Schneehasen von Komori-666 (Ren x Horo) ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Es war ein gemütlicher Winterabend, die Wiesen und Felder waren in Schnee gehüllt und verwandelten den Blick nach draußen in eine magisch wirkende, silbrig-weiß glitzernde Landschaft. Auch das trübe Grau des Himmels konnte dem nichts anhaben, schließlich waren es genau diese Wolken gewesen, die ihnen den Schnee gebracht und somit das Land verkleidet hatten. „Gib das wieder her!“ „Nein, das ist jetzt meins!“ „Ich will das aber essen!“ „Zu spät.“ „Spuck es sofort wieder aus! Das war meins!!“ „Hey?!“ „Ruhe! Meine Serie fängt gleich an und sollte es auch nur einer von euch wagen…“ Die Meute verstummte, es war nicht nötig, dass Anna ihre Drohung aussprach – so genau wollte es keiner von ihnen wissen. Alle hatten sich in den altbekannten vier Wänden versammelt, saßen gemeinsam am Tisch und genossen die Wärme mit einem Tee oder machten es sich am Ofen gemütlich… oder zückten im Kampf um den letzten Nachtisch ihre Waffen. Nur einer war nicht dabei und hatte draußen seinen Spaß. Dem Ainu bereitete es viel zu große Freude, sich draußen auf den Schnee zu stürzen, Schneemänner zu bauen oder Schneeengel zu kreieren und sich dabei wie zuhause zu fühlen. Es hatte keinen der Freunde überrascht, schließlich war er in den nördlichen Schneelandschaften aufgewachsen und ihm war das weiße Kleid des Winters so vertraut, wie keinem anderen von ihnen. Horohoros Begeisterung für das kristallene Kalt stand im harten Kontrast zu der seiner Freunde. Im Gegenteil, sie konnten es drinnen in der warmen Stube kaum nachvollziehen, wie der Ainu nur so viel Vergnügen haben und es so lange in der Kälte verharren aushalten konnte. Selbst Yo bevorzugte es bei diesen Temperaturen, innerhalb des Hauses Spaß zu haben. „Wie kann man nur so dumm sein und den ganzen Tag im Schnee verbringen? Kann mir das mal jemand erklären?“ „Lass ihn doch, Ren. Du vergisst wohl, wo er herkommt. Ihm gefällt das eben.“, sagte Yo mit seinem üblichen Dauergrinsen und dachte im nächsten Moment auch nicht länger über Horo nach. Ohne auf eine Reaktion des Chinesen zu warten, oder diese gar zu erwarten, setzte er sich erneut seine Kopfhörer auf und keinen Augenblick später erklang das leise Summen der Musik. Es war eine entspannte Atmosphäre. Anna trank ihren Tee und verfolgte aufmerksam zusammen mit Tamao und Manta die Telenovela – natürlich nicht, ohne die Unzulänglichkeiten und den Verbesserungsspielraum vor allem der männlichen Charaktere zu kommentieren. Manta fragte sich insgeheim, ob Anna vielleicht einfach das Training mit ihnen fehlte? Eine Art Ausgleich? Vielleicht war es gut, dass Yo nichts von alledem mitbekam und sich seiner Musik hingab. Ryu unterhielt sich angeregt mit Lyserg, Faust flirtete mit Eliza – Manta lächelte, es war alles wie immer. Alles wirkte friedlich. Voll und ganz in Gedanken versunken richtete Ren seinen Blick auf die kristallene Landschaft. Automatisch blieb sein Blick an dem Ainu hängen, doch es war ihm ein Rätsel, wie man so lange in dieser Kälte verharren konnte – mit den Schneemännern und Engeln war Horo bereits vor einer Ewigkeit an sein Limit gekommen. Mehr Schnee, den er im Garten hätte aufrollen können, gab es einfach nicht. Was macht der da eigentlich? Er wird doch nur krank, wenn er noch länger da im Schnee rumsitzt… Es ging Ren nicht in den Kopf. Der Winter war hart über Japan hereingebrochen, nicht zu vergessen, dass sie all ihre Kämpfe vor Kurzem noch in der Wüste auf sonnenverbranntem Land bestritten hatten. Ein so arger Temperaturunterschied konnte unmöglich gesund sein. So entspannt im Schnee zu sitzen und nichts – Der Tao merkte, wie sich seine Muskeln anspannten, seine Gesichtszüge entgleisten ihm für einen Sekundenbruchteil. Horo war vor seinen Augen einfach umgekippt. Ein Gemisch aus Unglauben und Sorge legte sich auf seiner Miene, vorrangig spiegelte sich in seinen Augen jedoch Schock und Entsetzen. Kaum, dass er realisiert hatte, was sich gerade vor ihm abgespielt hatte, sprang der zierliche Kämpfer auf und völlig unbeirrt von der Kälte nach draußen. Er spürte nicht einmal das Kalt an seinen Füßen, während er zu Horo hastete, der bewegungslos im Schnee lag. Was zur Hölle macht der Kerl da? , schoss es durch Rens Kopf, noch ehe er bei dem Ainu ankam. „Horohoro!! Wach auf! Kannst du mich hören? Mach die Augen auf! Horo!?“, Ren packte und schüttelte ihn grob an den Schultern, seine Worte laut und eindringlich. Er musste ihn irgendwie zu Bewusstsein bringen, doch egal wie laut er rief und wie sehr er auch an ihm rüttelte, Horo zeigte keine Reaktion. Verdammt. Hinter sich hörte er die Schritte der anderen. ~~O~~ „Ist er schon aufgewacht?“ „Nein.“ „Ren, ich kann dich ablösen, wenn du möchtest. Du musst hier nicht den ganzen Tag sitzen.“ „Nein. Ich bleibe hier, Tamao. Du kannst also wieder gehen.“ Er hatte ihr Angebot nicht einfach nur ausgeschlagen. An seiner Stimme und seinem Tonfall konnte das Mädchen deutlich erkennen, dass dies gewiss kein Vorschlag, sondern eine Aufforderung war. Tamao entschied, dem Machtwort Rens nachzukommen; immerhin wollte sie sich nicht streiten, oder die Situation noch schlimmer machen als sie bereits war. Dabei wollte sie ihm nur helfen, schließlich wollten sie alle, dass es Horo bald besser ging. Seitdem Ren gestern Abend den Ainu im Schnee gefunden hatte - bewusstlos – waren seine Lider verschlossen und er hatte sich nicht gerührt; und somit würde der Tao es auch nicht. Er würde sich nicht von der Stelle bewegen und erst recht würde er Horo nicht allein lassen. Er wollte ihm zeigen, dass er ihn nicht hasste. Auch, wenn es der Ainu immerzu behauptete und auf dieser Meinung beharrte. Horo gehörte zu Rens engsten Freunden und der Tao hatte auch nicht vor, einen solchen Freund an ein so lächerliches bisschen Fieber, das der Ainu leicht hätte vermeiden können, zu verlieren. Dies allerdings offen zuzugeben war für Ren eine Blöße, auf die er getrost verzichten konnte. Er war stark – das schloss jegliche Gefühlsduseleien kategorisch aus. Und obwohl er sich eingestehen musste, dass ‚ein bisschen‘ Fieber wohl untertrieben war, war es ebenso wenig zielführend, den Teufel an die Wand zu malen. Vierzig Grad Fieber... das ist nicht gut, ganz und gar nicht. Großartig, Horokeu Usui. Und so widersprüchlich es ihm auch vorkam, er war froh. Froh, dass sich gerade niemand weiteres im Raum aufhielt, außer Horo und er selbst. Er war froh, diesen Moment für sich zu haben. Es kam ihm recht, gewissermaßen allein zu sein. Immerhin wollte er nicht, dass irgendjemand sah, dass er seine Gefühle nicht unter Kontrolle hatte. Dass er - für seinen Geschmack viel zu offen - diese unnützen ehrlosen Empfindungen als Angriffspunkte zeigte. Es war nichts anderes als ein überdeutliches Zeichen der Schwäche und diese Schande konnte er seinem Namen, seiner Famlie nicht aufbürden. Wie es auch sein Onkel immer behauptet hatte. Aber eigentlich wusste Ren bereits, dass dies einfach nur falsch, gar schwachsinnig war. Dass er es ohnehin nicht mehr ändern konnte. Dass er diese unsichtbare Schranke durchschritten hatte, die sich kein weiteres Mal für ihn heben würde – es gab kein Zurück. Und dennoch, es war ihm unangenehm. Er wusste weder, wie er damit umgehen sollte, noch konnte er es mit seinem Stolz vereinbaren. Schlimm genug, dass er sich über diese Gefühlsduseleien überhaupt den Kopf zerbrechen musste. Nein, er musste auch noch Acht geben, dass keiner sah, wegen welcher Gefühle er sich hier den Kopf zerbrach. Er hatte Angst, unglaubliche Angst. Angst davor, einen Freund zu verlieren, sei es durch Krankheit, während eines Shamanenkampfes oder gar durch seine Schuld. Oder durch diesen dummen Schnee! Es frustrierte ihn so sehr, dass er nichts machen konnte, außer hilflos herumzusitzen und abzuwarten. Das war nicht seine Art. Stoisch blieb er sitzen, verharrte ruhig mit dem Entschluss, eher tot umzufallen, anstatt sich etwas anmerken zu lassen. Besser es bleibt so, wie es ist. Am Ende würde man…würde er mich nur meiden. Wer weiß, ob ich- Ren wurde abrupt aus seinen Gedanken gerissen, als der Ainu begann, sich unruhig im Bett zu winden, das Gesicht verzerrt. Ren vernahm deutlich die zwar leisen doch gequälten Laute seines Freundes. Behutsam versuchte Ren mit ruhiger Stimme den Ainu zu wecken, immer wieder murmelte er seinen Namen, konnte dabei seine Sorge aber nicht verbergen. Sanft hielt er ihn an der Schulter fest, bis Horo sich wieder beruhigte. Er hätte nie gedacht, es eines Tages vorzuziehen, sich mit dem Ainu über irgendwelche sinnlosen Dinge in die Haare zu kriegen. „Er hat wohl nur schlecht geträumt.“ Ren erschrak und drehte sich ruckartig der Stimme entgegen. Wieso hatte er nicht gehört, dass jemand hinter ihm ins Zimmer gekommen war? Wie konnte ihm das passieren? „Anna?!“ Der Tao spürte, wie in ihm die Hitze aufstieg, seine Ohren glühten. Das durfte doch wohl nicht… ! Stand sie schon länger da? Hatte sie etwa alles mit angesehen? Nein, unmöglich! Beruhig dich, das kann gar nicht sein. Das hättest du doch gemerkt! … Ob…ob sie das wohl gesehen hat? Hat sie etwa alles gesehen? Das wäre mein Ende... und jetzt werde ich auch noch rot, so ein Mist! „Was ist denn los Spitzi? Was ist dir denn so peinlich?“, Anna hob misstrauisch eine Augenbraue. „Nichts. Es ist einfach nur... sehr warm hier drinnen!“ „Na, wenn du meinst.“, quittierte sie es mit einem belanglosen Schulterzucken. Anna wusste sehr wohl, was eigentlich los war und dass ihr Gegenüber log, aber sie wollte ihn nicht damit aufziehen. Wenn man bedachte, dass sich der Tao schon genug Sorgen machte, hätte ihm das vermutlich gerade noch gefehlt. Da würde sie über diese eine Lüge hinwegsehen können. Und sie hatte gewiss nicht vor, etwas von dem gerade Passierten weiter zu erzählen. Das entsprach nicht ihren Prinzipien. „Warum bist du eigentlich hier?“ „Ich wollte wissen, ob er seit gestern mal aufgewacht ist. Und außerdem ist es Zeit Fieber zu messen.“ „Verstehe.“ Ren murmelte eher vor sich hin, als wirklich mit Anna zu reden. Aufmerksam sah er ihr zu und bemerkte aus den Augenwinkeln, dass sie ein Tablett mit zwei Tassen dampfenden Tees mitgebracht hatte. „Du solltest dich auch mal ausruhen, oder zumindest etwas zu dir nehmen. Und vergiss nicht, dass er auch ein Shamane ist, er wird schnell wieder auf den Beinen sein.“ „Ich bin nicht müde und benötige auch nichts. Danke, aber kein Bedarf.“ „Hast du seit gestern geschlafen oder etwas gegessen?“ Ihr herrischer Ton entsprach ganz ihrer Art – etwas, worauf man sich bei Anna verlassen konnte. Dennoch sah er die Itako verwundert an. Es war ungewöhnlich, dass Anna sich so schnell und vor allem so energisch Sorgen machte. Ob sie jetzt, nach dem Shamanen-Turnier, weich geworden war? Doch wenn er genauer darüber nachdachte, brauchte er sich nichts vormachen. Er hatte wahrscheinlich einfach nur ihre Neugierde auf sich gezogen, mehr nicht. „Nein.“ „Getrunken?“ „Nein. Was wird das?!“ „Dann wirst du das jetzt tun! Ohne Widerrede!“ „Aber-“ „Ohne Widerrede! Trink das und geh dich ausruhen. Ich habe keine Lust, mich um zwei Kranke kümmern zu müssen! Nicht auszudenken, wenn ich wegen euch beiden dann auch noch meine Serie verpassen würde.“ Ren fragte sich, ob das des Rätsels Lösung war? Neben ihrer heimlichen Neugierde machte sich Anna wohl tatsächlich Sorgen, aber scheinbar eher um die Serien, die sie sich so gern ansah. Es war reiner Eigennutze. Obwohl er ihr die ehrliche Sorge um ihre Kameraden nicht abstreiten wollte, stand diese wahrscheinlich gerade nicht an erster Stelle – und zugegeben, sie hatten schon viel Schlimmeres überstanden. Aber es konnte ihm genau genommen auch egal sein, was Anna dachte. Ihm war im Moment alles egal. Hauptsache, es würde diesem idiotischen Schnee-Heini bald besser gehen. ~~O~~ Er fühlte sich seltsam. Wo war er? Er konnte sich nicht recht erinnern. Es war, als wären seine Erinnerungen da, aber er kam einfach nicht an sie heran. Egal, wie sehr er es versuchte, da war nichts. Er kam sich seltsam verloren und orientierungslos vor. Er hatte sich zwar schon so manches Mal verlaufen, doch das war anders. Mühsam öffnete er die Augen und blinzelte angestrengt gegen das Licht. Es kostete ihn ein paar Lidschläge, bevor all die verschwommenen Umrisse zunehmend klarere und deutlichere Formen annahmen. Wo bin ich? Und woher kamen diese Kopfschmerzen? Er konnte kaum einen vernünftigen Gedanken fassen, da er an seinen Schläfen nur dieses drängende Pochen spüren konnte und am liebsten hätte er seine Lider wieder geschlossen und sich der angenehmen Dunkelheit hingegeben. Dennoch, der Drang, sich wieder orientieren zu können, siegte letztendlich. Leicht drehte er den Kopf zur Seite und wartete einen Moment, bis sich seine Sicht an die beißende Helligkeit gewöhnte, sein Gehirn die richtigen Informationen zusammenführte und sich ein Bild vor seinen Augen herauskristallisierte. Er blickte direkt in die weiße Schneelandschaft, die unter den hellen Sonnenstrahlen glitzerte. Das war also die Lichtquelle, die ihn so geblendet hatte. Als er sich davon abwandte, wollte er seinen Augen nicht trauen. Halluzinierte er? War das die Realität? Ob das an den Kopfschmerzen lag? Doch egal, wie lange er diese Stelle auch anstarrte, das Bild vor seinen Augen änderte sich nicht. Da saß wirklich Ren Tao direkt vor ihm und er… Er schläft!? Ren war anscheinend – wenn er seinen Augen denn wirklich trauen konnte - hier neben ihm auf einem Stuhl eingeschlafen. Aber was machte der Kerl hier eigentlich? Der Ainu wollte sich aufrichten, kam mit seinem Vorhaben jedoch nicht allzu weit und sank zurück ins Kissen. Diese Kopfschmerzen waren nicht nur penetrant, sie sorgten auch dafür, dass sich seine Umgebung wild drehte. Na spitze… „Du solltest noch liegen bleiben und schlafen. Oder dich wenigstens ausruhen, wenn du bald wieder gesund sein möchtest.“ Der Chinese saß auf dem Stuhl in eine Decke gemummelt, den Kopf gesenkt. Und auch wenn der Anblick des Tao in dieser Position unerwartet war, so hörten sich sowohl Tonfall als auch Worte vollkommen nach dem Ren an, den sie alle kannten. Und selbstverständlich blieb dem Ganzen auch Rens üblicher Hauch von Tadel nicht fern. „Du schläfst gar nicht?“ „Unsinn. Ich bin nur etwas müde, mehr nicht.“ „Hm.“, Ja klar, genau so sah das für Horo auch aus, etwas müde. Aber wenn der große Ren Tao sich damit besser fühlte… Horo ließ die Frage, was ausgerechnet Ren hier machte, einfach nicht los. Hatte der Chinese denn - abgesehen von schlafen, denn er war ja nicht müde nichts Besseres zu tun? „Wie geht es dir?“ „Weiß nicht... wo sind die anderen?“, Horos Frage verärgerte Ren zugegebenermaßen im ersten Moment etwas. Er kam nicht umhin, sich zu fragen, ob es dem Ainu nicht ausreichte, dass er hier war. Ob es so schlimm war, dass er hier neben ihm verweilte. Aber es war eben Horo; er wollte einfach immer wissen, wer wo was machte, um auch ja nichts zu verpassen. Aber musste der Ainu ihn denn dabei die ganze Zeit so seltsam anstarren? „Im Kino.“ Ren wand sich geschickt aus der Decke, beugte sich rasch vor und legte seine Hand sachte auf Horos Stirn. Mit der anderen fühlte er zum Abgleich seine eigene Stirn, aber er hätte auch ohne Vergleichspunkt gemerkt, dass Horos Fieber nach wie vor nur geringfügig gesunken war. Behutsam und mit typischer Sorgfalt zog er die Bettdecke zurecht und stellte so sicher, dass ihrer aller Patient auch ordentlich zugedeckt war. An ihm sollte Horos Genesung ganz gewiss nicht scheitern. „Was machst du hier?“ obwohl Horo diese Frage nur leise und erschöpft in den Stoff gemurmelt hatte, hatte Ren trotzdem jedes Wort deutlich vernommen. „Das, wonach es aussieht. Ich kümmere mich um dich.“ „Klar. Und warum solltest ausgerechnet du das tun?“, wäre es nur Unglaube gewesen, hätte Ren diese Frage an sich abprallen lassen. Doch der Hohn, der mit jedem einzelnen Wort mitschwang, reizte ihn auf mehreren Ebenen. Nicht nur, dass sein Stolz laut aufschrie, irgendetwas begann auch noch in seiner Brust wie ein wildes Tier zu wüten. Verdammt. Ja, ausgerechnet er war geblieben, um auf diesen Schnee-Heini Acht zu geben. Aber offensichtlich schien Horo Präferenzen zu haben, wer sich um in sorgen sollte – durfte. Hatte dieser Idiot überhaupt eine Vorstellung davon, wie schwer ihm das alles hier fiel?! Noch während Ren versuchte, seinen verletzten Stolz, den aufwallenden Zorn zurückzudrängen und Horos Frage zu beantworten, war dieser ihm bereits zuvor kommen. „Pass auf, dass du dir dabei nicht versehentlich noch einen Zacken aus der Krone brichst.“, grummelte der Ainu und wandte dabei den Blick ab. Von allen Leuten musste gerade Ren bei ihm sein? Die mit Abstand distanzierteste Person unter ihnen? Denn distanziert hin oder her, von seinen Gedanken war Ren alles nur nicht distanziert. Oft genug drehte es sich in seinen Kopf um nichts und niemand anderes und wie er feststellen musste schaffte auch Schnee dem Ganzen keine Abhilfe. Hatte nur noch gefehlt, dass er in Yos Garten einen Schnee-Ren gebaut hätte… Nein, Schnee hatte ihm gleich zweimal nicht geholfen; er war nicht nur krank, sondern mit diesem ganzen Übel auch noch knallhart konfrontiert. War er denn vom Pech verfolgt?! Dass der Tao jetzt vor ihm saß und den pflegenden Freund gab… berührte ihn zutiefst. Und dennoch – es brachte ihm nichts, außer dämlicher Hoffnungen, die zu nichts führten. „Warum?“, hörte er den Tao gefährlich neben sich knurren. Seine dunklen Iriden flogen augenblicklich zurück zu der Stelle, an der Ren saß. „Warum?! Du Schwachkopf hattest bis heute Morgen noch extrem hohes Fieber! Du warst bewusstlos! Bist im Schnee umgekippt! Du bist verdammt nochmal krank, falls es dir entgangen sein sollte.“ Bestürzt und überrascht über die Aggressivität, mit der er Horo diese Worte entgegengeworfen hatte, verharrte Ren in einer Art Starre. Das hatte er so nicht geplant, vor allem hatte er nicht laut werden wollen. Doch der Ainu hatte bei ihm mehr als einen Nerv getroffen. Normalerweise würde er sich jetzt zurückziehen, um sich erneut zu sammeln. Doch diesmal wollte und konnte er nicht. Er konnte das unmöglich auf sich sitzen lassen. Das Bisschen Stolz, das ihm geblieben war, verbot ihm Horo diese Dinge an den Kopf zu werfen und dann wie ein Mädchen einfach wegzulaufen. Und außerdem…wollte er Horo nicht allein lassen. Ren spürte, wie sich die Atmosphäre zwischen ihnen schlagartig änderte, irgendetwas war aus dem Gleichgewicht geraten. Horohoro sah den Tao einfach nur an. Mit einer solchen Reaktion hatte er nicht gerechnet. Aber er war nicht der Einzige, der völlig überrumpelt war; das konnte er deutlich daran erkennen, dass sich Ren versteift hatte und ihn ebenso erschrocken anstarrte. Ren schluckte, schalt sich innerlich. Es gefiel ihm gar nicht, wie Horo ihm entgegenstierte. Angestrengt versuchte er, etwas in Horos Zügen lesen zu können, das ihm helfen würde, die Situation zu begreifen. Er hatte Horo schon öfter angefaucht, zurechtgewiesen und im Streit angeblafft. Doch…was war in diesen wenigen Sekunden gerade passiert? Niemals hätte er mit Horos nächsten Worten gerechnet. „Geh doch. Du musst dich nicht um mich kümmern, keiner zwingt dich!“ Ren war wie vor den Kopf gestoßen. Horo war im Vergleich zu ihm keinesfalls laut geworden, es war viel mehr die Art und Weise wie er es gesagt hatte. Mit jedem weiteren Wort wurde die Abscheu und die Verärgerung in seiner Aussage präsenter, bis sie inmitten des Raumes direkt zwischen ihnen standen. Was zur Hölle war in den letzten paar Sekunden passiert? Normalerweise war der Ainu doch gutmütiger, er konnte ihm unmöglich seine Worte so sehr übel nehmen – Horos eigene Worte mal beiseite gestellt. Dabei wollte er Horo doch zeigen, dass… er hätte einfach den Mund halten sollen. Ren hatte das Gefühl, dass sich in seinem Inneren alles schmerzhaft zusammenzog – auch, wenn sein Kopf sich noch keinen Reim darauf machen konnte, warum sich das zuvor noch wilde Toben in ihm in ein zunehmend qualvolles Ziehen wandelte. Gedanklich wiederholte er noch einmal, was passiert war, doch so kurz ihr Gespräch auch gewesen war, es entzog sich trotzdem jeglicher Logik. Er konnte es drehen und wenden, wie er wollte - es ergab einfach keinen Sinn. Ren wollte eigentlich Horo beweisen, dass er auch ein Freund sein, dass er für ihn da sein konnte. Auf seine Weise. Und trotzdem war es irgendwie aus dem Ruder gelaufen – wie auch immer das passiert war. Er gab zu, dass seine Worte vielleicht etwas harsch waren, aber dass selbst Horo ihn gleich fortschickte? Wieso hatte er diesen Streit denn überhaupt erst vom Zaun gebrochen? Ren fühlte sich in dieser Situation nicht wohl; dass er nicht wusste, was zu tun war und dass er dem nichts entgegenzusetzen hatte, drängte ihn in eine Enge, die ihm nicht behagte. So kannte er sich selbst nicht. Konnten sie nicht einfach die Zeit zurückdrehen und Horohoro ins Haus holen, bevor er krank wurde? Und wenn sie es mit Gewalt hätten tun müssen. Dann hätten sie sich das alles hier erspart. Doch Nachgeben war keine Option, er musste sich zusammenreißen. „Was soll das alles überhaupt?“, seine Stimme war gefasst und leise. Er spürte das Kratzen in seiner Kehle und wusste, dass er sich nur selbst verraten hätte, wenn er lauter gesprochen hätte. Seine Gedanken ordneten sich und der Widerstand in ihm wuchs; er würde dem Ainu ganz sicher nicht seinen Willen geben. Seine Stimme würde jetzt nicht versagen und er würde jetzt gewiss nicht gehen. „Na geh schon.“ Ren spürte, wie die Dreistigkeit des Ainu anfing, an seiner Geduld zu zehren – von seiner Beherrschung ganz zu schweigen. Seine Hintergründe mal dahingestellt, der Schnee-Heini sollte langsam mal etwas Dank aufbringen. „Warum sollte ich das tun?“, er klang ruhig, kühl, sein Widerstand gegen den Wunsch des anderen schwang leise mit. „Weil ich niemanden brauche, der gar nicht hier sein will und mich sowieso nicht ausstehen kann!“ Bei Letzterem hatte Horos Stimme fast ihre übliche Kraft zurückbekommen, seine Emotionen verstärkten jedes gesagte Wort – so, wie Ren es von dem Ainu auch gar nicht anders kannte. Ren indes blieb äußerlich ruhig und rührte sich kein Stück. Das konnte Horo unmöglich ernst meinen. Er konnte es nicht glauben. Dachte dieser Idiot wirklich, er wäre hier, wenn er laut Unterstellung doch so viel Hass für ihn empfinden würde? Was dachte Horo, was das alles bisher gewesen war? Eine reine Zweckfreundschaft während des Turniers? Dass er alles nur gespielt und mühsam ausgehalten hatte? Dass er jetzt noch hier war, um den guten Schein aufrecht zu erhalten? So viel Sympathie hätte er im Leben nicht heucheln können. Er hatte jedoch bereits befürchtet, dass Horo gelegentlich diesen Eindruck von ihm bekommen hatte. Dennoch hatte Ren mehr als einmal das Gegenteil bewiesen. Wie auch jetzt. Horo wollte also, dass er geht, weil... nun… das war doch ausgemalter Blödsinn! Er hasste Horo nicht. Im Gegenteil - und das war im Grunde genommen auch das eigentliche Problem. Aber Ren konnte einfach nichts sagen. Er stand einfach nur da und starrte Horo an. Gedanklich ging er verschiedenste Szenarien durch. Wie es hatte soweit kommen können, wie Horo zu diesen Annahmen kam. Was er jetzt sagen sollte. Seine Gedanken kreisten darum, wie er mit einer solchen Anschuldigung umgehen sollte, da er den Ainu nicht noch weiter diesen selbsterfundenen Irrsinn glauben lassen wollte. Und wieso war er überhaupt so aggressiv? Lag es am Fieber? So hatte er ihn doch sonst nicht erlebt. Nun, fairerweise musste Ren zugeben, dass man ihn sonst auch nicht sehr fürsorglich erlebte. Horo schloss gequält seine Augen, konzentrierte sich nur auf den Druck und das Pochen in seinem Kopf. Für einen Moment wurde es still; keiner sagte mehr etwas. Ren hielt stur seine Position aufrecht und wog noch immer seine Optionen ab. Er war kein Anfänger, er würde die Situation mit klarem Kopf analysieren und entsprechend reagieren. Aber vor allem würde er bleiben. „Du bist ja immer noch da.“, wisperte Horo kaum hörbar. Aber Ren vernahm sehr wohl das Flüstern des Ainu. Auch wenn er den Eindruck hatte, dass Horo gar nicht beabsichtigt hatte, dass er den Satz hörte. Ren, der für gewöhnlich von Gefühlsausbrüchen nichts hielt, schob seinen Verstand und rationales Denken nun doch für einen Moment beiseite. Bereits zum zweiten Mal an diesem Tag, doch diesmal bewusst. Jetzt hatte Horo es zu weit getrieben. Er würde den Usui wohl mit dessen eigenen Waffen schlagen müssen, wenn er hier einen Sieg erringen wollte. Wie auch immer dieser ‚Sieg‘ aussehen mochte. „Ich habe auch nicht vor zu gehen. Und du wirst mir jetzt sehr genau zuhören.“, Ren machte eine kurze Pause und gab dem Ainu die Möglichkeit, sich ganz auf Rens Worte zu fokussieren. „Ich habe mich um dich gekümmert. Ich habe bemerkt, dass du bewusstlos im Schnee lagst und ich war es auch, der Tag und Nacht hier saß und auf dich aufgepasst hat! Das allerwichtigste jedoch und merk es dir", wieder hielt er kurz inne; er wollte nicht nur Horo Zeit geben. Auch er selbst brauchte einen Moment, um den nötigen Mut aufzubringen. Kein Fieber auf der Welt würde Ren dazu bringen, diese Worte ein zweites Mal an Horo zu richten. „Ich hasse dich nicht!“ Stille. Der Ainu hielt seinen Blick fest auf Ren gerichtet, seine Iriden spiegelten Verwunderung und auch Unglauben wider. Er konnte nicht glauben was er da hörte. Hatte der Tao das wirklich gesagt? Und hatte er das wirklich gemacht? Ren, ihr Ren, soll sich die ganze Zeit um ihn gekümmert haben? Freiwillig?! Ren sollte es gewesen sein, der ihn da draußen im Blick gehabt hatte? Niemals. Wieso hätte er sich so um ihn sorgen sollen? Seit wann sorgte Ren sich überhaupt so sehr um irgendjemanden? Und dennoch wusste Horo auch, dass Ren keinen von ihnen anlügen würde. Keinen; ihn inbegriffen. Seine Gedanken überschlugen sich, doch nicht nur das. Rens Worte hatten in ihm eine Lawine an Emotionen losgetreten, die er nicht mehr aufhalten konnte. Er spürte, wie seine Lippen begannen zu zittern. Oh man, würde er jetzt wirklich anfangen zu heulen? Das musste am Fieber liegen! Er sollte sich besser zusammenreißen, er war doch kein Mädchen! Aber all das von Ren zu hören, dass er ihn nicht hasste, dass er dem Tao nicht egal war. Dass er hierbleiben würde. Quatsch, das waren genau die falschen Hoffnungen, von denen er sich hatte trennen wollen, aber… Ren würde bleiben. Ganz rational gesehen, konnte er nichts von dem glauben. Aber sein Innerstes hatte das bereits seinem Verstand abgenommen und sich selbstständig gemacht. Niemals hätte er es für möglich gehalten, von Ren solche Worte zu hören, eine so menschliche entgegenkommende Seite zu erleben. Denn ganz gleich, wie viele falsche Hoffnungen er hegte und wie oft er sich schon gewünscht hatte, Ren wäre etwas nahbarer, die Worte – nein, die gesamte Reaktion des Tao war echt gewesen; nicht nur irgendeine Hoffnung und auch keine Halluzination. Und dann hatte er selbst Ren diese Dinge vorgeworfen. Dank sah anders aus, er schalt sich innerlich. Das war nichts, was man Freunden an den Kopf warf und auch nichts, was ein Freund hören wollte. Und auch, wenn Ren ihm oft genug bei Streitereien hatte einstecken lassen, für ihn war Ren seit Langem ein Freund. Und er dachte immer, dass dies nur bis zu einem gewissen, nutzenabhängigen Grad auf Gegenseitigkeit beruhte. Nein, falsch. Wenn er so darüber nachdachte, musste er sich eingestehen, dass er sich das in den letzten Wochen alles nur eingeredet hatte. War es nicht Ren, der gemeinsam mit ihm während des Shamanen Turniers ein Team geformt hatte? War es nicht Ren, der mit ihm Seite an Seite gekämpft hatte? Ren, der… scheiße. Und dann habe ich auch noch so das Maul aufgerissen. Verdammtes Fieber. Er hatte Mist gebaut, ohne dass er wirklich etwas dafür hatte tun müssen, seine Worte hatten das ganz allein für ihn erledigt. Er wollte Ren jedoch tatsächlich wegschicken, weil er ihn nicht zwingen wollte, hier seine Zeit zu verschwenden. Weil Ren, so hatte er angenommen – sich eingeredet - nichts für ihn übrighatte, nicht einmal Freundschaft. Weil er dessen Abneigung nicht spüren wollte. Es war verwirrend, seine Gedanken fanden einfach keinen roten Faden. Hoffentlich lag das am Fieber… Horo hörte Rens resigniertes Schnauben und sah, wie sich dessen Schultern entspannten. Der Ainu erinnerte sich wieder an das Gefühl, Rens Stimme gehört zu haben. War das etwa gar keine Einbildung gewesen? Hatte das gar nicht am Fieber gelegen? Aber wieso würde Ren das tun? Wieso sollte er? Er hatte zwar gerade eben gesagt, er würde ihn nicht hassen, aber reichte das? Doch war es nicht genau das, was Horo eigentlich immer gewollt, aber schon lange aufgegeben hatte? Er biss sich auf die Unterlippe, in der Hoffnung er könnte ein Beben unterdrücken. Leider bewirkte er damit nur das Gegenteil. Diese Lawine, die Ren losgetreten hatte, raste mit unaufhaltbarer Geschwindigkeit an die Oberfläche – genau dahin, wo sie nicht hin sollte. „Was hast du?“ Rens Stimme war leise, sanft und Horo konnte Rens Sorge in ihr erkennen. Aber vor allem, dass Ren seine Reaktion nicht einzuordnen wusste, die Verwirrung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Was sollte er denn sagen? So etwas sagte sich nicht so leicht. Horos Verhalten war wirklich…verwunderlich. Er war sonst auch aufgeweckt, temperamentvoll und emotional, aber anders, nicht…so. Der Tao seufzte innerlich, irgendwie hatte er sich das alles ganz anders vorgestellt. Nein, um genau zu sein hatte er sich eigentlich nichts von all dem vorgestellt. Grübelnd, ob es die richtige Entscheidung war, erhob er sich von seinem Platz und setzte sich an den Rand des Futonbettes. Er sah Horo nur kurz an, registrierte aber schnell das salzige Nass in den ohnehin schon glasigen Augen. Bewusst wandte er sich von Horo ab und drehte ihm den Rücken zu. Er hatte keinen Bedarf daran, sich an einem Moment zu weiden, von dem er sich sicher war, dass Horo ihn als Blöße empfand; ihm wäre es in so einer Situation nicht anders gegangen. Einen Moment, in dem der Ainu eben nicht kurz mit einem Lächeln überspielen konnte, wie unangenehm ihm die Sache war oder gar eine Ausrede parat hatte. Dafür war Horo gerade bestimmt nicht in der Verfassung; musste er auch nicht. Er würde ihm seine Würde lassen und ihn nicht dabei beobachten. Aber er würde auch nicht gehen. Schließlich stand er zu seinem Wort. „E...es… es…“ Horo setzte sich mühsam auf, um Ren auf gleicher Höhe begegnen zu können. Was auch immer das für eine Verbindung zwischen ihnen war und was auch immer er für Ren darstellte, für ihn drehte sich gerade alles nur um dieses eine schreckliche Gefühl. Er musste Ren unglaublich vor den Kopf gestoßen und gekränkt haben. Ansonsten würde der Tao nicht so aus sich herausgehen. Ob er ihn sogar verletzt hatte? Ganz gleich, wie viele Differenzen sie hatten, das war das Letzte, was Horo erreichen wollte. Aber der große, kühne Tao würde niemals Gefühle zugeben oder sie gar zeigen und dennoch hatte er ihm klar und deutlich gesagt, dass er ihn nicht hasste. Und das war gewissermaßen ein Gefühl, oder? Kaum, dass er aufrecht saß, merkte er, wie sein Kreislauf es ihm dankte. Er war wohl doch etwas zu voreilig gewesen. Er atmete tief ein und ließ die Luft langsam aus seinen Lungen gleiten, in der Hoffnung der Schwindel würde mit ihr seinen Körper verlassen. Doch wieder einmal hatte er die Situation nur verschlimmert. Er merkte, wie ihm schwarz vor Augen wurde und sein Oberkörper nach vorne kippte, spürte jedoch im gleichen Moment, wie Ren ihm als Stütze diente und ihn abfing; seine Stirn an Rens Schulter gelehnt. Der Tao konnte an Horos rasselnden Atemzügen hören und spüren, wie sehr sich Horo unnötig quälte. Der Trottel glüht immer noch… , doch er sagte nichts. Er schien mit seinen eigenen Worten zu kämpfen, was auch immer jetzt so wichtig sein sollte. Doch wenn er ihm so dringend etwas mitteilen wollte, würde er hier still sitzen und abwarten. Auch wenn er an nichts denken konnte, was so dringlich sein könnte. Wenn Anna erfuhr, wie der Ainu sich hier abmühte, würde sie ihn umbringen. Horo hatte noch einen Moment gebraucht, bis er die Schwärze vor seinen Augen niedergekämpft und die Luft zurück in seine Lungen gefunden hatte. Er spürte, wie entspannt Ren vor ihm saß, ihm Halt bot, gegen den er sich stützen konnte. Ob er überhaupt in Worte fassen konnte, wie sehr er es bereute dass er Ren vorhin hatte wegschicken wollen? Eigentlich war es doch schön gewesen, nicht allein zu sein. Und ein Ren, der im Sitzen eingeschlafen war, bot zudem einen wahrlich seltenen Anblick. Ob Ren wusste, was ihn so umtrieb, was ihm so schwerfiel? Ob er die Hintergründe schon lange durchschaut hatte? Oh, hoffentlich nicht… „Es … es tut mir leid!“ … und hoffentlich würden sie hinterher alles auf sein Fieber schieben können. Was?! Ren schnaubte genervt. „Und dafür hast du dich jetzt so gequält?!“ Horo konnte nahezu hören, dass Ren skeptisch die Augenbraue gehoben hatte. Seine Stimme ließ daran keinen Zweifel. Er sagte nichts, denn ihm war klar, dass Ren mit seiner Frage nicht wirklich nach einer Antwort verlangt hatte. Und außerdem fühlte er sich hier an dessen Schulter ganz wohl. Seine Sicht klärte sich und auch der Schwindel ließ langsam nach, nur die Kopfschmerzen waren geblieben. Doch sie allein waren Grund genug, sich keinen Zentimeter zu rühren. Und dann kam natürlich noch ein bisschen Angststarre hinzu. Es tat ihm wirklich leid. Er wusste, dass Ren so etwas nicht leichtfertig machen würde. Dass alle anderen das wohl auch hätten machen können, immerhin hatten sie sich nochmal alle im Asakura Haus zusammengefunden. Horo zuckte erschrocken zurück, als er plötzlich Rens kühle Hand spürte, die sich ihren Weg zu seiner Stirn bahnte. Eigentlich hatte Ren doch gerade eben erst seine Temperatur gefühlt, doch es störte ihn nicht wirklich. Der Tao wollte sich seiner Sache eben immer sicher sein, das war nichts Neues – zumindest so gut kannte er den Chinesen. Außerdem konnte er nicht leugnen, dass das sanfte Kalt auf seiner Haut eine wahre Wohltat war. Als er merkte, wie Ren seine Hand kurz darauf wieder zurückzog, verspürte er einen enttäuschten Stich. Dabei hatte es sich so gut angefühlt. „Ren, es... ich meine… wirklich, es tu-“, weiter kam er nicht; Ren hatte ihn behutsam am Oberarm berührt, um ihn zum Schweigen zu bringen. Horo spürte, wie Ren zaghaft, aber ein bisschen unbeholfen, mit seiner Hand langsam auf und ab strich. Als wolle er ihn… ja, was? Beruhigen? „Schon gut, Horo. Macht nichts.“ Irgendwie wurde ihm diese ganze Situation zu anstrengend und Ren begann noch einmal ernsthaft darüber nachzudenken, ob zwischenmenschliche Beziehungen wirklich etwas waren, mit dem er sich auseinandersetzen wollte. Doch noch bevor Ren eine Entscheidung hätte treffen können, spürte er zwei warme Arme, die sich um ihn legten und leichten Druck ausübten. Umarmte Horo ihn da etwa? Und wie sollte er jetzt damit umgehen? Er war noch nie von jemand anderem als seiner Schwester so berührt worden. Wie reagierte man in so einer Situation? Bei Run hatte er einfach immer stillgehalten, bis sich ihre gefühlsduseligen Anwandlungen wieder gelegt hatten. Sollte er das bei Horo auch ausprobieren? Doch er fühlte ein verdächtiges heißes Kribbeln in seiner Wange aufsteigen. Jetzt wurde er wohl auch noch rot – nicht auszumalen, wenn das jemand sah! Er musste augenblicklich an Anna denken, die sich ohnehin bereits ihre ganz eigene Sicht auf die Dinge zusammengereimt hatte. Und dennoch, für einen Moment ließ er den Ainu gewähren. Immerhin konnte er nicht leugnen, dass… es ganz ok war. Er atmete ruhig und flach, versuchte sich möglichst nicht zu rühren und kämpfte angestrengt im Stillen darum, seine innere Ruhe zurückzugewinnen. Nach ein paar Minuten wurde es Ren dann aber doch zu viel und er wand sich eher umständlich aus Horos Umarmung. Er wollte nicht, dass noch irgendetwas aus ihm herausplatzte, das er im Nachhinein nur bereuen würde. Und das nur, weil er sich von dieser plötzlichen Nähe in die Enge gedrängt fühlte. Doch obwohl er sich sicher war, dass das unter keinen Umständen passieren durfte, schien ein kleiner Teil von ihm dennoch dafür zu sein. Dieser eine kleine Teil in ihm, der in dieser Situation eine Gelegenheit sah, die er nutzen sollte. Die er nutzen musste, wenn es nach diesem einen kleinen Teil in ihm ging. Dieser Teil, der etwas brauchte, an dem er sich festhalten konnte. Etwas, mit dem er sich irgendwie beruhigen und vertrösten konnte. Und wie es schien, hatte dieser Teil in ihm mehr Macht, als ihm lieb war. Er nahm das Häufchen Elend, welches ihn gerade noch an sich gezogen hatte und noch immer viel zu nah bei ihm war und schob es sanft, aber bestimmt von sich. Entschieden mied er jede Art von Blickkontakt. Und noch bevor er es hätte stoppen können, fing dieser eine kleine Teil in ihm an zu sprechen. „Horo, sag mal... sind wir eigentlich sowas wie Freunde?“ Ren war die ganze Sache mehr als unangenehm, aber etwas in ihm musste es einfach wissen. Horo konnte nicht verbergen, wie sehr ihn diese Frage überraschte. Niemals hätte er damit gerechnet, dass ausgerechnet Ren es war, der ihm so eine Frage jemals stellen würde. „Wärst du sonst hier? Ich meine, wenn wir es nicht wären?“ Ren hielt den Blick wieder stur geradeaus gerichtet und reagierte, soweit Horo es sehen konnte, nicht. Innerlich schnaubend tadelte Horo sich selbst; er hätte wissen müssen, dass er auf solche Fragen bei diesem Gesprächspartner keine Antwort erhalten würde. Und dennoch, kam er nicht umhin, über Rens Verhalten zu lächeln. Ren war so schlecht, wenn es um zwischenmenschliche Beziehungen ging, dass es fast schon ein bisschen herzerwärmend war, wann immer er es versuchte. Mit einem breiten Lächeln sah er sein Gegenüber an, denn im Grunde machte es ihm nichts aus, dass Ren ganz er selbst war. Horo strahlte die gleiche Zuversicht und Lebensfreude aus, die man auch sonst von ihm kannte – kein Fieber würde das ändern können. Und Ren würde seine Antwort bekommen, wenn der Sturschädel es denn so wollte. „Natürlich sind wir Freunde. Du bist einer derer, auf die ich mich immer verlassen kann. Einer der Engsten.“ Horo hatte Ren während dieser Worte mit unerschütterlicher Entschlossenheit angesehen und keinen Moment aus den Augen gelassen. Er hatte gemerkt, dass es Ren wichtig war und die ganze Zeit aus den Augenwinkeln zu ihm herüber lugte. Mit seiner anfänglichen Zurückweisung hatte er unbeabsichtigt einen Stein ins Rollen gebracht hatte, den er noch etwas länger in Bewegung halten wollte. Natürlich waren sie Freunde, natürlich war Ren ihm wichtig. Nur hatte er immer gedacht, dass er in Rens Welt all dem nicht einmal nahekam. Doch umso mehr wollte Horo ihm beweisen, dass ihm viel an ihm lag. Mehr, als Ren dachte und mehr, als Ren je zulassen würde. Der Tao sagte noch immer nichts, er hatte sich dazu entschlossen, weiterhin zu schweigen. Horo hatte fast nichts anderes erwartet, er kannte den Chinesen dann doch etwas besser als gedacht. Aber schon im nächsten Moment kamen seine Zuversicht und auch sein Lächeln ins Stolpern; zum wiederholten Male konnte er seinen Augen nicht trauen. Rens Mundwinkel hoben sich ganz leicht, kaum merklich und wenn er den Chinesen nicht kennen würde, hätte er es auch nicht als solches erkannt. Doch tatsächlich - Ren lächelte. Und er sah so… zufrieden aus? Noch bevor er diesen Anblick gänzlich erfassen und deuten konnte – am liebsten hätte er ihn in sein Gedächtnis eingraviert - war der Tao jedoch schon aufgestanden und auf dem Weg zur Tür. „Warte mal… wo gehst du denn hin?“ „Runter. Soll ich dir etwas zu essen besorgen?“ Ren wandte sich nicht um. Horo zögerte kurz. „… Nein.“ Warum ging er denn jetzt so abrupt? Ob er ihm zu nah gekommen war? „Dann schlaf jetzt. Du hast immer noch viel zu hohes Fieber.“ Und damit war er auch schon zur Tür hinaus. Ren hatte ihn keines weiteren Blickes gewürdigt. Horo lehnte sich zurück ins Kissen, ließ die Tür dabei jedoch nicht aus den Augen. Hatte er es sich nur eingebildet, dass Ren gelächelt hatte? Dass er sich darüber gefreut hatte, dass sie Freunde waren? Immerhin war sein rascher Abgang genau das, was man von dem großen, erhabenen Tao kannte. Kühl, abweisend und ohne sich noch einmal umzusehen. Wäre da nicht diese Fürsorge in seiner Stimme gewesen, die er wohl nicht hatte unterdrücken können. Perplex und verwirrt blieb Horo nun zurück, allein. Konnte es sein, dass es Ren einfach peinlich gewesen war? Wohl eher nicht, denn das vertuschte er für gewöhnlich etwas aufbrausender; das hatte Horo während des Turniers ja bereits bis zum bitteren Ende ausgereizt. Er wusste nicht, was er glauben sollte. Doch mit einer Sache hatte Ren definitiv recht, sein Fieber war noch viel zu hoch. Aber ob seine Wahrnehmung so sehr davon beeinträchtigt wurde? Und was hatte dieses Fieber wohl noch so alles angerichtet? Ganz bei Sinnen konnte er nicht gewesen sein, wenn er darüber nachdachte, wie er sich verhalten hatte. Und diese verdammten Kopfschmerzen… Wie schlimm war sein vorangegangener Konflikt mit Ren wirklich gewesen? Dessen Reaktion nach zu urteilen, musste er maßlos übertrieben haben. Und wie lang hatte er Ren umarmt? Es hatte sich nur nach wenigen Sekunden angefühlt, aber wie aussagekräftig war das? Immerhin hatte er es genossen, Ren so nahe zu sein. Was, wenn er ihn viel länger belagert hatte? Wenn er Ren damit bedrängt hätte? Doch wem machte er etwas vor, für Ren konnte es nichts anderes als eine Belästigung gewesen sein und bestimmt hatte es sich für ihn wie eine Unendlichkeit angefühlt. Vielleicht sollte ich bei Gelegenheit die anderen fragen, ob ich mir in irgendeinem Moment den Kopf heftig gestoßen habe, als ich bewusstlos war… Horos Gedanken überschlugen sich und an Ruhe war nicht zu denken. Wenn es für Ren so unangenehm war, wäre er dann nicht schon viel eher gegangen? Hätte er sich dann nicht gewehrt oder war es einfach Mitleid? Ren und Mitleid?! Horo war sich nicht einmal sicher, ob es nicht seine eigene Temperatur gewesen war, die er gespürt hatte, doch er hätte schwören können, dass sich Ren ziemlich warm angefühlt hatte, als er ihn umarmt hatte. Ob da die Wut in ihm hochgekocht war? Nein, dafür hatte Ren zu gelassen reagiert. Was war es dann, dass Ren so plötzlich aus dem Zimmer getrieben hatte? Es kam Horo fast so vor, als wäre der Tao geflohen. Immerhin hasste er ihn nicht. Aber machte sie das auch zu Freunden? Ren war die Frage sichtlich schwergefallen, doch es musste ihn zu sehr beschäftigt haben, sodass er letztendlich sogar seinen Stolz beiseitegeschoben hatte. Eine Frage, die ihm auch damals im Schnee nicht losgelassen hatte. Er hatte sich über Stunden hinweg darüber den Kopf zerbrochen, während er die Schneeflocken beobachtet hatte. War ihr Verhältnis zueinander wirklich so schwierig? Es passierte ihm doch sonst nicht, dass er seine Freundschaften hinterfragte. Selbstverständlich waren sie Freunde. Sie hatten so viel erlebt, sie hatten so viel gemeinsam durchgestanden. Also was sollten sie sonst sein, wenn nicht Freunde? Horo wusste, welche Antwort er sich auf diese Frage wünschte, doch für den Moment genügte es ihm endlich die Sicherheit zu haben, dass Ren ihn immerhin tatsächlich auch als Freund sah. Auch, wenn er nichts dazu gesagt hatte, Horo wusste es, ansonsten hätte der Tao nicht gefragt – oder anschließend geschwiegen. Ren hätte es ihn sofort wissen lassen, wenn er da anderer Ansicht wäre. Horo entschied sich, zu verdrängen, dass er Ren aus dem Zimmer werfen wollte. Generell schob er alle störenden Erinnerungen von gerade eben beiseite. Er wusste immer noch nicht, was in ihn gefahren war. Doch so sehr er sich auch über ihr ungewöhnliches Gespräch freute, so fühlte er trotz allem das Stechen in seiner Brust, welches ihn schon sehr lange begleitete. Sie waren Freunde. Nur Freunde. Er sollte sich freuen - und im Grunde tat er das auch. Wirklich. Doch war da eben auch diese andere Sache. Diese Sache, die ihm ganz schön zu schaffen machte. Diese Sache, die er Ren niemals sagen könnte. Er würde diese Freundschaft nicht riskieren, er würde nicht kaputt machen, wofür sie so gekämpft hatten. Und dennoch konnte er nicht umhin, sich für diesen einen Moment der Last auf seiner Brust zu ergeben und die Traurigkeit, die er fühlte, die Freude überwiegen zu lassen. Hoffentlich lag es nur daran, dass er krank war, dass er sich so wenig unter Kontrolle hatte und seine Gefühle mit ihm Achterbahn fuhren. Er würde sich die kommenden Tage besser zusammenreißen müssen. ~~O~~ Ren verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. So fühlt sich also Kontrollverlust an. Leise schlich er den Flur Richtung Treppe entlang, hörte das widerwillige Knarzen des alten Holzbodens, das seine Schritte im gesamten Haus widerhallen ließ. Erst recht, wenn alle ausgeflogen und es entgegen des sonst so lebendigen Treibens im gesamten Gebäude nahezu unheimlich still war. Wann immer er im Asakura Haus zu Besuch war, hatte er das Gefühl, hören zu können, wie das Anwesen noch älter wurde. Er stoppte am Absatz der Treppe, lehnte sich vorsichtig und darum bemüht, sich nicht unkontrolliert gegen sie fallen zu lassen, an die Wand und holte tief Luft. Seine Knie gaben langsam nach und er ließ sich an der Wand auf den Boden gleiten, während der Sauerstoff erschöpft seinen Lungen entwich. Das war knapp, viel zu knapp. Beinahe wären Worte von seinen Lippen gefallen, die er im Nachhinein bitter bereut hätte. Dinge, die er für sich behalten wollte und die er mit niemanden teilen konnte. Denn in diesem Fall wäre es mit der Freundschaft gewiss schnell wieder vorbei gewesen. Wieso hatte er Horo überhaupt gefragt, ob sie Freunde waren? Wieso war er so sentimental geworden? Obwohl er nicht leugnen konnte, dass Horo das Fieber – oder was auch immer - auch ganz schön zugesetzt hatte. Irgendwie war Horo auch alles etwas zu Kopf gestiegen. Das war doch Irrsinn; er sollte aufhören, sich über so unnötige Dinge Gedanken zu machen. Es war ohnehin völlig irrelevant, wenn man bedachte, dass etwas derartiges niemals passieren würde. Sobald das Turnier vergessen wäre und Anna sie alle aus dem Haus haben wollte, würden sie ohnehin wieder getrennte Wege gehen. Vielleicht würde er nach China zurückkehren. Wahrscheinlich musste er das sogar. Doch so sehr er es sich bemühte, er bekam seine Gedanken nicht in den Griff und sie kreisten weiterhin stur um den Ainu. Wenigstens schien es ihm besser zu gehen, was für ein Glück. Dieses Mal hatte der Schneekopf es echt übertrieben und sie alle hatten sich Sorgen gemacht. Aber das war keine Entschuldigung dafür, dass er sich nicht besser unter Kontrolle hatte. Rens Muskeln verspannten sich, er spürte, wie der Frust und die Verärgerung über sich selbst langsam in seine Glieder wanderten und seinen Geist vollständig einnahmen. Er würde sich für die nächste Zeit etwas überlegen müssen, um dem entgegenzuwirken, sollte das nicht besser werden. So konnte er Horo nicht gegenüber treten und erst recht sollte er in diesem Zustand mit niemanden ins Gespräch kommen – schon gar nicht mit Horo. Auf der anderen Seite hatte es sich richtig angefühlt, ihn nicht allein lassen und er war die ganze Zeit über bei ihm geblieben. Wieder erinnerte Ren sich an Horo, der langsam seine Arme um ihn gelegt hatte, ihm so unsäglich nahe gekommen war. Ren hatte gespürt, wie die Wärme in ihm aufgestiegen war, bestimmt war er auch noch rot geworden. Großartig. Er konnte nur hoffen, dass es nicht aufgefallen war. Ren flehte innerlich, dass Anna recht behalten würde. Dass er sich nur etwas ausruhen und eine Pause machen musste. Vielleicht hätte er dann einen klareren Kopf und vielleicht brachte das seine Selbstbeherrschung zurück. Ren hörte, wie sich die Haustüre öffnete und Schritte über den Boden hallten. Yo verkündete mit seiner gewohnt entspannten und fröhlichen Stimme ihre Rückkehr und augenblicklich füllten sich die alten Wände mit Leben - sollte ihm recht sein. Das rege Treiben könnte ihn auf andere Gedanken bringen und unter Umständen konnte er sich sogar genug ablenken, um sich etwas zu entspannen. Der alte Holzboden war ein zuverlässiger Verbündeter, denn er auch diesmal kündigten seine knarzenden Geräusche die Itako an, bevor sie die oberste Stufe erreichte. Anna bemerkte sofort, wie erschöpft er war. Ob er sich nun endlich eine Pause gönnen und Schlaf nachholen würde? Sie schnaubte innerlich, er würde schon selbst wissen müssen, was gut für ihn war. Auf sie hatte er ja nicht hören wollen, also musste er wohl fühlen, was er davon hatte. Sie ging ohne Umschweife und ohne Ren weiter zu beachten auf das Zimmer zu, in welchem sich Horo befand. „Er schläft.“ Zumindest sollte er das. „Ich hatte schon gedacht, du wärst eingeschlafen.“ „Ich bin nicht müde.“ „Natürlich.“ Doch da musste Ren sich schon etwas besseres einfallen lassen, wenn er die Itako davon überzeugen wollte. Nicht nur, dass er auf fast schon bemitleidenswerte Weise am Boden saß, sie konnte sogar an seiner Stimme hören, wie abgekämpft er war. „Er wollte nichts, falls du ihn das fragen willst.“ „Tu uns allen einen Gefallen und geh ins Bett, Ren. Du bist erschöpft.“ „Nicht nötig, mir geht es gut.“ „Jetzt.“, Ren hatte Anna nicht direkt angesehen, aber er hörte ganz deutlich diesen gefährlichen, aggressiven Unterton. Es war Annas Art, ihnen allen klarzumachen, dass man ihrer Aufforderung besser Folge leistete; ihr letztes Wort in dieser Angelegenheit. Exempel, was bei Widerspruch passierte, hatte Anna an Yo bereits zur Genüge statuiert. Und außerdem hatte sie recht…wohl oder übel. Träge stand er auf und schleppte sich wortlos in das Gästezimmer, das er zeitweilen für sich beansprucht hatte. Er war froh, sich damals vehement dagegen gewehrt zu haben, das Zimmer mit jemanden zu teilen. Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, entledigte er sich der nötigsten Kleidung und legte sich auf das Futonbett. Die zuvor ordentlich gefaltete Decke zog er sich bis tief ins Gesicht. Er war nur wenige Augenblicke später eingeschlafen. ~~O~~ Es war eine unerträgliche sengende Hitze, die seinen ganzen Körper vereinnahmte und ihn letztendlich aus dem Schlaf holte. Er schwitzte. Er hatte sich doch nicht etwa angesteckt? Einen Moment blieb er liegen, fokussierte sich auf die glühende Hitze in seinen Gliedern und den feinen Schweißfilm auf seiner Haut. Er konnte sich zwar nicht mehr daran erinnern, wie es sich anfühlte, krank zu sein, aber das hier war etwas anderes; er war nicht krank – völlig ausgeschlossen, oder? Langsam hob er seine Lider und blinzelte angestrengt gegen die Helligkeit an, bis sich seine Sicht klärte; diese und auch seine Gedanken. Er spürte unterschwellig seine Erleichterung, als er sich einen Überblick über die Lage verschaffte. Er war wirklich nicht krank. Er lag mitten im Schein der Sonne. In Kombination mit der Heizung und der Decke über ihm konnte er nur schwitzen. Zum einen war er erleichtert, aber diese Hitze und die fast schon belästigenden Sonnenstrahlen auf ihm störten ihn. Was Ren an der ganzen Situation aber wirklich Unbehagen bereitete, war die Feststellung, dass die Sonne bereits hoch am Himmel stand. Das konnte unmöglich sein, dass ihm das passiert war, er stand doch immer früh auf. Sein Tagesablauf, sein Rhythmus, einfach alles begann in den frühen Morgenstunden – da stand keine Sonne hoch am Himmel. Wie lange hatte er denn geschlafen?! Das gefiel ihm gar nicht. Mit Schwung entledigte er sich der Decke, griff nach seinem Handtuch und frischen Sachen und trottete ins Bad. Eine Dusche würde ihm guttun - am besten kalt. Danach würde er weitersehen. Wie spät es war, wie lange er geschlafen hatte, wo der Rest der Meute war und… Horo. Aber zuerst die kalte Dusche, er musste dringend etwas gegen diese Hitze unternehmen und seine Gedanken abkühlen. Nur kurze Zeit später stieg er mit klarem Kopf und deutlich entspannteren Muskeln die Treppen hinab. Er merkte, wie die Ruhe und auch das kühle Wasser dazu beigetragen hatten, dass er endlich wieder er selbst war. Bereits auf dem Weg nach unten hörte er Yos entschuldigendes Lachen und hilfesuchende Erklärungen, um sich woraus-auch-immer herauszureden. Er musste die Szene nicht sehen, um zu wissen, dass Anna erzürnt vor ihm stand und ihm entweder gleich die Leviten lesen würde oder das vielleicht sogar schon getan hatte. Die Frau hatte den armen Kerl echt im Griff und zu Rens Widerwillen musste er zugeben, dass er selbst auch kein Bedürfnis danach hatte, sich mit der Itako anzulegen. Unten angekommen fand er schnell Anna und Yo in exakt der Situation, die er bereits erahnt hatte. Es wäre das Beste, wenn er einfach wortlos an ihnen vorbei zum Kühlschrank ging, sich etwas Milch herausholte und hoffte, nicht weiter involviert zu werden. Was Anna mit Yo vorhatte ging ihn auch gar nichts an. Doch bevor Ren diesen Plan in die Tat umsetzen konnte, zog etwas ganz anderes seine Aufmerksamkeit auf sich. Er hielt in seiner Bewegung inne und lugte verwundert, aber auch neugierig aus den Augenwinkeln zur Seite. Mit diesem Anblick hatte er bei Weitem nicht gerechnet. Nicht etwas, sondern jemand war in den Fokus seines Sichtfeldes gerückt. „Na, du Schlafmütze? Lässt du dich auch mal wieder blicken?!“, Horohoro grinste Ren bis über beide Ohren an und erfreute sich sichtlich darüber, den Chinesen etwas aufziehen zu können. Mit Anna, die ihm zornig dazwischenfunkte und ihn genau wie Yo blitzschnell zurechtwies, hatte er jedoch nicht gerechnet. „Sei du bloß still! Wegen wem war er denn so kaputt?! Du kannst gleich wieder ins Bett gehen, Horo!“ Also bitte, ich war doch nicht kaputt! Doch Ren entschied sich, nichts dazu zu sagen. Diesen Sturm würde er an sich vorbei ziehen lassen. Anna stand mit verschränkten Armen vor Horo und Yo, die kleinlaut auf ihren Stühlen zusammengesunken waren und allem Anschein nach nur darauf hofften, Annas Groll doch noch irgendwie entgehen zu können. Mit irgendetwas schienen sie die junge Frau ordentlich verärgert zu haben. Entgegen seiner Hoffnung wandte sie sich nun doch Ren zu, der immer noch am Fuße der Treppe verharrte und gerade ansetzen wollte, sich an den Versammelten leise vorbei zu manövrieren. „Hast du vor, den ganzen Tag dort zu stehen, oder kommst du heute noch mal in die Gänge?“. Skeptisch hob sich seine Augenbraue, denn er misstraute einerseits der Situation und vor allem Annas Laune. Die Verwunderung und Erleichterung, Horohoro hier fröhlich sitzen zu sehen, überspielte er gekonnt. „Nein, ich wollte nur etwas essen.“, widersprach er ruhig und kühl. Seine gewohnte Ignoranz und Abweisung unterstrichen seine Antwort wortlos. Wenn Anna jemanden ärgern wollte, dann war er heute nicht ihr Ansprechpartner. Er würde sich zusammenreißen; er würde hundert Prozent Ren Tao sein. „Na so was?!“, und auch diese Anspielung verstand er nur zu gut, atmete jedoch nur tief ein und ging schweigend an Anna vorbei. Ohne Eile holte er eine Packung Milch aus dem Kühlschrank, setzte sich gelassen auf einen der freien Plätze und machte sich daran, das angeheftete Trinkröhrchen in sein Getränk zu stechen. „Ja.“ Heute würde er sich auch von Anna nicht reizen lassen. Anna, die auf sie alle Acht gab. Anna, die im Haus für Ordnung sorgte. Anna, die zu viel wusste. Und das war der springende Punkt: Ren vermutete stark, dass Anna ihn voll und ganz durchschaut hatte. Auch, wenn sie es niemanden erzählen würde, es ging ihm gegen den Strich. Und wer sagte, dass die Itako dieses Wissen nicht unter Umständen gegen ihn verwenden würde, um ihren Willen zu bekommen? Zuzutrauen wäre es ihr. „Gibt es einen Grund dafür, dass du so wütend bist?“ „Ich bin nicht wütend, ich habe es eilig. Aber ich werde hier aufgehalten“ Und schon wanderten Annas dunkle Iriden wieder zu Yo, der noch weiter auf seinem Platz zusammensank. „Wie dem auch sei“, ihre Stimme war eiskalt; sie machte eine kurze Pause, dann: „Ich muss jetzt los. Denkt nicht, dass wir hier fertig sind.“ Yo und Horo schluckten bei Annas gefährlich geraunten Worten. Wenn sie nur mit ihren Blicken töten könnte, dann hätten wir alle ein Problem, schoss es Ren durch den Kopf, als Anna den Raum verließ. „Eilig?“, er sah abwartend zu Yo und trank dabei gemächlich seine Milch, während er versuchte die Situation einzuordnen. Offensichtlich hatte er viel zu lange geschlafen, Yo hatte Annas Missgunst auf sich gezogen und Horo, der eigentlich krank im Bett liegen müsste, saß hier unten mit ihnen fröhlich lächelnd am Tisch. Und seit wann war die Itako eigentlich jemals in Eile? Normalerweise gab doch sie das Tempo und den Zeitplan vor. „Ach, Anna trifft sich heute mit Silver, um irgendetwas zu besprechen. Nichts Wichtiges... denke ich.“, winkte Yo entspannt ab, gähnte und ergänzte nochmals ein ‚Hoffe ich‘ als er die Situation nochmals überdacht hatte. „Hm. Und was machst du hier?“, Ren wandte sich demonstrativ Horohoro zu und beäugte ihn kritisch. Was machte dieser Spinner hier unten, ging es ihm denn tatsächlich schon wieder so gut? Und das in weniger als einem einzigen Tag? Oder… Wie lange hatte er selbst denn geschlafen?! Nein, das war völlig ausgeschlossen. Er hatte sich nur hingelegt, da konnte er nie und nimmer mehr als einen Tag verpasst haben. Der Ainu musste über abnormale Regenerierungskräfte verfügen, wenn seine Genesung innerhalb einer Nacht einen Sprung von Tagen machte. Es war zwar schwer vorstellbar, aber letztendlich waren sie noch immer Shamanen und keine gewöhnlichen Jungs. Und da saß er nun vor ihm, der Shamane, der von seinem eigenen Element krank wurde, und grinste ihn breit an. „Na, ich esse.“ „Ich meine, wieso du nicht im Bett bist?!“ „Was? Hast du ein Problem damit?“ Ren entschied sich dafür, nicht auf Horos Provokation einzugehen. Davon hatte er nichts und sich mit Horo über dessen Gesundheit zu streiten war nicht unbedingt das, was er sich unter seinem Vorsatz, ganz er selbst zu sein, vorgestellt hatte. „Nein, schon gut.“, winkte er also abweisend ab. Er bemerkte, wie Horo enttäuscht das Gesicht verzog. Vermutlich hatte er gehofft, mit seinen Neckereien bei ihm einen Nerv zu treffen, aber da musste Ren ihn enttäuschen. So leicht würde das dieses Mal nicht funktionieren. „Das hast du schon mal gesagt!“, Horo wusste nicht recht, wie er sich ausdrücken sollte. Wie er klar machen sollte, dass ihn Rens Zurückweisung härter traf, als er zugeben wollte. Diese Worte brachten ihn zurück zu den Moment, als Ren die exakt gleichen Worte benutzte, um seine stählerne Rüstung fallen zu lassen. Doch jetzt nutzte er sie für nichts anderes, als mit ihnen seinen Panzer doppelt so stark wieder zu errichten. Vielleicht lag es auch einfach daran, wie Ren es gesagt hatte; mit einer fast vernichtenden Abweisung – wie früher. Dennoch… Schon gut. Dass Ren jetzt die gleichen Worte benutzte, wie in dem Moment, als er Horo nähergekommen und bei ihm gewesen war, löste etwas in ihm aus. Die gleichen Worte, als Horo ihm näher gekommen war. Als er nahbar wurde, menschlich. Nicht, dass Ren ein Unmensch war, aber er war nicht leicht zu erreichen. Es war schwer, durch seine Rüstung zu gelangen. Und jetzt wies er ihn mit den gleichen Worten zurück, die er vor nicht allzu Langem benutzt hatte, um sich zu versöhnen und ihn zu beruhigen. Horo war klar, dass das Schwachsinn war, dass man manche Worte und Ausdrücke einfach benutzte. Und trotzdem kam er nicht umhin, sich in dieser Situation unwohl zu wühlen. „Was?“ Horohoro schalt sich innerlich, als Ren ihn nur skeptisch ansah. Natürlich wusste Ren nicht, wovon er sprach, immerhin konnte er keine Gedanken lesen – zum Glück. „...ach nichts.“ Ob er es wohl noch immer auf das Fieber schieben konnte? „Hm.“ Horo sah zu, wie Ren sich wieder abwandte und das Trinkröhrchen erneut an seine Lippen führte. Missmutig schnaufte Horo, während er sich nach hinten lehnte. Er sollte aufpassen, was er sagte. Auch, wenn er darin noch nie gut gewesen war. Er konnte nicht alles in sich hineinfressen und mit sich selbst ausmachen. Dafür war er nicht der Typ. Außerdem waren seine Freunde ihm zu sehr ans Herz gewachsen und auch das trug er für gewöhnlich auf der Zunge. „Ach so, Ren“ Yo, der bis jetzt nur ganz entspannt am Tisch gesessen und sich seiner Musik gewidmet hatte, unterbrach die Stille. „Wir haben dir heute Mittag auch etwas übriggelassen, es steht da hinten.“ Yo zeigte auf eine abgedeckte Schale während er aufstand, „Ich hau mich dann mal hin, solange Anna nicht da ist. Bis dann!“. Er grinste noch kurz und hob die Hand zum Gruß. Ihnen allen war klar, dass Yo es in vollen Zügen ausnutzte, wenn Anna außer Haus war und ihm somit Zeit zum Nichtstun vergönnt war. Ren stand kurzerhand auf und wärmte sich das Essen auf. Wenn sie es schon extra für ihn beiseitegestellt hatten, dann sollte er das auch zu schätzen wissen. Und abgesehen davon war er tatsächlich hungrig, immerhin war seit gestern sein Magen leer geblieben. Das würde er ändern und sich danach aus der Gefahrenzone – Horos Gesellschaft - entfernen. Vor allem, wenn es dem Ainu ohnehin schon viel besser ging. Es dauerte nicht lange, bis er vor einer dampfenden Mahlzeit saß. Spätestens jetzt konnte er das Grummeln seines Magens nicht mehr leugnen und begann sich dem Essen zu widmen, bevor noch jemand sein Magenknurren mitbekommen konnte. Horohoro rührte sich in der Zwischenzeit nicht von der Stelle. Gleichzeitig in Gedanken vertieft und unbewusst Ren beobachtend entging ihm, dass Ren mit jeder weiteren Minute dessen Blicke mehr und mehr registrierte und sich dessen Geduldsfaden zunehmend spannte. „Hab ich was im Gesicht!?“ „Eh was?“, Angesprochener wich etwas zurück und blinzelte Ren verwirrt an, „Nein, wieso?“ „Weil du mich anstarrst.“ Stille. Horo verfluchte sich innerlich. Er hatte nicht bemerkt, dass er Ren so offensichtlich angestiert hatte. Verdammt, das hatte ihm noch gefehlt. Ob er versuchen sollte, sich irgendwie aus der Sache herauszureden? Dass er ihn nicht anstarren wollte und einfach nur voll und ganz in Gedanken versunken war. Dass sich eben diese nur um Ren drehten… nein, er sollte besser den Mund halten. Seine Argumentation hatte deutliche Schwachstellen. Nein – im Grunde war seine Argumentation im Allgemeinen seine Schwachstelle. Und auch, wenn es da dieses kleine, rebellische Stimmchen in seinem Kopf gab, er würde den Mund halten. Kein Wort würde Ren gegenüber diesbezüglich seine Lippen verlassen. „Also?“ „Nichts! Es ist nichts“ Er lachte verlegen und hoffte, dass der Tao ihm seinen Täuschungsversuch abkaufen würde. Oder zumindest einfach nicht weiter darüber nachdachte – und das war nicht allzu unwahrscheinlich. Ren, der gerade den letzten Bissen seines späten Mittagessens schluckte, stand ohne zu zögern auf und kümmerte sich um das Geschirr. Es gab für ihn keinen Grund, noch länger hier sitzen zu bleiben und worüber sollte er auch mit Horo reden? Am liebsten wäre es ihm, wenn der Ainu sich einfach wieder ins Bett legen und ausruhen würde. Er konnte einfach nicht glauben, dass Horohoro sich wirklich so schnell erholt haben sollte. Aber darauf hatte er sowieso keinen Einfluss, also konnte er auch gehen. „Hey! Warte doch mal, wo gehts du hin?“ Sichtlich verwirrt und auch überrumpelt wollte Horo wissen, wohin Ren so eilig verschwinden wollte. Er sollte sich zwar nicht so sehr an Ren klammern, aber alleine zurückzubleiben gefiel ihm auch nicht. Und Ren nach seinen Plänen zu fragen sollte unkritisch sein, denn womit sollte er sich dabei schon verraten? Er fiel ihm damit nicht gleich um den Hals, so gestern. Gestern, als er so mir nichts dir nichts alle Grenzen, die je zwischen Ren und ihm existiert hatten, ignoriert und ihn umarmte hatte. Ob er zu weit gegangen war? Ren hatte relativ ruhig reagiert, um nicht zu sagen sanft. Aber entspannt war dieser gewiss auch nicht gewesen und jetzt hatte er eindeutig wieder ganz den alten Ren vor sich – so wie sie ihn alle kennen und lie- mögen gelernt hatten. Er würde wohl lieber auf Abstand gehen, um sich nicht unnötig mit Ren zu streiten. Das hörte sich nach einem Plan an. „Spazieren.“ „Kann ich mitkommen?“ Horo wusste es, er war ein unverbesserlicher Idiot. So viel dazu, Abstand zu halten. „Du bist noch krank.“ „Ich fühl mich schon viel besser!“ Er grinste Ren überzeugend an, immerhin war die Antwort des Chinesen kein ‚Nein‘ gewesen. Horo wusste, er stapfte fröhlich grinsend direkt in seinen Untergang… „Damit ist nicht zu spaßen.“ Wenn Ren wüsste, wie recht er damit hat. „Komm schon, hab dich nicht so!“ … Und bettelte sogar noch darum. Ren sah Horo ein paar Augenblicke nachdenklich an und zögerte mit seiner Antwort. Anna würde ihn umbringen, wenn sie das erfuhr. Auf der anderen Seite war er nicht Horos Aufpasser, der ihn zu irgendetwas zwingen konnte; der Kerl musste schon auf sich selbst achten. Das war nicht seine Verantwortung. „Na schön, dann komm mit. Aber zieh dich ordentlich an!“. Erspare mir wenigstens dieses eine Mal die…Unannehmlichkeiten, fügte Ren gedanklich hinzu, da er sich bei der ganzen Sache unwohl fühlte. Er hatte keine Lust, Horo noch einmal mit Fieber ins Bett hieven zu müssen. Spätestens dann würde er sich nämlich auch mit Anna auseinandersetzen müssen… „Klar!“ ~~O~~ Ren und Horo wanderten einen etwas abgelegenen, verschneiten Wiesenweg entlang. Dick eingepackt und gewappnet mit Schal und Handschuhen beobachteten sie die Umgebung. Der Schnee glänzte im Sonnenschein und es war weit und breit kein Geräusch zuhören; außer das ihrer Füße, die durch das gefrorene Nass stapften. Ren genoss die wärmenden Strahlen auf seiner Haut; er hielt nicht viel von Kälte. Unauffällig schielte er zur Seite zu Horo. Er hatte ein seltsames Gefühl, denn Horo war bereits schon eine ganze Weile ungewöhnlich still. So kannte er ihn nicht. Sie hatten tatsächlich die ganze Zeit über noch kein Wort miteinander gesprochen. Es lag eine merkwürdige Stimmung in der Luft und Ren wusste, dass sein Mangel an Interaktion nicht der einzige Grund war. Zu seiner Verwunderung war selbst ihm die Stille unangenehm, aber er gehörte nicht zu den Personen, die verzweifelt einfach irgendein Gespräch anfingen. Was sollte er auch sagen? Es gab nichts, was er mit Horo besprechen wollte. Nein, es gab nichts, was er mit Horo besprechen sollte. Und vielleicht war auch das der Grund, warum Ren eine Konversation mied. Aber was war mit Horo? Ob ihn etwas plagte? Ren entschied sich jedoch, nicht nachzufragen, obwohl er Horo aus den Augenwinkeln unverwandt beobachtete. Er hatte nicht vor, ihn so offensichtlich anzustarren, wie Horo es zuvor bei ihm getan hatte. Aber er würde nicht noch einmal riskieren, seine Augen von ihm zu nehmen und ihn danach aus dem Schnee fischen zu müssen. „Sieh mal, Ren! Ein Schneehase!“, Ren zuckte zusammen, als ihn Horo plötzlich am Arm griff und voller Freude mit sich zog, sodass er nicht nur gezwungen war, in die gewünschte Richtung zu schauen, sondern ihr auch noch entgegen stolperte. „Siehst du ihn?“ „Hm.“ Natürlich sah er ihn, nur was sollte er mit dem blöden Vieh anfangen? Was ihn viel mehr beschäftigte, war die Nähe, die Horo so plötzlich durch diese Aktion geschaffen hatte. Da dieser seinen Arm fest in Beschlag genommen und ihn auch noch fast aus dem Gleichgewicht gebracht hatte, war es jedoch gar nicht so leicht, einen Schritt zurückzuweichen. Nicht, ohne Horo dabei vor den Kopf zu stoßen. „Ist das nicht toll? Ich hätte nicht gedacht, dass wir hier einen sehen würden!“ Er grinste breit. Horo hätte Ren mit seiner Freude fast mitgerissen, fast hätte er reagiert. Fast hätte er sich von Horos echter und unschuldiger Begeisterung anstecken lassen; wenn er nicht Ren und dem Ainu nicht viel zu nahe wäre. Wenn er nicht so sehr mit seinem inneren Zwiespalt beschäftigt wäre. „Da ist ja sogar noch einer! Siehst du ihn auch?“ „Ich bin nicht blind, Horo!“ Damit befreite er sich aus dessen Griff und schaffte sich etwas Abstand. Er hatte jedoch auch gleichzeitig Horohoros Enttäuschung gesehen. Und gespürt. Ren fragte sich, ob Horo nicht besser mit Yo hätte rausgehen sollen, wenn er sich so dringend bewegen wollte. Yo hätte sich bestimmt dazu breitschlagen lassen, mit ihm zusammen durch den Schnee zu stapfen. Oder was auch immer der Grund für Horos Drang war, spazieren zu gehen. Er selbst hatte den Spaziergang nur als Ausrede nutzen wollen, um etwas Abstand zu dem Ainu zu bekommen und sich darauf zu konzentrieren, seine Deckung wieder aufzurichten. Auf diese Kälte hatte er eigentlich überhaupt keine Lust gehabt, sie jedoch als einzige Fluchtmöglichkeit gesehen. Hätte er gewusst, dass selbst Krankheit den Schneemann nicht aufhielt… innerlich schnaubte er. Sein Stolz hatte es ihm verboten, vor Horo den Plan kurzfristig zu ändern und einen Rückzieher zu machen. Und jetzt war er mit Horo spazieren – umgeben von Unmengen Schnee und Kälte. So hatte er sich das wirklich nicht vorgestellt. Noch dazu hatte Ren zu allem Übel auch noch den leichten Schweißfilm auf Horos Haut und sein blasses Gesicht bereits vor mehreren hundert Metern registriert. So viel konnte der Ainu sich bestimmt nicht bewegen wollen. Was machen wir hier? …Was mache ich hier?! Das ist doch bescheuert! „Du hörst dich nicht sehr begeistert an.“ „Was erwartest du?“ Auch wenn es eine rhetorische Frage war; Ren würde zu gerne wissen, was in Horohoro vorging. „Mich begeistert so etwas nicht, ich bin da nicht wie du.“ „Ja… verstehe. ‘Tschuldige.“ Ren konnte sehen, wie Horo sich bedrückt von ihm abwandte und seinen Blick auf die kleinen weißen Tiere in der Ferne richtete. Irgendwie steckte mehr hinter Horos Trübsal als nur die Ernüchterung darüber, dass er ihn nicht von den Hasen begeistern konnte. Ren musste sich eingestehen, dass Horo mit seiner traurigen Miene und dem blassen Gesicht zwei sehr gute Karten in seinem Deck hatte. Skeptisch hob er eine Augenbraue, begutachtete erst den Ainu, dann die Hasen. „Rückst du heute noch mit der Sprache raus?“ „Hm? Was? Was meinst du?“ Als Horo sich zurück zu Ren drehte, verschränkte dieser abwartend und gleichzeitig auffordernd die Arme vor der Brust. Horo wusste, dass das die Antwort auf seine Frage war und alles sein würde, was Ren als Reaktion anbieten würde. Aber wem machte er etwas vor, er wusste, worauf Ren hinauswollte. Er wusste, dass sein Verhalten ausreichend Raum für Verdacht jeglicher Art gelassen hatte. Unwillkürlich musste er lächeln, Ren kannte ihn zu gut. Doch wie sollte er ihm diese Frage nur beantworten? Er konnte ihm unmöglich sagen, was genau ihn so beschäftigte. „In meiner Heimat wimmelt es nur von Schneehasen. Es ist ganz normal, die Natur so um sich zu haben. Hier ist das anders, die Stadt ist nicht weit entfernt und die Felder und Wälder sind nicht ungestört. Man sieht kaum Tiere, die sich aus ihren Löchern trauen. Doch da sind zwei Schneehasen, die man eigentlich selbst im Winter hier in der Umgebung kaum zu sehen bekommt.“ „Vermisst du dein Dorf?“ Horo überlegte kurz. Wie sollte er das erklären? Natürlich vermisste er sein Dorf und die Menschen, die seine Familie waren. Und am liebsten würde er auf der Stelle aufbrechen und Mittel und Wege suchen, seinen Traum umsetzen zu können. Um all die kleinen Kreaturen zu retten, die ihm ans Herz gewachsen waren. Auf der anderen Seite wollte er aber auch hierbleiben. Hier waren seine Freunde, Gefährten, mit denen er gekämpft hatte. Menschen und Geister, mit denen er so viel erlebt und vor allem auch gelacht hatte. Und dann gab es noch Ren… „Ich weiß es nicht. Manchmal. Ich hab mich gerade einfach so gefreut, etwas Vertrautes zu sehen, etwas aus meiner Heimat. Und irgendwie… na ja, für einen Moment dachte ich wohl, dass… na ja, dass ich das mit dir teilen wollte. Du bist ja auch nicht von hier und weit weg von Zuhause, da hab ich… nun ja…“ Horo haderte mit sich selbst. Und obwohl er es nicht schaffte, Rens Blick standzuhalten, hatte er das Gefühl, dass sich Rens Haltung gelockert hatte. „Du hast es doch gesehen. Wo ich herkomme.“ Es fiel Ren schwer, Horo zu folgen. Der Ainu hatte seine Familienverhältnisse doch erlebt?! „Ich weiß. Keine Schneehasen, das ist mir schon klar. Wahrscheinlich kannst du damit rein gar nichts anfangen… Nur in dem Moment… weiß nicht.“ Horo stammelte vor sich hin und spürte den Rotschimmer auf seinen Wangen. Natürlich war ihm bewusst, dass Ren mit diesen Tieren nichts am Hut hatte. Es war nur für diesen einen Moment, in dem er sich so sehr darüber gefreut hatte, dass er es einfach mit Ren teilen wollte. „Vermisst du deine Heimat gar nicht? Abgesehen von… du weißt schon.“ „Nein. Früher oder später werde ich zurückkehren müssen und dann gibt es noch Run. Doch mehr ist da nicht.“ Klar und sachlich – wie Horo es nicht anders erwartet, nein, sogar befürchtet hatte. Er hatte nicht erwartet, dass der Tao bei dieser Frage emotional werden würde, doch die eisige Kälte seiner Stimme war auffallend. Ob er in einer Art Wunde gebohrt hatte? Hoffentlich nicht, aber wie sollte man das bei Ren auch wissen? Der Chinese war immer wieder sehr leicht aus der Fassung zu bringen, doch gleichzeitig eine wahrhaft treue Seele; er war wie ein Buch mit sieben Siegeln. Horo atmete geschafft aus, hob seinen Blick und machte sich bereit weiterzugehen. Er konnte schlecht erwarten, dass Ren sich mit ihm noch länger die Hasen ansah – noch dazu, da dieser die Kälte ohnehin nicht ausstehen konnte. Wieso wollte Ren überhaupt raus gehen? Doch weder in seinen Gedanken, noch in seinem Bestreben weiterzugehen, kam er einen Schritt voran. Er schaffte es gerade noch so, erschrocken in seiner Bewegung innezuhalten, bevor er mit Ren zusammenprallen konnte. Das war haarscharf, fast wäre er direkt in Ren reingelaufen. Der Tao hatte seine auffordernde Pose gelöst und kam dem Ainu ebenso einen Schritt entgegen, flink hatte er sich den wärmenden Stoff von der Hand gezogen. Noch bevor Horo reagieren konnte, fühlte er bereits Rens warme Hand auf seinem Gesicht. Die Röte schoss ihm in die Wangen, waren seine Züge doch nur wenige Zentimeter von Rens entfernt. So nah... „Du hast immer noch Fieber, hab ich es mir doch gedacht.“ Doch Ren schien unbeeindruckt. „Wir sollten zusehen, dass wir wieder nach Hause kommen, bevor du auskühlst.“ Und vor allem tadelnd. „So schlimm ist es nicht.“ Damit fing Horo sich allerdings nur einen strafenden Blick seines Begleiters ein. Aber wahrscheinlich hatte Ren recht, vermutlich hatte er es in den letzten Tagen übertrieben. Er spürte, wie Ren den Druck seiner Berührung lockerte und sich die warmen Finger zurückzogen. Jedoch ausschließlich Rens Hand, er selbst blieb an Ort und Stelle und sah Horo fest in die Augen. Horo hielt still, traute sich nicht, sich zu bewegen. Doch er spürte, wie mehr und mehr Blut in seine Wangen schoss. Seit wann scheute Ren die Nähe nicht? Und wieso regte er sich nicht? „Ren?“ Angesprochener reaierte auf seinen Namen, lehnte sich nach hinten und schob auch Horo gleichzeitig sanft von sich. „Hör mal, Ren, wenn ich etwas Falsches gesagt habe, dann-“ „Schon gut, hast du nicht.“ Schon gut… da war es wieder. Wieder genauso behutsam wie am Tag zuvor, nahezu sanft. Horo schüttelte den Kopf, er sollte wirklich aufhören, sich so auf diese Worte zu fokussieren. Ren beäugte ihn nochmals skeptisch, bevor er ergeben seufzte und ein ‚Na schön‘ vor sich hin grummelte. Es wirkte, als hätte der Tao für sich einen Entschluss gefasst – wie gern hätte Horo gewusst, welcher das war. „Wenn du dann Ruhe gibst und mich damit in Frieden lässt?“ Der Ainu legte den Kopf schief, was genau meinte Ren? Mit was Ruhe geben? Was hatte Ren da gerade für sich beschlossen? War er genervt? Horo wusste nicht, was genau er zustimmte, aber er nickte. Es passierte nicht alle Tage, dass Ren ihm etwas anbot oder sich ihm gegenüber vielleicht sogar öffnete. Oder sich überhaupt irgendjemandem anvertraute. „Vermutlich“ Ren ließ seinen Blick suchend über die Schneelandschaft gleiten, streifte sich seinen Handschuh wieder über und nickte in Richtung der Schneehasen, als er sie entdeckte. „Vermutlich habe ich so eine Art Schneehasen, nur in anderer Form. Meine Familie ist nicht…“ Ren stockte, fand nicht die richtigen Worte, mit denen er das beschreiben konnte. Doch Horo hatte es auch so verstanden und nickte leicht. „Ein Zuhause ist, was du daraus machst, Horo.“ Der Ainu war anfänglich Rens Blick gefolgt, sah jedoch schnell wieder zu ihm zurück. „Das kommt ganz darauf an, was dir wichtig ist. Und jetzt lass uns gehen.“ Damit machte der Chinese kehrt und folgte schnellen Schrittes weiter dem schmalen Wiesenweg, auf dem sie sich befanden. Sie würden sicherlich morgen noch hier stehen, würde er sich nicht in Bewegung setzen. Horo, der noch etwas überrumpelt von Rens Worten war, hatte dessen abrupten Aufbruch nur bedingt wahrgenommen und starrte ihm perplex hinterher. Energisch schüttelte er den Kopf, als wolle er seine Starre und Verwunderung abschütteln und eilte Ren nach. Er musste jedoch schnell feststellen, dass ihn der hohe Schnee ausbremste. „Jetzt renn doch nicht gleich weg, warte doch mal!“ „Beeil dich lieber.“ „Mach ich doch schon.“ Bald hatte er seinen Freund eingeholt, jedoch war der kleine Weg viel zu eng, weshalb er beschloss, hinter Ren zu bleiben und nicht an seine Seite zu treten. Schweigend stapften sie durch den Schnee, jeder hing seinen Gedanken nach. Dieses Mal war es Horo, der ihr Schweigen nicht nur als merkwürdig, sondern auch als unangenehm empfand. Er wusste nicht, ob es daran lag, dass er lediglich Rens Rücken beobachten und sein Gesicht nicht sehen konnte. Doch diese Stille war seltsam; dabei hatten sie vor wenigen Minuten noch tatsächlich ein Gespräch geführt, wenn auch ein eher ungewöhnliches. Ren hatte sich zwar gewissermaßen geöffnet, dann aber praktisch augenblicklich die Flucht ergriffen. Und seitdem schwiegen sie. Würden sie das jetzt so weiterführen? Bis zum Anwesen war es bestimmt noch ein ganzes Stück und er hätte darauf wetten können, dass sich Ren auch dort relativ schnell zurückziehen würde. Der Ainu seufzte innerlich. Ihm gingen Rens Worte nicht aus dem Kopf und sie sorgten dafür, dass er noch so viel mehr wissen wollte. Alles was Ren zugegeben hatte, war, dass er anscheinend ein Zuhause für sich selbst bestimmt hatte, einen Ort, an dem er sich wohl fühlte. Aber…was hatte Ren zu seinem Zuhause gemacht… und was brachte ihn dazu, sich zuhause zu fühlen? Natürlich hatte Ren recht, mit dem was er gesagt hatte. Nur verstand Horo nicht, worauf er nun genau hinauswollte. Wer oder was sollten diese Schneehasen darstellen? Er hatte doch gesagt, dass er so etwas hatte – nur in anderer Form. Er konnte sich einfach keinen Reim darauf machen. Horo zögerte, bevor er sich traute, noch einmal nachzufragen. Immerhin wollte Ren, dass er das Thema auf sich beruhen ließe. Aber so konnte er das auf keinen Fall stehen lassen, dafür beschäftigte es ihn zu sehr. Es würde ihn auf Dauer nur verrückt machen. „Meintest du damit Yo, Choco und die anderen?“ „Von was redest du?“ „Von… Na ja, von deiner Vorstellung der Schneehasen.“ „Fängst du schon wieder damit an?“ „Nun sag schon, ich will es doch nur wissen.“ „Horo…“ Ren wollte nicht darüber reden; er wusste einfach nicht, wie er das in Worte packen sollte. Lügen war für ihn auch keine Option, nicht nach allem, was sie jetzt schon gemeinsam erlebt hatten. Er hätte zustimmen können, immerhin waren ihm Yo, Ryu, Choco, Lyserg und der ganze Rest nicht unwichtig. Aber gemeint hatte er jemand anderen und unglücklicherweise passte das mit dem ‚Schnee‘ auch noch sehr gut. „Danach geb ich Ruhe, versprochen.“ Das war auch genau das, was Ren befürchtete. Die Ruhe, nein, das Schweigen danach. „Wenn du mir dann sagst, was bei dir los ist!?“ Er sah Horo auffordernd an und drehte sich vollständig zu ihm um. Natürlich hatte er nicht vergessen, dass Horo es war, der sich zuerst merkwürdig benommen hatte. Der Ainu erschauderte, es lief ihm kalt den Rücken hinab. Mit diesem Konter hatte er nicht gerechnet. Ob es Ren wirklich interessierte? Oder ob er nur beweisen wollte, dass er das Spiel genauso gut beherrschte? Horo schluckte hart; er wusste, er konnte jetzt keinen Rückzieher machen. „Ich...ich… wie soll ich sagen...“ „Schön, fang ich eben an.“ Ren, der versuchte, seine Fassung und vor allem seinen Stolz zu wahren, nahm Horo die Entscheidung nicht nur ab. Er machte ihm auch klar, dass er nicht um eine Antwort herum kam. Diese Situation nervte ihn und er wünschte sich, er hätte Horo vorher einfach konsequenter klargemacht, dass er sich besser ausruhen sollte, dass er zuhause bleiben sollte. Dass dieser ganze Spaziergang eine Scheißidee war. Aber dafür war es zu spät, jetzt standen sie hier und unterhielten sich über irgendwelche Nager. „Ich ziehe es vor, hier zu sein. Wenn von mir nicht erwartet werden würde, nach China zurückzukehren, würde ich vermutlich sogar bleiben. Langfristig betrachtet bringt mir das jedoch nichts.“ Immerhin hatte Horo auch nicht geplant, auf ewig bei Yo und Anna unterzukommen. Und Ren war sich sicher, dass Anna ihrer aller Abreise auf ihre Art und Weise zu unterstützen gedachte. Also was sollte er hier? Ren holte tief Luft, sammelte Mut und schob seinen Stolz ein ganz kleines Stück zur Seite. Wenn er dann endlich Ruhe hatte…und wenigstens hätte er es dann gesagt. „Und der Vergleich mit dem Schneenager“ Er suchte Horos Blick, stellte sicher, dass Horo ihm auch wirklich zuhörte, „der war auf jemand bestimmtes bezogen.“ Den Rotschimmer, der sich auf seine Züge gelegt haben musste, konnte der Tao förmlich spüren, abwenden konnte er sich jetzt jedoch nicht. Sein Drang, Horos Reaktion zu beobachten, überstieg sogar seinen Stolz. Er musste einfach wissen, wie Horo reagierte und was dieser dachte. Horos Miene würde ihm mit angrenzender Sicherheit ohnehin alles verraten. „Und vor allem du solltest mittlerweile verstanden haben, wer mir hier so wichtig ist.“ Stille. Horohoro sah sein Gegenüber überrascht an; er konnte nicht so ganz glauben, was er da hörte. Ausgerechnet er sollte… ? Aber das würde bedeuten, dass… ?! Er blickte direkt in Rens Züge. Sah, wie unangenehm es ihm war, sich ein leichtes Rot bemerkbar machte und Ren den Blickkontakt nur widerwillig hielt. Man konnte ihm ansehen, dass er sich zur Ruhe zwingen musste. Er selbst hatte Ren in diese Situation gebracht und nun wusste er nicht, wie er reagieren sollte. Horo konnte es noch immer nicht glauben. Hatte er das wirklich richtig verstanden? Ren fühlte sich in Japan zuhause, weil er hier war? Blieb er deswegen im Asakura-Anwesen? Hatte er das mit seinen Worten wirklich gemeint? Das war doch bestimmt nicht der einzige Grund, aber ‚wer mir hier so wichtig ist‘ konnte doch nur bedeuten, dass…ja, was? Horo wagte es nicht, auf irgendetwas zu hoffen, das sich im nächsten Moment als großes Missverständnis herausstellen könnte. Das wäre fatal, dann wäre er geliefert. Nicht auszumalen, was passieren würde, wenn er Ren fälschlicherweise um den Hals fallen würde. Zum zweiten Mal… nur würde ihn dieses Mal kein Fieber der Welt retten können. Aber je länger er darüber nachdachte, desto mehr war er davon überzeugt Ren durchaus richtig verstanden zu haben. Ren verlor so langsam die Geduld. Die Situation wurde mit jeder Sekunde unerträglicher und Horos Miene ließ leider auf nichts schließen außer, dass es in seinem Kopf zu arbeiten schien. Ob das nun gut oder schlecht war sei dahingestellt. Spitze, da konnte er auch genauso gut seinen Weg fortsetzen. Im Moment war es ihm egal, ob er nun eine Antwort auf seine vorherige Frage bekam. Hauptsache, er würde erst einmal Abstand bekommen – das war zunächst wichtiger. Er war nicht der Typ für solche Dinge. Und von wegen, man würde sich besser fühlen, wenn man es ausgesprochen hatte. Er musste hier weg. „Lauf doch nicht gleich wieder weg.“ „Mach ich nicht.“ Er drehte sich dabei nicht um, sondern ging einfach weiter. „Du wolltest doch auch noch eine Antwort, oder nicht?“ Auch Horo setzte sich wieder in Bewegung und schaffte es diesmal sogar, mit Ren Schritt zu halten. Er würde den Tao jetzt garantiert nicht einfach davonmarschieren lassen. Das hier war wichtig. „Schön.“ Horo bemerkte, wie Ren seine Schritte beschleunigte; in Kombination mit der knappen Erwiderung, hätte sich der Tao nicht abweisender in seiner Flucht verhalten können. Ren dachte doch wohl nicht, dass er ihn einfach so abschütteln konnte, oder? Schneller werden konnte er auch! So ganz glauben konnte der Ainu aber noch immer nicht, was er da gerade gehört hatte. Und er wusste, dass Ren so etwas nicht einfach so sagte. Was diese Worte für Ren bedeuten mussten, konnte Horo nur erahnen. Und ein bisschen verstand er auch, warum Ren es so eilig hatte, von ihm wegzukommen. „Du läufst weg wie ein kleines Mädchen!“ „Was?!“, fauchte Ren ihn abrupt an. Damit hatte Horo ganz die Reaktion erhalten, die er auch angestrebt hatte. Ren war nicht nur stehen geblieben, sondern auch bereit, ihm hier und jetzt an die Kehle zu gehen. Das war der Ren, den er kannte. „Du hast mich schon gehört.“ Manchmal war der Stolz des Chinesen Gold wert. „Nimm das sofort zurück.“ „Damit du weiter wie ein Mädchen wegrennen kannst?“ Er grinste ihn herausfordernd an. Rens Worte hatten ihn wachgerüttelt und zurück in die Realität geholt, jetzt fühlte auch er sich wieder wohl in seiner Haut. Er konnte wieder ganz der Alte sein, er musste sich wegen Ren nicht länger den Kopf zerbrechen. Er war Ren wichtig. Das machte es einfacher; und es machte ihn irgendwie glücklich. Auch, wenn sein breites Grinsen Ren gerade nur noch weiter anstachelte. „Das ist meine letzte Warnung!“ „Sonst was?“ „Horo…“, hörte er den Tao noch gefährlich knurren. Er wusste nicht, wie Ren es fertig gebracht hatte, aber plötzlich fand er sich in der Horizontalen und umgeben von Schnee wieder. Er hatte zwar nicht vor, in diesem Spiel der Verlierer zu sein, doch hatten ihn der Überraschungseffekt und auch Rens körperliche Kondition in eine unvorteilhafte Lage gebracht. Ren stand nun über ihm und klopfte sich frustriert den Schnee von den Handschuhen, das Rot auf seinen Wangen hatte er damit jedoch nicht abschütteln können. Was für ihn wohl Grund genug gewesen war, ohne weiteres Zögern den Nachhauseweg fortzusetzen und Horo im Schnee zurückzulassen. Entgegen Horos Einschätzung dauerte es nicht lange, bis das Asakura Anwesen wieder in Sichtweite kam – vielleicht war aber auch die Zeit schneller verflogen, da er abgelenkt gewesen war. Horo, der von oben bis unten mit Schnee bedeckt war und noch immer Schneeklumpen aus seinem Schaal sammelte, beobachtete Ren neugierig, der sich bis eben jeglicher Kommunikation zu entziehen versucht hatte. „Kannst du mir verraten, warum du immer noch grinst?“ Es nervte Ren. Lachte der Kerl ihn etwa aus? Egal, wie sehr Horo sich zurückhielt und hinter ihm lief, es war unmöglich, das Grinsen auf seinen Zügen nicht zu bemerken. Seitdem er es gesagt hatte, grinste Horo und war noch aufgeweckter als sonst. Von dem Fieber, oder seinen anfänglichen Schwierigkeiten Schritt zu halten, war nichts mehr zu merken. Doch würde Horo ihn wirklich so belächeln? Das konnte er sich nicht vorstellen und danach sah es eigentlich auch nicht aus. Aber was sollte dieses dämliche Grinsen dann?! Er konnte es einfach nicht zuordnen. „Will der große Ren Tao jetzt doch eine Antwort?“ „Du hast wohl noch nicht genug bekommen?!“ Horo lächelte Ren versöhnlich an, der ihm bereits wieder gefährlich nahegekommen war und ihn anknurrte. Er würde nachgeben, immerhin wollte er nicht schon wieder im Schnee landen. „Reg dich ab.“ Horo wartete kurz, bis Rens Temperament ein wenig nachgelassen hatte. „Dann fang-“ Weiter kam Ren nicht, bevor er rege von Horo unterbrochen wurde. „Du bist mir auch wichtig.“ „…was?“ Ren stockte in seiner Bewegung. Völlig überrumpelt sah er Horo an, von seiner aufbrausenden Stimme war nicht mehr als ein Wispern geblieben. „Du bist mir auch wichtig, Ren. Sehr wichtig.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)