augenblick nicht da,“ informierte ihn der junge Mann. „Das macht nichts, ich werde später mit ihm sprechen.“ Taki sah ihn fragend an. „Es ist sehr vertraulich,“ fügte Hatozaki hinzu. „Sprechen wir oben darüber.“ Taki’s Stimme war fast ausdruckslos. Hatozaki voran ging er langsam treppauf. Hatozaki sah ihm kurz nach, bevor er ihm folgte und die Wohnung betrat, die Taki jetzt mit Kidaka teilte. Es war ein merkwürdiges Gefühl zu wissen, dass Go nicht mehr da war. Nach dessen Verschwinden war Hatozaki nicht mehr hier gewesen, es hatte sich keine Gelegenheit ergeben, aber er war auch selbst gehemmt gewesen, obwohl er eigentlich nicht zu Schüchternheit neigte. Äußerlich hatte sich die Wohnung kaum verändert, aber es fehlte irgendwie die Lebhaftigkeit von früher. Kidaka war eine freundliche, offene Natur, aber längst nicht so laut und chaotisch wie Taki’s früherer Partner. Das war einerseits ganz angenehm, aber andererseits merkte man dadurch erst recht Go’s Abwesenheit. Taki bot Hatozaki einen Sitzplatz und etwas zu trinken an, aber dieser lehnte ab und nahm in einem Sessel Platz, Taki gegenüber, der sich aufs Sofa gesetzt hatte. Dieser schien ausgeglichen und ruhig, sah ihn aber nicht an. Früher hatte er bei einem Gespräch jedem offen ins Gesicht geblickt. Irgend etwas war in der Luft, Hatozaki spürte es deutlich. Jetzt, wo er hier war, ahnte er zum ersten Mal, was der junge Mann, der vor ihm war, seit den letzten Monaten empfinden musste. Er war besorgt, und mit seiner Besorgnis war er nicht allein. Mehr als einmal hatte Kidaka ihm und Tsunega gesagt, dass Taki bei der Ausführung irgendwelcher Aufträge wenig auf sich selbst aufpasste. Als ob es ihm gleichgültig wäre, was mit ihm geschah. Kidaka trug einen Ohrring, der identisch mit dem von Taki war, doch dieser trug seinen nicht. Kidaka hatte am Anfang seiner Zusammenarbeit von Tsunega erfahren, dass Taki mit seinem ehemaligen Partner sehr verbunden gewesen war. Er erkannte aber bald, dass Tsunega und Hatozaki nicht alles gewusst hatten: die beiden waren nicht nur eng befreundet gewesen, Taki hatte seinen Partner geliebt. Und so hatte Kidaka nie gewagt, den Blonden nach seinem Ohrring zu fragen. Aber auch die anderen, weder Hatozaki noch jemand aus dem Café Roost, hatten nicht danach fragen mögen, nicht einmal der sonst so offenherzige Kanji. Hatozaki zwang sich, ruhig zu atmen, fühlte sich aber nach wie vor unruhig. Aber er musste es aussprechen, wohl oder übel. Sachlich erklärte er: „Wie es scheint, geht der Nataki-Fall in die nächste Runde.“ Taki rührte sich nicht und sagte kein Wort, aber Hatozaki meinte förmlich zu spüren, wie sich der junge Mann innerlich anspannte. Rasch sprach er weiter: „Offenbar haben wir es mit einer Art Mafiabande zu tun.“ Taki sah ihn zum ersten Mal am heutigen Tag an. „Der Kollege von Itsuki?“ „Ja. Sein Name ist Yamada. Offenbar war nicht nur Itsuki hierin verwickelt. Es handelt sich um einen ganzen Ring von Verbrechern. Nur wollen sie die Nataki-Firma ruinieren, während Itsuki ein persönliches Motiv hatte.“ „Und warum?“ „Das müssen wir erst herausfinden.“ Hatozaki machte eine Pause. „Offenbar ist der Sitz dieser Personen nicht in Tokyo. Wir haben die Spuren erst kürzlich zu... einem anderen Ort verfolgen können.“ „Sie möchten, dass wir an diesem... anderen Ort verdeckt weiter ermitteln, Hatozaki-sama?“ „Nein, ich möchte, dass du das allein übernimmst,“ antwortete Hatozaki bestimmt. „Kidaka bleibt hier, um den Fall erst einmal in Tokyo weiter zu überwachen. Die Details lasse ich ihm wie üblich über ein Passwort zukommen. Eventuell reist er dir nach, aber im Moment brauche ich ihn hier.“ Taki nickte, resigniert. Mit diesem verfluchten Fall hatte er eigentlich nichts mehr zu tun haben wollen, aber Arbeit war Arbeit. „Wohin geht die Fahrt?“ „Es ist besser, wenn du das nicht weißt. Die Situation ist immer noch gefährlich, je weniger und je später du die Details erfährst, desto sicherer ist es für dich. Die Zugfahrkarte hat Tsunega, er gibt sie dir später. Sie ist auf einen anderen Namen ausgestellt. Es ist ein Nachtzug, dadurch dauert die Fahrt zwar länger, aber es ist unauffälliger. Das offizielle Ziel ist Kyoto. Ich werde dir an Bord Bescheid geben lassen, wann du aussteigen kannst.“ Es war später Abend, die Sonne ging unter. Bald würde der Himmel völlig dunkel sein. Der schrille Pfiff des Bahnbeamten, kurz bevor der Zug abgefahren war, zerschnitt immer noch die Luft. Vielleicht kam ihm das auch nur so vor. Taki hatte das Gefühl, als wäre er in letzter Zeit hellhöriger gegen Geräusche. Überhaupt war er überempfindlich geworden, fühlte sich oft müde. Nicht, dass er darauf besonders geachtet hätte. Er wusste ohnehin nicht, was er dagegen hätte zu sollen. Gegen das, was ihn zerfraß, gab es kein Heilmittel. Taki lud seinen Rucksack ab. «Ich weiß nicht einmal, wohin ich fahre... Aber das ist mir auch egal. Jeder Ort ist mir recht. Somewhere...» Das Lied hatte sich wieder in seinen Kopf verirrt. Taki schüttelte den Kopf, um die Melodie loszuwerden. Ohne Erfolg. Schließlich sah er sich um und stellte fest, dass er den Schlafwagen für sich allein hatte. Hatozaki hatte das arrangiert, wahrscheinlich wollte er ihm etwas gutes tun. Stockbetten, sogar ein mittelgroßer Tisch und Stühle, ein kleines Bad mit Dusche. Nichts fehlte, es war hübsch eingerichtet, für Taki’s Gewohnheiten sogar fast luxuriös. Unter den Fenstern war eine lange, gepolsterte Bank an die Wand montiert, damit man die Landschaft in aller Ruhe an sich vorüberziehen lassen und genießen konnte. Taki trat vor eines der großen Fenster, die Arme gekreuzt, die Hände auf dem jeweils anderen Oberarm. Er hätte die Fahrt auch in einem einfachen Abteil überstanden, das machte ihm nichts aus. Gut zu sich selbst zu sein, das hatte er in den letzten Monaten gründlich verlernt. Wenn er es jemals gekonnt hatte. Langsam legte er eine Hand an die Fensterscheibe, dann die Stirn. Er schloss die Augen. Taki war so lange schweigend und in sich gekehrt am Fenster stehen geblieben, dass er verspätet feststellte, dass es um ihn herum stockdunkel geworden war. Offenbar fuhr der Zug durch einen Tunnel und die Notlichter funktionierten nicht. Dies war keiner von den modernen Schnellzügen, die bis in den letzten Winkel technisch ausgestattet waren, da passierte das oft genug. Er gab ein leises, bitteres Lachen von sich. Wie gut das zu ihm passte. Um seine Seele herum war auch alles dunkel. Die Fahrt durch die tiefe Dunkelheit ging weiter, der Tunnel schien kein Ende zu nehmen. Das Rauschen des Zuges übertönte fast alles. Trotzdem hörte Taki hinter sich ein leises Geräusch. Auf einmal wurde er hellhörig, irgend etwas in ihm reagierte. Hatozaki hatte ihm gesagt, dass man ihm Nachricht zukommen lassen würde, aber die Fahrt hatte erst vor kurzem angefangen, und der Job war noch immer verdammt gefährlich, er war auf Überfälle gefasst, Erpressungsversuche, Bedrohungen und schlimmeres. Noch ehe er sich ganz umdrehen konnte, legten sich zwei Arme um seine Taille. Fest. Zogen sich um seinen Rücken, hielten ihn, dass es fast schmerzte. Sekundenlang wurde er festgehalten, versuchte sich zu befreien, da kam das Ende des Tunnels. Taki drehte endlich den Kopf herum und sah im Licht der untergehenden Sonne die fremde Person vor sich. Riss die Augen auf. Er schwankte, fiel fast gegen das Fenster, wurde festgehalten. „...!“ Er brachte kein Wort hervor. Arme zogen ihn an einen festen Körper. „Sssscht... Alles in Ordnung.“ Go. Die frechen schwarzen Augen, die ihn jetzt leicht verlegen ansahen, die leicht zerzausten dunklen Haare, die fein gezeichnete Nase, der warme Mund... Er sah fast genau so aus wie in Taki’s Erinnerung. Nur sein Gesicht hatte rechts, unten am Kinn eine längliche Narbe, die vorher nicht da gewesen war. Taki schnappte nach Luft, hatte einen Augenblick das Gefühl, in einen Abgrund zu fallen. Der Dunkelhaarige zog ihn wieder eng an sich. Schmiegte seine Wange in das blonde Haar, warf einen Blick zu dem, was von der untergehenden Sonne noch zu sehen war, und schickte ein kurzes Dankgebet an jeden Gott, der ihn hören konnte oder wollte. Nach dem ersten Schock fing der Blonde an, am ganzen Körper zu zittern. „Taki, beruhig dich bitte.“ Der andere hielt ihn, und langsam erkannte er die Berührung, den Körper, die Wärme, die Stimme, den Geruch. Er sank auf die Sitzbank, die vor dem Fenster war. Der dunkelhaarige junge Mann vor ihm grinste etwas schief, er fühlte, dass der Freund seinen Augen, seinem eigenen Verstand in diesem Moment nicht traute. Langsam setzte er sich neben ihn auf die Bank, strich ihm eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Was geschehen war, würde er ihm später erklären. Taki stand unter Schock, es hatte keinen Sinn, ihn jetzt mit irgendwelchen Erläuterungen zu quälen. Nach einigen Minuten klopfte es an der Tür. Go stand auf und riss sie ärgerlich auf. Wer störte ausgerechnet jetzt? „Wer zum Teufel...“ Draußen stand ein junger Bursche in Zuguniform, ein Tablett in den Händen, und sah ihn leicht verstört an. „Ich... bringe das Abendessen für Sie.“ „Oh... Meinetwegen.“ Der Bursche arrangierte die Speisen schnell auf dem kleinen Tisch und verschwand aus der Tür. „Komm, lass uns etwas essen,“ sagte der Dunkelhaarige etwas sanfter. Taki zwang sich, ihn anzusehen. Langsam stand er von der Sitzbank auf. Go streckte eine Hand nach ihm aus, wagte dann aber doch nicht, ihn zu berühren und wies statt dessen auf einen der Stühle. Sie setzten sich und aßen langsam und fast schweigend ihr Abendessen. Taki hatte kaum Appetit, aber wenigstens hatte er aufgehört zu zittern. Er sah den anderen noch immer kaum an, und nie direkt in die Augen. Nachdem sie gegessen hatten und das Tablett von dem jungen Burschen fortgebracht worden war, versuchte Go, mit Taki zu sprechen, bekam aber nur ein stummes Kopfschütteln und eine abweisende Geste. Offenbar stand sein Partner noch immer unter Schock. Kommentarlos war Go schließlich die Metalltreppe des Stockbetts hinaufgeklettert und hatte sich in das obere Bett zurückgezogen. Taki lag in dem unteren Bett und konnte nicht schlafen. Er lag mit den Armen hinter dem Kopf und starrte in die leere Luft. Hunderte Gedanken jagten durch sein Hirn. Nur fühlen konnte er nichts. Schließlich schob er die Bettdecke zurück, richtete sich auf und setzte seine Füße auf den Boden. Fast ohne darüber nachzudenken, was er tat, sehr langsam und fast lautlos kletterte er die Metalltreppe hinauf. Go schien ruhig zu schlafen, im blassen Mondlicht konnte Taki ein wenig sein Profil und sein Haar sehen. Er streckte eine Hand halb aus, hielt sie dann aber zurück und berührte den anderen nicht. Go bewegte sich etwas. Er hatte einen leichten Schlaf, bei diesem Job konnte man es sich nicht angewöhnen, tief zu schlafen. Taki kehrte still zurück zu seinem eigenen Bett. Go schlief längst nicht mehr. Er war auch unruhig, und er hatte Taki’s verstohlenen Besuch an seiner Bettkante bemerkt. Als er ihn vorhin an sich gezogen hatte, hatte er seine Rippen gespürt. Taki war immer schlank gewesen, aber jetzt wirkte er fast übertrieben dünn. Das blasse Gesicht und die Augenringe waren ihm gleich aufgefallen. Aber das war nicht das schlimmste. Das schlimmste war die fast geisterhafte Stille, die aus Taki ausstrahlte. Seine Lebendigkeit schien ganz abhanden gekommen zu sein. Er schwieg meist, lächelte nie, seine Bewegungen waren auf ein Minimum eingeschränkt. An ihre gemeinsame Nacht konnte er sich noch genau erinnern. An jede Berührung, alles, was er in dieser Nacht über den Blonden erfahren hatte. Jede empfindliche Stelle, den Geschmack seiner Haut, seiner Lippen, sein Stöhnen, das Beben seines Körpers unter ihm. Ein Gefühl, ein Anblick, die der Dunkelhaarige nie vergessen würde, da war er sicher, und wenn er hundert Jahre alt werden sollte. Danach hatten sie sich nach einer Weile wieder scherzhaft gekabbelt; schließlich hatte Go ihm einfach den Mund mit einem Kuss geschlossen und Taki noch einmal verführt. Der Blonde hatte sich nach einem kurzen anfänglichen Protest darauf eingelassen und nach und nach immer mehr entspannt. Sein Gesicht, sein Körper, seine Stimme hatten Go allmählich nur vermittelt, dass sich sein Partner unglaublich wohl fühlte. Bald darauf waren sie eingeschlafen; Go war zuerst eine Weile wach gelegen, aber Taki hatte sich im Schlaf umgedreht und Go unbewusst einen Arm über die Brust gelegt, so dass dieser grinsen musste und bald darauf auch einschlief. An das leise, glückliche Lachen, mit dem der Blonde ihn am anderen Morgen begrüßt hatte, nachdem er ihn mit seinen Küssen auf Rücken und Schultern aufgeweckt hatte, konnte Go sich noch genauso erinnern. Jetzt kam ihm das alles unendlich fern vor. Als wäre es nie geschehen. Oder als würde er Taki in diesem Leben nie wieder lachen hören. 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