Kunan von _miku-kun_ (Das Amulett von Thana) ================================================================================ Kapitel 1: Schneesturm ---------------------- Schneesturm Der Winter kam spät in diesem Jahr und als zum ersten Mal eine Schneeflocke fiel, begannen schon die Weihnachtsferien. Es war ein Tag wie jeder andere, das heißt: natürlich war es das nicht. Aber das wusste noch niemand in diesem Haus, als Lucas Familie sich an diesem Sonntagmorgen am Frühstückstisch versammelte, und so hielten es alle für einen ganz normalen kalten Dezembertag. Alle, bis auf Luca. Er hatte nicht gut geschlafen. Er hatte immer noch die Erinnerung an den Albtraum, der ihn diese Nacht wie die anderen Nächte davor heimgesucht hatte. Er erinnerte sich an ihn nicht wie einen Film, sondern wusste nur, dass vier fast gleich hohe Schatten darin vorgekommen sind. „Stimmt etwas nicht?“, fragte seine Mutter, die die ganze Zeit aus dem Fenster geschaut hatte. Luca schrak aus seinen Gedanken hoch, blinzelte, und brauchte einige Zeit, um seine Gedanken zu ordnen. Dann schüttelte er den Kopf. „Nein“, sagte er. „Ich habe bloß nicht so gut geschlafen. Ich hatte einen Albtraum.“ „Einen Albtraum?“, fragte seine Mutter und schaute wieder aus dem Fenster, um sich den Schneefall anzugucken. Luca antwortete nicht, sondern konzentrierte sich darauf, sein Ei mit der perfekten Menge an Salz und Pfeffer zu bestreuen. Er schielte kurz zu seinem Vater, der vor sich eine Landkarte liegen hatte. „Kommt deine Schwester heute noch runter, oder müssen wir unseren Urlaub auf nächstes Jahr verschieben?“ Luca zuckte die Schultern. Seine Schwester kam nie aus dem Bett, und wenn sie es doch geschafft hatte, stand sie noch mindestens eine halbe Stunde im Bad, um etwas zu tun, was sie Schminken nannte. Luca fragte sich ständig, wie man so lange brauchen konnte, um sich zu bemalen. „Jungs verstehen so etwas nicht“, sagt seine Schwester dann immer. „Außerdem ist dein Köpfchen viel zu klein, um die Angelegenheiten der Mädchen zu kapieren.“ Zu klein! Darüber kann Luca nur lachen. Er war nur einen Zentimeter kleiner und zwei Jahre jünger als seine Schwester. Aber ohne sie wäre es hier ziemlich ruhig, dachte Luca immer, wenn Stephanie dies zu ihm sagte. Tief im Herzen hatte er sie gern, das wusste er. „Ich glaube, sie packt noch“, sagte Luca, „eben war sie nicht im Bad und gestern wollte sie nicht packen.“ Sein Vater schnaubte. „Fahren wir für zwei Tage oder für eine ganze Woche ins Sauerland?“ Luca spürte, dass sein Vater langsam ungeduldig wurde und schlug deshalb vor, nach ihr zu sehen. Ohne auf eine Antwort zu warten, stand er auf und war gerade an der ersten Stufe der Treppe angelangt, als er neben der Stufe etwas aufleuchten sah. Er ging darauf zu und hob es auf. Es war eine Münze, aber eine, deren Währung er nicht kannte – und er kannte die meisten Währungen, die es gab. Es war eine seiner Lieblingsbeschäftigungen, Münzen nach ihrem Nationalland zu ordnen. Luca konnte einen Drachen erkennen, der sich um ein Schwert schlängelte. Auf der schmalen Seite waren Linien und Symbole abgebildet. „Und, wo bleibt sie?“, ertönte plötzlich die Stimme seiner Mutter. Luca erschrak. „Ich schätze, sie wird gleich fertig sein“, rief er als Antwort in die Küche und steckte hastig die Münze ein. Dabei fiel ihm auf, dass auf der Rückseite die Zahl 100 stand. Luca fand das ziemlich merkwürdig, wo doch alle Länder dieser Erde Scheine benutzten, auf denen diese Zahl stand. Oder war da doch noch ein Land, das so welche Münzen benutzte? Und wie ist die eigentlich hierher gekommen? Er konnte schwören, dass sie hier noch nicht gelegen hatte, als er runtergekommen war. „Hey!“ Eine Stimme schreckte Luca aus seiner Fragerei und blickte nach oben. Dort stand seine Schwester neben einem großen Koffer. „Was hast du da?“, fragte Stephanie in ihrem neugierigen Ton. „Nichts, was dich angehen sollte“, erwiderte ihr Bruder genervt, der die Münze schnell in seiner Hosentasche verschwinden ließ. „Und nur mal so zur Info: Wir fahren nur mit zwei Übernachtungen ins Sauerland, und keine ganze Woche.“ Luca fühlte sich ziemlich genervt. Immer mischte sich Stephanie in Dinge ein, die sie überhaupt nichts angingen! Schließlich fragte er sie ja auch nicht, mit welchem Jungen sie das letzte Mal zusammen war, da sie ihren Freund so oft wechselte, wie sie zum Friseur ging - und das passierte ziemlich oft. Stephanie nahm wortlos ihren Koffer, stieg die Treppe runter und stolzierte ohne ein Wort zu verlieren an ihrem Bruder vorbei. Luca hörte Schritte und sah seine Mutter in der Tür stehen. „Hole doch bitte deine Sachen und packe sie ins Auto“, sagte sie. „Und das ihr euch ja wieder einkriegt. Wir halten euer Gezanke nicht ewig aus!“ Sie ging zurück in die Küche und redete mit ihrem Mann über den besten Weg. Keine zehn Minuten später saßen alle im Auto, hinter sich drei kleine Taschen und einen großen Koffer. Lucas Vater startete das Auto und sie fuhren los. Aus dem Fenster konnte Luca Schneeflocken beobachten, die immer mehr wurden, sodass nach einer halben Stunde Fahrt schon eine dichte Schneeschicht auf der Straße lag. „Mistwetter“, murmelte sein Vater und stellte den Scheibenwischer auf Dauerbetrieb, denn der Schneefall war inzwischen so stark, dass er ihnen die Sicht raubte. Luca und Stephanie sahen sich an, sagten aber nichts. Doch nach einer Weile brach Stephanie die Stille: „Ist euch schon aufgefallen, dass es nicht mehr so stark schneit?“ Luca sah aus dem Fenster. Es stimmte. Komisch, dachte er, eben hat es noch wie verrückt geschneit, und jetzt schneit es fast gar nicht mehr. Auch seinen Eltern was dies aufgefallen, doch sie hielten es für eine Laune der Natur und sagten nichts. „Autsch!“, schrie Luca plötzlich und fuhr mit einer hastigen Handbewegung dorthin, wo er die Münze hingetan hatte. „Was ist los?“ Seine Mutter hatte sich zu ihm umgedreht und sah ihn besorgt an. Auch Stephanie blickte in seine Richtung, sein Vater guckte nur kurz in den Rückspiegel, da er weiter auf die enge Straße gucken musste. „Ich…äh, habe einen Krampf im Bein gehabt“, log Luca. In Wahrheit hatte er das Gefühl, als ob diese seltsame Münze plötzlich aufgeglüht hätte. Luca war verwirrt. Er wusste nicht, ob es nur Einbildung war oder einfach eine Art komischer Realität. Aber Münzen können doch nicht von jetzt auf gleich einfach heiß werden! Luca sah aus dem Fenster. Nun schneite es nicht mehr und es wurde so warm, dass sie zugucken konnten, wie der Schnee neben der Straße schmolz. Er drehte sich um. Etwa dreihundert Meter hinter ihnen tobte noch immer der Schneesturm, doch über ihnen strahlte die Sonne zwischen weißen Wolken auf sie herab, als ob sie sicher war, dass es jetzt Sommer – und nicht Winter – war. Aus den Augenwinkeln sah er auf einmal zwei gelbe Augen. Luca wandte sich um. Die gelben Augen gehörten einem schwarzen Auto, das aus dem Schneesturm schnell auf sie zufuhr und sie einholte. „Pa!“, schrie Luca, als der schwarze BMW fast die Stoßstange ihres Wagens berührte. Sein Vater trat aufs Gaspedal. Auch er hatte das fremde Auto erblickt. Sie fuhren schneller, doch der BMW blieb dicht hinter ihnen. Luca versuchte zu erkennen, wer in dem Wagen saß, konnte jedoch nichts sehen, da die Scheiben getönt waren. „Er will uns rammen!“, rief Stephanie, die sich soweit wie möglich nach hinten gebeugt hatte, um zu sehen, was los war. Sie hatte Recht. Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, spürten sie auch schon einen Ruck. Der schwarze BMW berührte sie zwar nur kurz, doch Luca fühlte beim Zusammenstoß eine Woge der Bösartigkeit. Plötzlich stieg in ihm ein Hass auf, wie er ihn noch nie gehabt hatte. Er hatte auf einmal das dringende Bedrängnis, sich auf seine Schwester zu stürzen und ihr nicht nur weh zu tun. Er wollte sie töten. Nichts anderes war ihm jetzt wichtig. Er hatte das Gefühl, sich danach noch stärker zu fühlen. Doch eine innere Stimme riet ihm was anderes. „Sie ist deine Schwester“, sagte sie sanft. „Deine einzige, liebe Schwester. Töte sie nicht. Es würde dir Leid tun.“ Und Luca wusste, dass sie Recht hatte. Der Hass auf Stephanie verebbte. Er drehte sich zu dem BMW um, der kurz danach langsamer fuhr. „Habt ihr das auch gespürt?“, fragte Luca keuchend und drehte sich wieder nach vorne um. „Klar, der Aufprall war ja nicht zu übermerken.“ Die Stimme seines Vaters klang zornig. „Wenn sie das noch einmal machen, zeige ich sie an!“ Luca sah irritiert nach hinten, doch er hatte keine Zeit, seine Gedanken zu ordnen, denn der BMW wurde wieder schneller, bog jedoch auf die andere Straßenseite ab. „Ach du Schande“, murmelte sein Vater. „Jetzt will der uns auch noch auf dieser engen Straße überholen. Wie irre sind die eigentlich?“ Luca stimmte ihm insgeheim zu. Nun fuhren die beiden Autos so dicht aneinander, dass sich die Außenspiegel beinahe berührten. Einen Augenblick blieb der BMW auf dieser Position, fuhr dann schneller, sodass er sie überholte und sich einige hundert Meter vor ihnen quer auf die Straße stellte. „Drück doch auf die Bremse, sonst knallen wir noch in sie rein!“, schrie die Mutter panisch. Ihr Mann drückte den Fuß aufs Bremspedal, doch nichts tat sich. Er betätigte sie noch ein paar Mal, aber sie fuhren genau so schnell wie vorhin. „Die Bremsen funktionieren nicht!“ Lucas Vater war verzweifelt. Luca sah sich schon mit gebrochenen Armen und Beinen im Krankenhaus liegen. Neben der Straße waren zu beiden Seiten breite Gräben und Bäume. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als auf das Auto zuzufahren. „Luca“, sagte Stephanie tonlos. Sie war leichenblass. „Ich möchte dich in diesem Leben noch lebend wieder sehen.“ Luca wollte etwas antworten, doch dazu war es bereits zu spät. Der BMW war nur noch wenige Meter von ihnen entfernt. Der Aufprall war so hart, dass sie über das zur Seite gefallene schwarze Auto hinwegflogen. Luca schrie, während er die Straße auf sich zukommen sah. Er wollte noch nicht sterben. Er wollte noch so viel erledigen. Er konnte nicht mehr denken. Er knallte mit dem Kopf gegen das Fenster, als das Auto aufschlug. Luca konnte nicht sehen. Sein Kopf tat so weh. Er hörte nur die Stimme seines Vaters, die irgendetwas sagte, doch Luca konnte es nicht verstehen. Die Münze, die er heute Morgen gefunden hatte, glühte erneut auf, aber dieses Mal so heiß, dass Luca das Bewusstsein verlor. Kapitel 2: Die zweite Welt -------------------------- Die zweite Welt Das erste, was er spürte, war ein stechender Schmerz in seiner rechten Schläfe. Er fühlte sich benommen. Entfernte Stimmen drangen durch den dichten Nebel, der in seinem Kopf herrschte, doch er verstand nicht, was sie sagten. Er hatte das Gefühl, dass sein Kopf platzen würde, wenn er nur versuchte, etwas zu denken. Seine Augenlider waren schwer; er konnte sie nicht öffnen. Als er es noch einmal versuchte, klappte es, doch er sah nur verschwommen. Er blinzelte und sofort nahmen die Umrisse deutlichere Formen an. Luca konnte erkennen, dass er sich in einem Zelt befinden musste, denn die Wände und auch die Decke bestanden aus Stoff. Er lag auf einer Decke auf einem dunkelroten Teppich. Plötzlich bewegte sich ein Vorhang und ein Mann trat ein. Luca studierte ihn genauer. Er trug die seltsamsten Kleider, die er je gesehen hatte – außer in Fantasy-Filmen. Er trug eine dunkelblaue Tunika und einen schwarzen Umhang. An einem Ledergürtel hing ein Schwert. „Wie fühlst du dich?“, fragte er mit sanfter Stimme, ging zu Lucas Lager und hockte sich hin. Luca versuchte zu sprechen, doch es kam nur ein leises Krächzen heraus. Ihm wurde schwindelig und er musste die Augen schließen. Er hörte die Stimme des Mannes, doch was er sagte, konnte er nicht verstehen. Alles drehte sich in seinem Kopf. Als der Schwindel nachließ, öffnete er erneut die Augen. Sein Blick fiel auf den fremden Mann, der sich immer noch über ihn gebeugt hatte und ihn besorgt musterte. „Wer…wer sind Sie?“, brachte Luca nur mühsam hervor. „Wo bin ich eigentlich?“ Der Mann lächelte. „Wie dumm von mir“, sagte er entschuldigend. „Mein Name ist Canis und du liegst gerade in unserer Zeltstadt Kailu.“ „Wo sind meine Eltern und meine Schwester?“ Canis runzelte die Stirn. „Du wurdest bewusstlos von einer Wache an der Grenze von Kailu gefunden.“ „Das kann nicht sein!“, rief Luca. Er wollte sich aufsetzen, doch Canis’ Hand drückte ihn wieder runter. „Das kann nicht sein“, flüsterte er erneut. „Sie waren bei mir, als es passierte.“ Das Gesicht des Mannes kam näher. „Als was passierte?“ „Wir hatten einen Autounfall. Wir sind mit einem BMW zusammengeprallt. Er hat sich absichtlich vor uns gestellt und unsere Bremsen funktionierten nicht und -“ Canis winkte ab. „Ich versteh kein einziges Wort, was du da sagst.“ Er holte tief Luft. „Ich weiß, dass es für dich momentan schwer ist, dies zu glauben “, sagte er, „aber ich möchte es dennoch versuchen. Du bist hier nicht in der Welt, in der du bis jetzt gelebt hast.“ Bei diesen Worten klappte Luca der Mund auf, schloss ihn jedoch schnell wieder. „Du hast vermutlich noch nie von Kunan gehört, oder?“ Luca schüttelte verneinend den Kopf. „Ihr – also die Menschen in deiner Welt– merkt es zwar nicht, dass es noch eine zweite Welt gibt, aber deine Welt und meine Welt sind miteinander verbunden.“ Luca schaute den geheimnisvollen Mann verwirrt an. „Fragst du dich eigentlich nie, woher all diese Geschichten mit Elfen, Feen, Einhörnern und Trollen kommen? Sie leben hier in Kunan. Ohne eure Fantasie kann diese jedoch Welt nicht überleben, denn sie hält unsere Welt zusammen. Im Gegensatz dazu geben wir euch die Ideen für die Bücher, die viele von euch Menschen schreiben. Es können sogar Menschen hier nach Kunan kommen, doch nur, wenn wir es wollen.“ „Dann bin ich also extra hier?“, fragte Luca, obwohl er ihm immer noch nicht recht Glauben schenken wollte. „Ja. Deine Eltern und auch deine Schwester sind noch in deiner Welt. Ihnen geht es gut“, versicherte er Luca, als er dessen besorgten Gesichtsausdruck sah. „Das haben uns Feen berichtet. Sie können beliebig hin und her wechseln. Sie sind überall. Ihr könnt sie nur nicht sehen, wie sie der Natur helfen. Sie geben den Samen auf den Äckern der Bauern wichtige Nährstoffe, die sie schneller wachsen lassen.“ Canis ging zum Vorhang, und wollte ihn gerade hochheben, als Luca rief: „Aber wieso bin ich hier?“ „Das wird dir der Hohe Rat erklären. Er ist das Oberhaupt von Kunan. Ich werde dich bald dahin führen“, sagte er noch, bevor er aus dem Zelt trat. „Hey!“ Doch Canis kam nicht wieder zurück. Stattdessen kam ungefähr eine Stunde später ein Mädchen, das ihm etwas zu Essen brachte. Sie trug ein einfaches Kleid. Luca wollte mit ihr ein Gespräch anfangen, doch die Fremde antwortete nicht auf seine Fragen. Nachdem sie verschwunden war, betrachtete Luca das Essen. Es bestand aus einem Apfel und einer Schale Wasser. „Wie soll ich davon denn satt werden?“, murmelte Luca, nahm sich aber den Apfel. Kaum hatte er ein Stück abgebissen, breitete sich ein ungeheuer leckerer Geschmack in seinem Mund aus. Und er hatte das Gefühl, dass dieses Stück Apfel ihn schon satt gemacht hätte, doch weil er noch nie so etwas Leckeres gegessen hatte, aß er ihn auf. Danach probierte er das Wasser. Auch dies schmeckte besonders gut und nach einigen Schlucken hatte er schon gar keinen Durst mehr. Luca konnte sich über diese Welt nur wundern. Wie hieß sie noch gleich? Ach, ja, Kunan. „Was für ein schöner Name für so eine wunderschöne und geheimnisvolle Welt“, murmelte Luca lächelnd. Doch er wusste nicht, ob er Canis vertrauen konnte oder nicht, denn seine Geschichte über Kunan war eindeutig verrückt. Nach einigen Tagen waren die Kopfschmerzen weg und er konnte sich ohne Schmerzen im Zelt frei bewegen. Er hatte sogar versucht, aus dem Zelt zu kommen, um sich Kailu anzuschauen, sah jedoch nur für einen Augenblick etwas, denn zwei Wachen standen vor seinem Zelt und scheuchten ihn wieder rein. Die Wachen mussten dies jemandem erzählt haben, denn kurz danach betrat Canis das Zelt. Er hielt ein grünes Bündel in seiner Hand. „Hier“, sagte er und warf ihm das Bündel zu. „Zieh das an.“ Luca betrachtete das Bündel genauer. Es war eine dunkelgrüne Tunika mit silbernen Stickereien und eine schwarze Hose. „Beeil dich bitte. Wir haben nicht ewig Zeit.“ Canis verschwand aus dem Zelt. Luca wechselte seinen Pullover gegen die Tunika und seine Jeans gegen die Hose aus Stoff. Dabei berührte er mit der Hand die Münze, die er gefunden hatte. Er nahm sie aus der Tasche und packte sie in einen kleinen Lederbeutel, den er in einer Ecke im Zelt gefunden hatte, hängte diesen mit einer Schnur um seinen Hals und packte den Beutel unter seine Tunika. Er ging zu dem Spiegel, der in einer Ecke stand, und sah hinein. Dort stand ein Junge mit schulterlangen, schwarzen Haaren und mit braunen Augen. Sein Gesicht war etwas bleich, doch man konnte gleich sehen, dass es ein hübscher Junge war. Die dunkelgrüne Tunika betonte dies noch mehr. Er trat aus dem Zelt, wo Canis schon auf ihn wartete. „Komm!“, befahl er und ging einen breiten Weg hinunter. Der Junge folgte ihm und sah sich um. Zu beiden Seiten standen Zelte in einheitlicher Form und Größe. Sie waren so platziert, dass sie parallel zu dem Weg standen, auf dem sie gerade entlang gingen. Nach etwa zehn Zelten – wie Luca zählte – bog ein schmalerer Weg ab und die Farbe der Zelte veränderte sich. Die Zelte, an denen sie gerade vorbei liefen, waren kastanienbraun. „Warum sind die Zelte nach Farben geordnet?“, fragte Luca Canis. Es dauerte einen Augenblick, bis dieser lässig sagte: „Die Bewohner hier in Kailu konnten sich nicht auf eine Farbe einigen, also haben wir hier jede Farbe, die gewünscht wurde, vorhanden. So gibt es keinen Ärger.“ Luca runzelte die Stirn. Er hätte alles erwartet, nur das nicht. Noch einige Farbumschläge folgten, bis Canis vor dem größten Zelt stehen blieb. Zwei muskulöse Männer bewachten den Eingang. Neben ihnen stand jeweils ein Banner mit einem silbernen Wolf, der ein Lamm- ebenfalls in Silber- mit der Schnauze berührte. Der Hintergrund war rot. „Auf diesem Banner“, erklärte Canis, als er Lucas Blick bemerkte, „ist das Wappen von Kunan abgebildet. Es symbolisiert den Frieden zwischen den verschiedenen Völkern.“ Canis senkte etwas die Stimme. „Nun zu etwas wichtigerem: Es gibt drei Regeln, die du da drin unbedingt beachten musst: Erstens, du sagst kein Wort, ohne, dass sie dich direkt ansprechen. Zweitens, du sagst nur so viel wie nötig ist. Drittens, du verhälst dich höflich. Alles klar?“ Luca nickte. Kapitel 3: Der Hohe Rat ----------------------- Der Hohe Rat Canis wandte sich an den rechten der beiden Männer und murmelte etwas, das Luca nicht verstehen konnte. Der Angesprochene nickte, drehte sich um und ging ins Zelt. Kurze Zeit später kam er wieder heraus, nickte erneut und bezog wieder seinen Posten. Canis winkte Luca und zusammen betraten sie das riesige Zelt. Sie befanden sich auf einer Art Flur. Die Wände und der Boden waren aus rotem Stoff. Canis führte ihn durch einen Durchgang. Die Wände dieses Zimmer hatten neben dem Rot auch noch Goldverzierungen. Der Boden und die Decke waren dunkelblau. In allen vier Ecken stand jeweils eine Öllampe auf einem marmorfarbenen Sockel, der Luca bis zur Hüfte reichte. Sie brannten nicht. In der Mitte befand sich ein niedriger, langer Tisch, an dem vier Männer knieten. Sie erinnerten Luca an seinen Traum, in dem auch vier fast gleich hohe Schatten vorgekommen waren. Sie trugen Umhänge, jeder in einer anderen Farbe – rot, blau, braun und weiß. Canis verbeugte sich halb und bedeutete Luca mit einem kurzen Blick, es ihm gleich zu tun. „Setzt euch“, sagte der Mann im weißen Umhang. Die beiden gehorchten und setzten sich den Männern gegenüber an den Tisch. Die Männer sahen zuerst Canis an, dann Luca. Dieser mochte es noch nie, wenn ihn jemand ansah, vor allem nicht mit diesem prüfenden Blick. Lucas Blick schweifte erneut zu den Öllampen, um ja den Blicken zu entgehen. Doch er spürte immer noch die Augenpaare, die auf ihm ruhten. Nach einer Weile, die Luca unerträglich fand, fing der Mann im roten Umhang endlich zu Sprechen an: „Wir sind Cassius, Badok, Fedis und Actus.“ Während er sprach, deutete er zuerst auf den Mann im weißen Umhang, dann auf die braun und blau gekleideten und zuletzt auf sich selbst. Dann fuhr er fort: „Canis hat dir sicherlich schon erzählt, dass wir zusammen den Hohen Rat bilden.“ Luca nickte. Actus warf Cassius einen kurzen Blick zu, der daraufhin aufstand und einen schweren Vorhang löste, der neben dem Eingang befestigt war. Nun war es so dunkel, dass Luca nur Umrisse erkennen konnte, doch Cassius musste die Öllampen angezündet haben, denn es wurde nach einem Augenblick wieder so hell, dass Luca für den ersten Augenblick geblendet wurde. Doch da die Öllampen die einzigen Lichtquellen waren, fragte Luca Cassius irritiert: „Wie wird das Licht so hell?“ Für diese Worte schenkte Canis ihm einen wütenden Blick und sagte: „Vergebt ihm, er weiß nicht, was er da tut!“ Aber Luca störte die Ratsmitglieder anscheinend nicht, denn sie schienen es interessant zu finden, dass er diese Frage gestellt hatte. „Die Lampen beinhalten das Blut von Drachen“, erklärte Actus und sah vergnügt drein, als er Lucas erstarrtes Gesicht erblickte. „Es ist sehr schwierig zu bekommen und deshalb auch sehr teuer. Nur die Reichen können sich dieses Öl leisten.“ Cassius hatte sich inzwischen wieder hingesetzt und erneut sahen alle Luca an. Keiner sagte ein Wort. Nach einer Weile durchbrach Luca entnervt die Stille: „Könnte man mir endlich mal erklären, warum ich hier bin?“ Canis sah ihn erneut empört an. Er wollte etwas zu Luca sagen, doch er erblickte Fedis’ Gesichtsausdruck und blieb still, denn Fedis lächelte und schüttelte leicht den Kopf. „Du bist ganz wie dein Vater, Luca.“ Er sah freundlich in Lucas Augen. Luca versuchte, dieses Mal dem Blick Stand zu halten. Nachdem er ein paar Sekunden in die dunkelblauen Augen geschaut hatte, kam es ihm so vor, als ob hinter diesen Augen eine ganze Welt lag. Luca sah weg. Ihm waren diese Augen irgendwie unheimlich. Er sah in die anderen Gesichter. Auch diese hatten einen ähnlichen Ausdruck. Nur Canis’ Blick blieb ernst. Nach einem Moment fielen ihm wieder die Worte ein, die Fedis gesagt hatte. „Was meinen Sie damit?“, fragte Luca den Mann in dem blauen Umhang. Fedis seufzte. „Da du genauso vorlaut bist wie er, möchte ich es dir erzählen.“ Luca sah ihn böse an. „Er hat vor fünfzig Jahren – in unserer Zeit - Kunan vor dem Untergang bewahrt. Damals befanden wir uns im Krieg mit Argolis, einem unserer Nachbarstaaten. Paratas, Herrscher von Argolis und Magier, möchte schon seit vielen Jahren die Herrschaft über Kunan haben. Wir hätten damals keine Chance gehabt, ihn mit seinen Magiern und Soldaten zu besiegen. Kunan hat zwar die besten Krieger, doch zu wenig begabte Magier gehabt. Wir haben eine Schlacht nach der anderen verloren. Deinen Vater, Luca, haben wir noch rechtzeitig gefunden. Er musste irgendeinen Gegenstand berührt haben, den irgendeine von diesem verdammt unordentlichen Feenvolk zurückgelassen haben musste. Denn nur so können Menschen aus deiner Welt unabsichtlich zu uns gelangen. Aber dank ihm und einige andere … besondere Magier haben wir den Krieg beenden können. Er war damals ungefähr so alt wie du, Luca.“ Luca starrte ihn ungläubig an. „Wie konnte er denn helfen?“ Badok stand auf, schob den Vorhang beiseite und spähte hinaus auf den Flur. Dann kam er wieder zurück und sagte leise, als ob es nicht jeder hören sollte: „Er war ein Schattenreiter.“ Jeder Gehorsam fiel von Canis ab. „Ein Schattenreiter?!“, rief er verwundert. „Es ist allgemein bekannt, dass Schattenreiter ganz normale Magier wären. Nur mit mehr Kraft.“ „Dies ist eine Lüge, die wir verbreitet haben, um das Volk nicht zu beunruhigen“, sagte Badok ernst. Luca blickte nicht mehr durch. „Wer oder was ist ein Schattenreiter?“, fragte er. „Ein Schattenreiter ist ein Mensch, der magische Fähigkeiten hat und …“ „Mein Vater hat keine magischen Fähigkeiten. Das hätte ich doch bemerkt!“ Doch Badok erklärte weiter: „Man wäre ein einfacher Zauberer, wenn man nur Magie benutzen könnte. Ein Schattenreiter hat neben der Magie auch noch die Fähigkeit eines Schamanen. Er kann mit Toten kommunizieren und sie aus dem Totenreich zurückholen. Er ist sogar dazu in der Lage, dem Geist seine alte Kraft wiederzugeben, um ihn als Partner zu haben, der ihn schützt und zusammen mit seinem Herrn kämpft. Doch für die Schamanenkraft braucht man ein Amulett. Und zwar ein ganz bestimmtes.“ „Dein Vater brauchte das Amulett von Thana“, sagte Actus. „Es befindet sich momentan in der Festung von Rhim Baldharr. Sie liegt in der Nähe der Grenze; versteckt von Nhabia, einem Gebirge. Paratas hat es uns gestohlen, nachdem dein Vater es damals in unserer Obhut zurückgelassen hatte. Wir haben natürlich versucht, es zurückzubekommen, aber es ist uns nicht gelungen.“ „Nicht umsonst zählt die Festung von Rhim Baldharr als uneinnehmbar“, sagte Cassius leise. „Wir vermuten, dass du das gleiche Amulett brauchst, wie dein Vater, da ihr beide gleichen Blutes seid.“ Lucas Fragenballon platzte. „Aber woher habt ihr gewusst, dass ich sein Sohn bin? Wie bin ich eigentlich hierher gekommen und woher wisst ihr so genau, dass ich auch einer von diesen Schattenreitern bin?“ Cassius antwortete verschmitzt: „Wir sind dafür verantwortlich, dass du hergekommen bist.“ „Was?!“, schrie Luca. „Ihr hättet uns beide beinahe umgebracht!“ „Du solltest eigentlich erst dann hierher kommen, wenn dein Vater den Zauberspruch gesagt hätte, aber irgendwas muss da schief gegangen sein.“ Luca erinnerte sich daran, dass sein Vater noch irgendetwas gemurmelt hatte, bevor die Münze aufgeglüht hatte. „Paratas muss auf eine mir unbekannte Weise erfahren haben, dass es dich gibt. Er hat wahrscheinlich jemanden geschickt, um dich zu töten, bevor du nach Kunan gelangen kannst. Es tut uns sehr Leid, was passiert ist, wir hätten besser aufpassen sollen.“ „Wir sind beinahe gestorben!“, rief Luca. Er war so außer sich, dass Canis seine Hand auf seine Schulter legen musste, um ihn am Aufstehen zu hindern. „Luca“, sagte Canis leise. „Vergiss nicht, wo du dich hier befindest.“ „Das geht schon in Ordnung, Canis“, sprach Fedis ruhig, um ihn Einhalt zu gebieten. „Deinen Eltern und auch deiner Schwester geht es bestens. Unsere Feen haben ihnen einen Schlafzauber gegeben, sodass sie nicht aufwachen, bevor du nicht zurück bist. Außerdem vergeht die Zeit hier viel schneller als in deiner Welt.“ - „Wieso eigentlich?“ Luca hatte sich wieder etwas beruhigt und Canis ließ ich los. „Wieso ich?“ Actus seufzte. „Wie wir schon erwähnt hatten, bist du der Sohn von einem der letzten Schattenreiter. Wir mussten dich herholen, weil unsere Spione erfahren haben, dass Paratas erneut seine Streitkräfte sammelt, um uns anzugreifen. Und dieses Mal gibt es viele Gruppen aus Kunan, die sich ihm anschließen werden. Darunter auch Atoc, einer der stärksten Magier Kunans. Dies haben wir deinem Vater mitteilen lassen. Dein Vater musste nur noch eine Münze mit der Währung von Kunan an einen Platz legen, wo er wusste, dass du dort noch einmal vorbeigehen würdest, bevor ihr losfahrt. Diese Münze war die einzige Möglichkeit, dich hierher zu bringen, zusammen mit dem Zauberspruch.“ „Aber meine Schwester hätte sie doch auch finden können. Außerdem hätte er sie mir auch persönlich geben können“, fügte er noch murmelnd hinzu. Er konnte es einfach nicht fassen, dass sein Vater ihm nichts über Kunan erzählt hatte. „Nur ein Schattenreiter konnte die Münze überhaupt sehen. Und warum er sie dir nicht persönlich gegeben hat, weiß ich nicht. Vielleicht wollte er sich nicht stundenlang deine Fragen anhören.“ Actus lächelte. Der Hohe Rat erhob sich. Luca und Canis taten es ihnen nach. Es ist ganz schön anstrengend so lange auf den Beinen zu sitzen, dachte Luca. Seine Beine kribbelten, als ob hunderte von Ameisen auf ihnen herumlaufen würden. Fedis wandte sich an Luca. „Das wäre es erst einmal. Du kannst dich hier in Kailu gerne umsehen, falls du das möchtest. Wir haben noch einiges mit Canis zu besprechen.“ Luca ging zum Vorhang, hob ihn hoch und wollte gerade hinausgehen, als Fedis noch etwas hinzufügte: „Du musst uns versprechen, dass du in Kailu bleibst, Luca.“ Luca nickte und trat aus dem Zelt. Kapitel 4: Der Auftrag ---------------------- Der Auftrag Paratas ging im Schwarzen Thronsaal auf und ab. Sein nervöser Blick huschte ständig zu der großen Eingangstür, an der zwei Wachen in schwarzer Rüstung mit einem Speer standen. Gegenüber befand sich ein großer Schreibtisch, hinter dem ein hochlehniger Stuhl stand. „Verdammt!“, knurrte Paratas. „Wo bleibt er nur?“ In diesem Moment öffnete sich die Tür und eine kleine Gestalt lief in den Schwarzen Thronsaal. Es war ein hagerer Mann. Zu seiner Glatze und seinen kalten Augen trug er einen schwarzen Umhang. Eine Narbe zierte sein mit Kratzern übersätes Gesicht. Der Mann hastete zu Paratas. „Na endlich“, knurrte dieser. Er ging auf den Schreibtisch zu. „Es tut mir schrecklich Leid, Herr“, sprach der Fremde mit krächzender Stimme. „Es gab Ärger in den Gehegen. Eins wurde nicht richtig verschlossen; wir konnten nur mit Mühe alle Nacs wieder einfangen. Aber ich …“ „Genug davon!“ Paratas wurde zornig. „Es gibt Wichtigeres, als uns um die verdammten Nacs zu kümmern. Dafür sind die Pfleger da! Merk dir das, Krishan.“ „Natürlich, Herr“, sagte Krishan hastig. „Ich hatte nicht die Absicht, Euch mit dieser Angelegenheit zu belasten.“ Sein Herr gebot ihm zu schweigen und deutete auf den Schreibtisch. Krishan trat näher heran und blickte auf die Tischplatte, doch da war keine Tischplatte. Die Oberfläche bestand aus einer Art Bildschirm. Auf ihm war ein schwarzhaariger Junge zu sehen, der eine grüne Tunika trug. Krishan erkannte ihn sofort. „Das ist doch der Sohn von diesem Schattenreiter“, sagte er erstaunt. Paratas musterte seinen treu ergebenen Diener. „Respekt, Krishan, Respekt. Ich hätte nicht erwartet, dass du so viel in deinem winzigen Köpfchen hast und ihn erkennst.“ „Danke, Herr, danke. Ich höre so etwas nicht oft.“ „Was mich auch nicht wundert.“ Paratas seufzte. „Dieser Junge ist seit ein paar Tagen in Kunan.“ Paratas streichelte Krishans Hals mit seinem dünnen weißen Finger. „Wieso weiß ich davon nichts?“ „Es tut mir Leid Herr, aber von der Ankunft des Jungen höre ich zum ersten Mal.“ Paratas’ Fingernagel drückte in Krishans Hals. Als er wieder losließ, floss eine kleine Menge Blut aus einem kleinen Kratzer. Krishan wimmerte. „Deine Leute haben versagt. Sie sollten ihn und seine Familie doch töten, bevor er nach Kunan kommt.“ „Ich weiß, Herr. Irgendetwas muss da schief gegangen sein.“ „Das sehe ich auch!“, rief Paratas wütend. „Und jetzt sag mir bloß nicht, dass unsere Spione in Kunan ihn noch nicht gefunden haben.“ „Ich habe keine Nachricht bekommen. Sie müssen ihn gut versteckt haben.“ „Natürlich haben sie das!“, bellte Paratas. „Er ist schließlich die einzige Person, die dazu in der Lage ist, unseren Plan durcheinander zu bringen.“ „Es tut mir Leid, Herr, aber wenn ich es gewusst hätte, dass er hier ist, hätte ich Euch selbstverständlich sofort darüber informiert.“ Paratas’ Augen sahen bedrohlich seinen Diener an. „Das möchte ich auch hoffen.“ Er lächelte. „Doch da ich so gnädig bin, gewähre ich dir noch eine Chance, dies wieder gut zu machen. Wir dürfen nicht zulassen, dass er meinen Plan vereitelt.“ Paratas’ Augen verengten sich. Krishan lauschte aufmerksam, was jetzt folgte. Denn er wusste, dass er jetzt keinen Fehler mehr machen durfte, wenn er seinen Meister nicht verärgern wollte. „Töte ihn dieses Mal richtig!“ Kapitel 5: Ein neuer Freund --------------------------- Ein neuer Freund Als Luca aus dem Zelt trat, stand die Sonne bereits hoch oben. Er hatte also den ganzen Vormittag beim Hohen Rat verbracht. Da Luca in seinem Zelt schon jeden Zentimeter genau kannte, wollte er sich diese Stadt ansehen. Er war auch neugierig, ob hier alle so bekleidet waren wie Canis und das schüchterne Mädchen, das ihm jeden Tag Äpfel und Wasser brachte. Also schlenderte er in eine andere Richtung, als in die, wo er mit Canis heute Morgen hergekommen war. Hier auf dieser Seite des Zeltes vom Ältestenrat waren die Zelte gelb. Hier und dort sah er Rauch aus den Zelten aufsteigen. Kleine Kinder spielten vor den Zelten. Luca konnte einige Spiele erkennen, die auch in seiner Welt gespielt wurden; wie etwa Hüpfkästchen, die mit einem Stock in die Erde gezeichnet worden waren. Einige junge Mädchen spielten mit Holzpuppen, doch bei den Jungen ging es brutaler zu. Sie tobten und kämpften miteinander. Luca blieb stehen, um sich das Spiel von zwei Jungen genauer anzusehen. Sie hatten beide ein Holzschwert in der Hand. Beim Kämpfen gingen sie jedoch recht brutal miteinander um. Als der größere der beiden den anderen am Bein traf und dieser hinfiel und weinte, kam eine Frau aus dem Zelt. Luca nahm an, dass sie die Mutter war. Sie tröstete den Verletzten, nahm ihn auf den Arm und beschimpfte den anderen Jungen mit wüsten Worten. Luca ging weiter. Er sah noch weitere Kinder spielend herumlaufen. Einige wurden bereits zum Mittagessen gerufen. Als ihm der betörende Duft eines Grills den Weg in seine Nase fand, bekam er Hunger. Er fragte sich, ob er zurück zu seinem Zelt gehen oder ob er weitergehen und den Hunger zurückhalten sollte. Luca entschied sich für letzteres. Er wusste nicht, wann die nächste Gelegenheit kommen würde, um sich ungestört in Kailu umzusehen. Luca hatte wohl richtig entschieden, denn nach einer Weile kamen nach roten Zelten Hütten aus Holz. Über den Türen hingen Schilder mit Symbolen wie das eines Hammers, Weinkruges oder das eines Schweins. Luca nahm an, dass dies Gaststube, Schmiede und andere Geschäfte waren. Um endlich seinen Hunger zu stillen, ging er auf ein Haus zu, das das Symbol eines Brotes hatte. Doch kaum war er an dem Nachbarhaus angelangt, flog plötzlich die Tür der Bäckerei auf und ein Junge kam herausgestolpert. Er fiel auf den Boden. Hinter ihm erschien ein älterer Mann. „Raus hier!“, brüllte er den Jungen an. „Diebe haben hier nichts zu suchen, und wehe, du lässt dich hier noch einmal blicken!“ Er spuckte vor die Füße des Jungen. Dann ging er, die Tür hinter sich laut schließend, zurück ins Haus und ließ den Hasserfüllten Jungen zurück. Luca lief zu ihm hin. „Bist du ok?“ Er hielt dem Fremden seine Hand hin. Dieser packte sie dankend und stand mit Lucas Hilfe auf. „Ich hasse ihn!“ Der Junge schaute hasserfüllt zur Bäckerei. „Kaum sieht er mich, schmeißt er mich raus.“ „Er hat dich einen Dieb genannt. Stimmt das?“ „Nein, ich habe nichts angefasst. Aber ich gestehe, dass ich ihm mal ein paar Brote geklaut habe – aber nur, weil meine Mutter todkrank war“, fügte er hastig hinzu, als er Lucas erstauntes Gesicht sah. „Wir hatten damals kein Geld und so blieb mir nichts anderes übrig. Aber es hat nicht geholfen. Sie ist im letzten Winter gestorben.“ „Das tut mir Leid.“ Luca konnte ihn verstehen. Canis hatte ihm zwar versichert, dass es seinen Eltern gut gehen würde, aber was war das schon. An Feen hatte er bis jetzt nicht geglaubt, also warum jetzt? „Wer bist du eigentlich?“ Die Stimme des Jungen riss ihn aus seinen Gedanken. „Ich heiße Luca“, antwortete er. Der Fremde packte Lucas Hand und schüttelte sie. „Freut mich, dich kennen zu lernen, Luca. Ich bin Masanari.“ Er lächelte. „Ich habe gehört, es gibt einen aus der Anderen Welt. Bist du das?“ Luca nickte. „Wenn du möchtest, zeige ich dir Kailu“, schlug Masanari vor. Luca nahm seine Einladung dankbar an, fügte jedoch hinzu: „Nur, wenn ich die Möglichkeit bekomme, meinen Magen zu besänftigen.“ Masanari lachte. „Du gefällst mir. Du bist nicht so ernst wie die meisten hier in unserem Alter“ „Wieso?“ „Der bevorstehende Krieg macht ihnen Angst. Es ist schließlich kein Geheimnis, dass Paratas sein Heer sammelt.“ Doch den Rest des Tages sprachen sie dieses Thema kein einziges Mal an. Als Luca abends in seinem Zelt lag, konnte er nicht schlafen. Nachdem er Masanari bei der Bäckerei getroffen hatte, wurde er von seinem neuen, wissbegierigen Freund, der neugierig auf sein Leben in der `anderen’ Welt war, gebeten, es doch ein wenig zu erklären, der sich auch prompt für die Blechkisten interessierte, mit denen die Menschen auf der Erde auf wundersamer Weise schneller fahren konnten als so manche Kutsche. „Aber Autofahren ist ziemlich gefährlich“, hatte Luca erklärt, um Masanari von dem Gedanken abzubringen, eine Reise in seine Welt zu unternehmen. „Es gibt jedes Jahr viele Tote und umweltschädlich ist es auch. Kennst du das Ozonloch?“ Doch auch das schien Masanari nicht zu kennen, denn er hatte ihn angestarrt, als ob er in Luca einen Verrückten sah. „Ein Loch im Ozean?“, fragte er erstaunt. „Wie geht denn das?“ Und Luca hatte versucht, ihm auch das zu erklären, was nur daraus hinauslief, dass Masanari nun etwas mehr über das größte Problem der Menschheit auf der Erde wusste, als vorher. Luca seufzte. Morgen wird mir Masanari mehr über Kunan erzählen und mir seinen Lieblingsplatz hier in Kailu zeigen, dachte Luca. Er lächelte und schloss die Augen. Schade, dass es schon dunkel geworden war, sonst hätte Masanari ihn mir schon heute gezeigt. Doch glücklich und zufrieden schlief er mit dem Wissen ein, dass er hier einen Freund gefunden hatte. Kapitel 6: Eine Menge Überraschungen ------------------------------------ Eine Menge Überraschungen Luca wachte schon früh am Morgen auf. Selbst nach vier Tagen in Kailu hatte er sich immer noch nicht daran gewöhnen können, auf einer harten Decke, die auf dem Boden lag, zu schlafen, und nicht in seinem gemütlichem Bett. Doch Luca wusste genau, dass er noch nicht zurück in seine Welt konnte. Einerseits weil er nicht wusste, wie er das anstellen sollte. Und selbst wenn er es wüsste, würde man vermutlich versuchen, ihn zurückzuhalten. Außerdem war er neugierig auf diese fremde Welt. Andererseits wusste er, dass er hier gebraucht wurde, dass er Kunan zum Sieg verhelfen konnte und dies war der eigentliche Grund, warum er hier bleiben wollte, denn Luca war von Natur aus schon immer hilfsbereit und abenteuerlustig gewesen. Also zog er sich verschlafen an und wollte gerade aus dem Zelt treten, als wieder das Mädchen kam, die Äpfel und einen Krug Wasser in der Hand hielt. Aber sie war nicht allein. Hinter ihr stand Canis. Er sah müde aus und Luca erinnerte sich wieder daran, dass der Hohe Rat noch mit Canis sprechen wollte, nachdem er gestern in ihrem Zelt den halben Tag verbracht hatte. „Was…“ Doch Canis schüttelte leicht den Kopf. „Ich kann dir nicht viel erzählen, Luca. Wir haben uns einen Plan ausgedacht, doch der ist nicht ganz ungefährlich.“ „Was für einen Plan?“, fragte Luca neugierig. Canis bedeutete dem Mädchen, das inzwischen die Äpfel und den Krug auf den Boden gestellt hatte, zu verschwinden. „Du brauchst das Amulett von Thana, da du nur damit zum vollwertigen Schattenreiter wirst“, fuhr Canis fort, nachdem sie weg war. „Das hat mir schon der Hohe Rat erzählt.“ Doch Canis ließ sich von Luca nicht beirren und sprach weiter. „Du musst mitkommen, denn du allein kannst das Amulett jetzt berühren, da es momentan auf seinen Herrn wartet und jeden anderen töten würde, von dem es berührt wird.“ „Muss ich alleine reisen?“, fragte Luca gespannt. Ihm wurde mulmig bei dem Gedanke, über die Berge von Nhabia zu gehen und dann noch gegen die Schergen von Paratas zu kämpfen. Canis überlegte kurz, sagte dann aber: „Natürlich musst du nicht alleine aufbrechen. Es können aber nur sehr wenige mit, da wir unentdeckt bleiben müssen, um nicht von Spionen entdeckt zu werden. Natürlich werde ich die Gruppe anführen. Einer meiner besten Leute kommt auch mit.“ Canis lächelte. „ Du kennst ihn bereits.“ Luca blickte ihn verwundert an. „Ich meine den Jungen, den du gestern kennen gelernt hast“ „Woher...“ „Woher ich das weiß? Masanari hat es mir selbst erzählt. Ich habe mit ihm schon alles besprochen. Zusätzlich – und zu unserem, besonders zu deinem Schutz- kommt noch ein weiterer Schattenreiter mit.“ „Es gibt noch mehr davon?“, fragte Luca. „Ist er auch aus meiner Welt?“ „Erstens ist dieser Schattenreiter eher eine Schattenreiterin und zweitens…“ „Was?!“, rief Luca entgeistert. „Ein Mädchen?“ Canis seufzte. „Lass mich bitte ausreden, Luca. Ja, Sayuri ist ein Mädchen, die aus Kunan stammt. Sie kann schon seit einigen Monaten die Schamanenkraft anwenden. Sie wird heute Nacht in Kailu eintreffen. Wir brechen also morgen früh auf.“ Er drehte sich um und wollte gerade hinausgehen, als er noch hinzufügte: „Sei bitte nett zu ihr, denn sie wird dich in dem Umgang mit der Magie unterrichten. Außerdem müsst ihr, wenn es ernst wird, Seite an Seite kämpfen.“ Er verschwand, ohne Luca die Gelegenheit zu geben, weitere Fragen zu stellen. Luca seufzte, trank noch einen Schluck aus dem Krug und ging aus dem Zelt. Er machte sich sofort auf den Weg zu Masanaris Zelt, das dieser ihm gezeigt hatte, als sie gestern hier vorbeigekommen waren. Masanari wartete schon. „Guten Morgen“, begrüßte er Luca und ging auf ihn zu. „Du bist spät dran.“ „Canis wollte noch mit mir sprechen.“ Luca grinste. „Er hat mir erzählt, dass du morgen früh auch mitkommst.“ Masanari nickte. „Das stimmt. Aber jetzt zeige ich dir meinen Lieblingsplatz. Komm!“ Luca ließ sich von seinem neuen Freund durch Kailu führen, bis - nach einem Farbumschlag von rosa nach tannengrün- vor ihnen eine Waldung auftauchte. Auf einem kaum sichtbaren Pfad gingen sie so lange, bis Luca ein leises Plätschern hören konnte. Masanari trat vom Weg ab und schlug sich durch das Gebüsch. „Dürfen wir hier lang?“, fragte Luca, dem unwohl in der Haut war, das Unterholz dieses Waldes zu zerstören. „Wir richten ja keinen großen Schaden an“, antwortete Masanari. „Sie nur.“ Er deutete auf die Äste eines Busches vor sich, bevor er auf ihn zuging. Luca konnte sehen, wie der Haselnussstrauch Masanari auswich. Als sie ihn hinter sich gelassen hatten, warf er einen Blick zurück und konnte gerade noch mit ansehen, wie der Busch seine Äste wieder schloss. Er schaute wieder nach vorne und einen ihnen Platz machenden Busch später konnte Luca erkennen, woher das Plätschern kam. Sie befanden sich auf einer Lichtung, umgeben von dichtem Geäst. Bäume mit weit ausladenden Ästen standen vereinzelt herum, zwischen denen sich ein Bach schlängelte. Luca hatte noch nie so schöne und prächtige Bäume gesehen wie diese hier. Auch das Wasser des Baches war so klar, dass Luca, als sie sich ihm näherten, auf den Grund blicken konnte. Masanari setzte sich und deutete Luca sich auch hinzusetzen. Mit Freuden befolgte dieser die Bitte. „Hier komme ich immer hin, wenn ich Ruhe brauche“, erklärte Masanari. „Dies ist der beste Ort in Kailu zum Entspannen.“ „Wie haben uns die Büsche Platz machen können?“, fragte Luca ohne auf Masanaris Aussage einzugehen. So langsam fing er an zu glauben, sich in einer anderen Welt zu befinden. Denn sich bewegende Büsche hatte er noch nie gesehen –außer in Science-Fiction-Filmen. „Warum sollten sie uns nicht den Weg frei machen?“ Luca starrte ihn an. Masanari fing an zu lachen. „Sie wollen schließlich nicht, dass wir ihre schönen Äste und Blüten zerstören. Außerdem ist es höflich.“ „Machen das alle Pflanzen in Kunan?“ „Nein, nicht alle. Einige machen es aus Höflichkeit, andere nur manchmal. Aber du musst aufpassen“, fügte er warnend hinzu. „Es gibt auch einige Scherzbolde, denen es Spaß macht, dich zu Fall zu bringen. Nur sehr wenige stechen und schlagen sogar auf dich mit ihren Dornen und Ästen ein.“ „Kann man erkennen, wer so etwas tut?“, fragte Luca. Es war wohl das Beste, sich hier über Pflanzen auszukennen, damit er nicht von einer erstochen oder erschlagen wurde. „Die Höflichsten sind zum Beispiel Haselnusssträucher, Beeren und Hecken, aber besonders aufpassen würde ich bei Brennnesseln und Dornenbüschen. Die sind besonders mordlustig.“ Luca schluckte. „Aber keine Angst“, beschwichtigte Masanari seinen Freund. „Ich werde dir auf unserer Reise mit Rat und Tat helfen.“ Luca nickte dankend. Kunan schien wirklich allerhand parat zu haben, ihn zu überraschen. Luca seufzte. Jetzt fehlt nur noch, dass Tiere anfangen zu sprechen, dachte Luca. Ein Rascheln hinter ihnen holte Luca aus seinen Gedanken. Er drehte sich um und sah, wie etwas Kleines auf sie zuflitzte. Bei ihnen angekommen sprang es Masanari so wild an, dass Lucas Freund auf den Rücken fiel. Nun konnte Luca auch erkennen was es war, der Masanari im Moment das Gesicht abschleckte. Es war ein Hund. Er hatte pechschwarzes, langes Fell und einen nach oben gebogenen Schwanz, mit dem er herumwedelte. Masanari ließ den Hund einen Moment gewähren, schob ihn dann jedoch von seinem Körper. Der Hund setzt sich hin und beobachtete Luca mit seinen pechschwarzen Augen. „Das ist Shima“, erklärte Masanari. „Sie ist meine beste Freundin. Shima, das ist der Schattenreiter Luca. Er hat mich vor Ferim gerettet.“ Kaum waren diese Worte ausgesprochen, sprintete die Hündin auf Luca zu, schmiss ihn um und wiederholte das gleiche ich-mag-dich-Verfahren an ihm. Luca wollte sie von sich runter schieben, doch Shima war stärker. Sie legte sich sogar auf seinen Bauch und leckte hartnäckig weiter. Masanari lachte und sagte: „Das reicht, Shima!“ Shima gehorchte, setzte sich neben Luca und sah ihn schwanzwedelnd an. Dieser wischte sich mit seinem Ärmel das Gesicht ab, doch es fühlte sich immer noch feucht und klebrig an. „Wer ist eigentlich Ferim?“, fragte Luca. „So heißt der Wirt, vor dem du mich gestern gerettet hast.“ „Kennt sie ihn?“ Luca fing an, Shimas Fell zu streicheln. Es fühlte sich weich an. „Ja“, antwortete Masanari. „Sogar sehr gut. Sie hat ihn schon öfter beklaut als ich ihn – und das will was heißen“, fügte er noch hinzu, sagte dann aber ernster: „Deshalb lebt sie hier im Wald. Hier finden sie die Menschen nicht, die von ihr beklaut wurden.“ „Ein gutes Versteck.“ Masanari nickte und lächelte. „Wir passen gut zusammen, nicht wahr?“ Shima bejahte dies durch einen kräftigen Beller. „Versteht sie uns?“ Luca musste an die Reaktion der Hündin denken, als Masanari die Sache mit dem Wirt erwähnt hatte. „Aber ja. Sie ist ziemlich klug. Nur ich kann sie kaum verstehen.“ „Ich hatte auch mal einen Hund. Er war genau so schön wie du, Shima“, sagte Luca. Shimas Augen leuchteten. Kapitel 7: Die Fremde --------------------- Die Fremde Sie blieben noch eine Weile und redeten miteinander. Luca erfuhr, dass Masanaris Vater in Narac, eine wichtige Handelstadt für Kunan, eine Schmiede hatte. „Aber warum bist du hier und nicht bei deinem Vater?“, fragte Luca nach. Masanari blickte traurig auf den Bach, der ruhig dahinplätscherte und antwortete: „Er ist einige Jahre nach meiner Geburt von hier weg -gegangen. Ich kenne ihn also kaum.“ Doch nun wollte Luca mehr erfahren. „Aber warum ist er fortgegangen, wenn er hier doch seine Familie hatte?“ Masanari schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht“, sagte er nachdenklich. „Vielleicht hatte er Ärger mit meiner Mutter. Aber sie selbst hat ihn nie erwähnt. Nur als ich einmal nachfragte, wo denn mein Vater wäre, antwortete sie nur, er hätte eine Schmiede in Narac. Woher sie das wusste, habe ich bis heute noch nicht erfahren.“ Masanari stand auf. „Komm, wir gehen.“ Luca streichelte Shima ein letztes Mal. „Tschüss, Shima. Hat mich sehr gefreut, dich kennen gelernt zu haben.“ Shima bellte kurz und schaute ihnen traurig nach, wie die beiden Jungen den Wald betraten und sich zurück durch das Dickicht schlugen. Doch als sie gerade ein paar Schritte auf dem Pfad gelaufen waren, hörten sie plötzlich das laute Gejaule eines Hundes. Masanari und Luca sahen sich erschrocken an. „Was…“, doch Luca packte Masanari am Arm und zog ihn zurück zur Lichtung. Dort angekommen sahen sie Shima, die ausgestreckt auf dem Boden lag. Offenbar war sie bewusstlos, denn sie rührte sich nicht, als Masanari ihren Namen rief. Die Freunde stürzten auf sie zu. „Was ist hier passiert?“, fragte Luca. Masanari hockte sich hin und betrachtete eine lange Wunde an der Seite der Hündin, die stark blutete. „Oh, Shima, wer hat dir das angetan?“ Tränen standen in seinen Augen. Luca blickte sich um, konnte jedoch nichts entdecken. Aber er spürte etwas in sich, was er nicht kannte. Es war eine Mischung aus Furcht und dem Gefühl, als ob er beobachtet werden würde. Er blickte gen Himmel und was er dort sah, hatte er noch nie gesehen. Es war eine Art Drache in der Größe eines Pkws mit schwarzen Flügeln, der mit rot leuchtenden Augen auf sie herabblickte. Sein mit Stacheln besetzter Schwanz peitschte in der Luft. Luca wollte gerade Masanari darauf hinweisen, dass er wüsste, wer die Hündin angegriffen hatte und sie wahrscheinlich als Nächstes dran waren, wenn sie nicht sofort von hier verschwanden, da machte der Drache sein Maul auf, – Luca blickte auf rasiermesserscharfe, dünne Zähne- und brüllte markerschütternd. Es war nicht mehr nötig, Masanari darauf hinzuweisen, denn dieser schaute nun erschrocken hinauf in den Himmel. „Was…“, doch mehr kam nicht aus ihm heraus. Auch Luca war nach diesem Schrei wie versteinert. Er wollte Masanari packen, der Shima auf dem Arm hielt, um mit ihm zu flüchten, konnte sich aber nicht rühren vor Angst. Als das Wesen im Sturzflug auf sie zugeflogen kam, spürte Luca plötzlich kurz etwas Heißes an seiner Brust. Dies riss ihn aus seiner Angst. Er packte Masanari mit Shima noch rechtzeitig, bevor der Drache sie erreichte und stoss sie beiseite. Damit hatte er wahrscheinlich ihr Leben gerettet, denn dort, wo sie gestanden hatten, hatte der Drache eine lange Schneise an aufgerissenem Boden hinterlassen. Luca blickte sich nach dem Wesen um, musste jedoch nicht lange suchen, denn dieser kam erneut im Sturzflug auf sie zu. Dieses Mal konnte Masanari sich selbst retten. Er sprang nach rechts und Luca rettete sich nach links, was den Drachen anscheinend so verwirrte, dass er weiter geradeaus flog und in einen großen Baum hineinkrachte, vor dem die beiden eben noch gestanden hatten. Der Drache blieb benommen liegen. Masanari lächelte erleichtert. „Ich glaube, wir haben ihn besiegt.“ Er wollte schon vorsichtig auf das unheimliche Wesen zugehen, um es sich genauer anzusehen, doch Luca hielt ihn zurück. „Wir sollten besser von hier verschwinden und Hilfe holen, denn ich glaube, er wird bald wieder aufwachen“, sagte Luca unruhig. „Also gut“, sagte Masanari. „Du hast Recht. Außerdem braucht Shima dringend ärztliche Hilfe.“ Er trug Shima immer noch auf dem Arm. Seine grüne Tunika war schon ganz rot von dem Blut aus der Wunde. Luca fragte sich, wie lange Masanari Shima überhaupt noch tragen konnte, traute sich aber nicht nachzufragen, ob er sie für ein kurzes Stück nehmen sollte. Denn er wusste, dass dieser ablehnen würde. Er war viel zu stolz, um Hilfe anzunehmen. Der Schwanz des Drachen zuckte. Luca sah Masanari erschrocken an und sie liefen so schnell wie sie konnten durch das Dickicht zurück zum Pfad. Aber Luca war so in Panik, dass er nicht bemerkte, dass sie an einem Dornenbusch vorbeiliefen, der ihnen einen Zweig entgegengestreckt hatte, den Masanari wie im Schlaf übersprang. Doch Luca, der die schreckliche Angewohnheit dieser Büsche ganz vergessen hatte, stolperte darüber und fiel hin. Er rappelte sich schnell auf und lief hinter Masanari her. Als sie aus dem Wald herauskamen, hörten sie erneut diesen Schrei; Luca drehte sich im Laufen um und blickte auf den Drachen, der zum dritten Mal auf sie zugeflogen kam. „Schneller!“, rief Luca. Masanari hatte sich auch umgedreht, als der Schrei des Ungeheuers erklang, doch plötzlich strauchelte er, fiel hin und ließ Shima fallen, um sie nicht unter sich zu begraben. Luca, der die ganze Zeit dicht hinter ihm gelaufen war, konnte nicht mehr abbremsen und fiel über ihn. Jetzt ist es aus, dachte Luca. Doch es passierte etwas, womit er nicht gerechnet hatte. Der Drache öffnete sein Maul und war schon gefährlich nahe, als blendend helles Licht – wie das eines großen Blitzes- Lucas Augen blendeten; dann ein Knall. Das Ganze kam ihm so vor wie in Zeitlupe. Als Luca wieder etwas sehen konnte, lag der Drache einige Meter ausgestreckt vor ihnen. Luca und Masanari starrten ihn irritiert an. „Was war das“, fragte Masanari vorsichtig. Luca ging einige Schritte näher an den Drachen. „Ich würde nicht so nah an ihn herangehen, Luca. Er könnte noch leben.“ Doch Luca ging nicht auf die Worte seines Freundes ein, der sich zu Shima heruntergebeugt hatte. Stattdessen blickte er auf den Drachen. „Das kann er nicht mehr“, sagte Luca nachdenklich. „Er ist nämlich tot.“ „Wie?“ Masanari kam ungläubig näher und auch er brauchte nicht lange, um zu erkennen, dass das Wesen ihnen nichts mehr anhaben konnte. „Aber er hat doch keine Wunde.“ Luca sah seinen Freund an. „Ich weiß nicht wie, aber ich glaube, dass das helle Licht und der Knall eben etwas damit zu tun haben.“ Er sah sich suchend um. „Irgendwer muss uns geholfen haben…“ Masanari nahm Shima auf den Arm und sagte: „Komm lass uns gehen. Dieses Ding ist mir unheimlich.“ Sie wollten sich gerade umdrehen, um von hier zu verschwinden, als sie ein Rascheln hörten. Die beiden Jungen starrten ängstlich Richtung Wald. Luca hoffte, dass es nicht noch ein unheimlicher Drache war. Doch er irrte sich. Es war ein Mädchen. Sie hatte langes kastanienbraunes Haar, das sie mithilfe eines Bandes zu einem Zopf gebunden hatte und trug eine hellbraune Bluse und einen Rock mit einem Gürtel, an dem eine kleine Tasche befestigt war. Die Fremde kam auf sie zu. „Seid ihr in Ordnung?“ Sie sprach mit weicher Stimme. Luca nickte. Zu mehr war er nicht zustande, denn der Schreck von eben saß immer noch in seinen Gliedern. Mit einem kurzen Blick zur Seite konnte er feststellen, dass Masanari das Mädchen mit offenem Mund anstarrte. Er sah aus den Augenwinkeln, dass sie das noch nicht mitbekommen hatte, seufzte innerlich auf und versuchte, seinen Freund unauffällig darauf aufmerksam zu machen, dass es unhöflich sei, jemanden so anzustarren – und schon gar kein Mädchen. Durch den harten, aber freundlichen Stoß auf seinen Rücken, wachte Masanari aus seiner Trance auf und blickte ungläubig umher. Er sah Luca fragend an, der aber nur leicht mit dem Kopf schüttelte, weil er jetzt keine Erklärung abgeben konnte. Dann blickte er wieder das Mädchen an – dieses Mal mit geschlossenem Mund. Luca gab es auf. Stattdessen fragte er: „Wer bist du?“ Die Fremde lächelte matt. „Das ist unwichtig.“ Luca war verwirrt. Warum wollte das Mädchen ihren Namen nicht verraten? War sie eine Diebin und durfte ihn deshalb nicht sagen? Oder war da noch etwas anderes? Während er so vor sich hingrübelte, fielen ihm wieder der Blitz und der plötzliche Knall ein. Er zögerte kurz, bevor er dann wissen wollte: „Hast du unser Leben gerettet?“ Die Fremde lächelte. „Du tust ja gerade so, als ob du lieber tot sein wolltest, als von mir gerettet zu werden.“ Luca blickte sie grimmig an. „Aber wenn ich es nicht getan hätte, wärest du es jetzt mit großer Wahrscheinlichkeit.“ Luca nickte. „Das stimmt, aber wie …“ „Wie ich ihn getötet habe?“ Sie deutete auf den Drachen und holte aus dem Beutel an ihrem Gürtel eine etwa tennisballgroße Kugel heraus. „Was ist das?“, fragte Masanari, der ausnahmsweise die Kugel studierte, statt die Fremde. Sie musste aus Eisen bestehen, denn sie glänzte metallisch. „Mit so einer Kugel, “ erklärte sie, „habe ich eben euer Leben gerettet. Sie ist von außen zwar nicht so hart, aber das Geheimnis so einer Blitz-Kugel liegt auch in ihrem Innern.“ Sie öffnete die Kugel, indem sie an ihr drehte, und Masanari und Luca konnten ein weißes Pulver erkennen. „Dieses Pulver erzeugt einen Blitz, der jedes Lebewesen töten kann. Ich brauche nur im richtigen Augenblick ein paar Wörter murmeln.“ Masanari sah wieder das Mädchen an. „Wer bist du?“, er erstaunt. Luca stöhnte innerlich auf. Hatte er denn gar nichts mitbekommen? Die Fremde steckte die Kugel wieder in den Beutel, lächelte den beiden kurz zu und verschwand hinter den ersten Zelten von Kailu noch bevor Masanari oder Luca reagieren konnten. Masanari starrte immer noch auf die Stelle, wo das Mädchen gestanden hatte. Luca stupste ihn vorsichtig an. „Äh…Masanari?“ Dieser schreckte zusammen. „Bist du verrückt?!“, rief er außer Atem. „Du hast mich zu Tode erschreckt.“ Luca schmunzelte. „Du hast die ganze Zeit nur das fremde Mädchen angestarrt.“ Daraufhin wurde er verlegen. „Naja, sie ist ja auch toll, oder?“ „Das finde ich ja auch“, lenkte Luca ein. „Doch man muss sie ja nicht so anstarren wie ein Affe im Zoo.“ „Was ist ein Zoo?“ Luca seufzte. „Ein Tierpark. Aber ist doch jetzt auch egal.“ Luca deutete auf Shima. Sie war immer noch bewusstlos, blutete aber nicht mehr. „Wir sollten sie zu einem Arzt bringen.“ Masanari nickte. Kapitel 8: Aufbruch ------------------- Aufbruch Nachdem Luca und Masanari Shima zu einem Arzt gebracht und sich versichert hatten, dass Shima es bei ihm gut hatte, da sie zur Beobachtung bleiben musste, machten sie sich auf die Suche nach Canis, um ihm von den Geschehnissen zu berichten. Zuerst war Luca dagegen, mit dieser Geschichte zu ihm zu gehen, da er immer noch annahm, dieses fremde Mädchen wäre eine Verbrecherin auf der Flucht und wollte sie deshalb nicht verraten. Doch Masanari machte seinem Freund mit einer langen Rede klar, wie wichtig der Angriff des Drachen für die Sicherheit war. Also beschlossen sie, das Mädchen nicht zu erwähnen und so zu tun, als ob sie den Drachen ohne Hilfe besiegt hätten. Luca schlug vor, zum Zelt des Hohen Rates zu gehen. Und tatsächlich. Als sie dort angekommen waren, trat Canis aus dem Zelt. Dieser erblickte die beiden sofort, kam lächelnd auf sie zu und sah ihre missmutigen Blicke. „Was ist denn mit euch los?“ Luca und Masanari tauschten verstohlen Blicke aus. Das entging Canis natürlich nicht. „Na los, spuckt’s aus.“ Masanari seufzte und fing an zu erzählen. Währenddessen wurde Canis’ Blick immer düsterer. Nachdem Masanari geendet hatte, schwieg Canis. Luca und Masanari sahen sich an. Masanari hatte alles haargenau erzählt, von dem Treffen mit Shima bis zu dem Punkt, wo sie Canis gefunden hatten. Natürlich hatte er die Fremde, die ihnen in Wahrheit das Leben gerettet hatte, mit keinem einzigen Wort erwähnt. Canis bedeutete den beiden, ihm zu folgen. Sie mussten fast rennen, um neben ihm zu bleiben. „Wenn das wahr ist, was du eben gesagt hast, Masanari, - was ich auch nicht bezweifle – haben wir jetzt ein großes Problem“, sagte er ernst. „Eigentlich war geplant, erst morgen aufzubrechen, aber unter diesen Umständen…“ „Was war das überhaupt für ein Wesen?“, rief Luca dazwischen. Canis blieb stehen. „Das war ein Nac, eine nicht zu unterschätzende Bestie aus Argolis. Deswegen wundere ich mich, dass ihr es ganz alleine mit ihm aufnehmen konntet.“ Er runzelte die Stirn. Luca wurde mulmig. Ahnte er was? Aber dieser fuhr ungerührt fort: „Sie werden von Paratas gezüchtet und sie gehorchen nur ihrem Meister. Ich fürchte, dieser Nac, der euch angegriffen hat, wurde geschickt, um dich zu töten, Luca.“ Luca schluckte. „So etwas habe ich schon geahnt. Aber wie hat Paratas erfahren können, dass ich hier bin?“ Canis schüttelte den Kopf. „Das weiß ich nicht. Wir dachten, du seiest hier sicher.“ Sie gingen weiter. „Aber jetzt sind wir klar im Nachteil. Wenn er erfährt, dass der Angriff des Nacs gescheitert ist, wird er noch mehr schicken. Deswegen brechen wir noch heute auf. Welch ein Glück, dass Sayuri eben eingetroffen ist. Ich war gerade auf dem Weg, sie zu treffen, als ihr auf mich gestoßen seid.“ „Aber was ist mit Shima?“, fragte Masanari. „Du kannst momentan nichts für sie tun. Sie ist klug, sie wird dich schon finden.“ Canis lächelte matt und wandte sich an Luca. „Ich würde vorschlagen, dass du deine Sachen packst.“ Luca schaute an sich herunter und sagte: „Das ist alles, was ich habe.“ „Na gut. Du findest in deinem Zelt aber einen Rucksack. Den solltest du mitnehmen. Ich erwarte euch in einer halben Stunde am Ost-Tor.“ Als sie eine halbe Stunde später am Ost-Tor ankamen, wartete dort schon Canis mit Sayuri. Luca und Masanari staunten nicht schlecht, als sie Sayuri als das Mädchen wiedererkannten, das ihnen den Nac vom Hals geschafft hatte. „Du?“, rief Masanari erstaunt. Sayuri lächelte, sagte aber nichts. Canis trat vor. „Ihr kennt euch?“, fragte er stirnrunzelnd. Nun war auch Sayuri verwirrt. „Haben die beiden Euch denn nichts von dem Nac erzählt?“ „Doch, aber…“ „Dann wisst Ihr bestimmt auch, dass ich den beiden das Leben gerettet habe, indem ich…“ Canis hob die Hände, um den großen Strom an Neuigkeiten abzuwehren, und sagte zu den Jungs: „Ihr habt mir eben doch noch erzählt, dass ihr ihn ohne Hilfe getötet habt – was ich euch ohnehin nicht so recht geglaubt habe. Warum habt ihr mir nicht die ganze Geschichte erzählt?“ Da Masanari unentwegt das Mädchen anstarrte, musste Luca auf diese unangenehme Frage antworten. Er überlegte kurz, um die richtigen Worte zu finden, doch dann beschloss er, seine damaligen Vermutungen über Sayuri zu erläutern. Als er geendet hatte, fing diese an zu lachen. Luca war es schon beim Erzählen unangenehm gewesen, dies zu äußern; doch jetzt war es ihm äußerst peinlich. „Ich, eine Verbrecherin?“, fragte sie amüsiert. Auch Canis lächelte. „Naja, eigentlich hast du ja Recht“, fuhr sie fort. „Früher – vor einigen Jahren- war ich wirklich eine Diebin, doch als ich erfahren habe, was ich wirklich bin, habe ich aufgehört zu stehlen.“ Das erleichterte Luca und er schaute zu Masanari, der sich sichtlich darüber freute, dass er mit Sayuri etwas gemeinsam hatte- nämlich das Stehlen. „Da auch das jetzt geklärt ist“, sagte Canis, „können wir ja jetzt aufbrechen.“ Er schaute hoch zur Sonne. „Wenn wir uns beeilen schaffen wir es noch bis heute Abend.“ „Was bis heute Abend?“, hakte Luca nach. „Unsere heutige Etappe“, sagte Canis so, als ob es das Normalste auf der Welt wäre. „Wir werden, wenn alles klappt, bei einem guten Freund von mir die Nacht verbringen. Ach ja, bevor ich es vergesse, ich sollte dir vom Hohen Rat noch dies hier geben.“ Canis holte etwas aus seiner Tasche hervor und hielt es Luca hin. Er nahm es. Ein türkiser kleiner Stein war durch einen dünnen Faden gefädelt worden. Luca hängte sich die Kette um den Hals. „ich weiß selbst nicht, wozu diese Kette gut sein soll“, fuhr Canis fort, „aber vielleicht ist es ja auch einfach nur ein Glücksbringer.“ Er lächelte. Sie gingen los. Sie kamen an bebauten Feldern und grünen Wiesen vorbei, auf denen Schafe, Kühe, Ziegen oder auch Pferde weideten. Als Luca die Pferde sah, fiel ihm etwas ein. „Warum reiten wir eigentlich nicht?“, fragte er Canis. „In diesem Punkt hast du bis zu einer gewissen Stelle Recht. Natürlich könnten wir reiten, um so schneller am Ziel zu sein, aber wir müssen viele Wege meiden.“ „Aber ich dachte, Argolis wäre von Kailu weit entfernt.“ „Das stimmt schon, aber Paratas hat Spione und wir müssen äußerst wachsam sein, was das betrifft.“ Er schmunzelte. „Aber keine Sorge. Wenn wir an den Bergen von Nhabia angekommen sind, werden wir wohl reiten müssen.“ „Wieso?“ „Weil dir sonst deine Füße abfrieren“, antwortete Masanari, bevor Canis etwas erwidern konnte. „Dort oben ist es sehr kalt und wir werden einige Tage bis zur Festung von Rhim Baldharr brauchen.“ An die Vorstellung, dass dort diese eisigen Temperaturen auf sie warteten, musste Luca sich noch gewöhnen. Er hasste die Kälte. Deswegen wollte er auch nicht mit ins Sauerland. Luca seufzte. Er musste an seine Eltern und seine Schwester denken, die momentan irgendwo in seiner Welt waren. Er fragte sich, wie es ihnen wohl ging und wie viel Zeit dort schon verstrichen war. Luca musste kurz überlegen, doch dann wusste er, wie viele Tage er schon hier war. Es waren ganze 4 Tage. Plötzlich stolperte er. „Alles in Ordnung?“, fragte Canis stirnrunzelnd, der Lucas Sturz gerade noch abgefangen hatte. „Ja, danke“, antwortete Luca und schalt sich innerlich. Aufgehalten von seinen Gedanken, hatte er nicht mitbekommen, dass sie mittlerweile auf einem Pfad, der so schmal war, dass sie gerade noch nebeneinander hergehen konnten, entlanggingen. Der Übeltäter, über den er gestolpert war, war ein dicker Ast eines Dornenbusches – wie Masanari ihm heute erzählt hatte. Auch Sayuri und Masanari schauten besorgt zu Luca. „Hat dir Masanari nicht erzählt, dass man bei Dornenbüschen wachsam sein muss?“, fragte Canis. „Doch“, erwiderte Luca genervt. „Aber ich musste nachdenken und habe nicht aufgepasst.“ Canis öffnete den Mund, um noch etwas zu sagen, schloss ihn aber wieder. Luca konnte dies nur recht sein. Er hatte keine Lust, dass Canis unangenehme Fragen stellte. Der Weg wurde nun so schmal, dass sie hintereinander gehen mussten. Canis führte die Truppe an. Danach folgte Luca, Sayuri und Masanari bildeten den Schluss und redeten über begangene Diebstähle. Masanari erzählte ihr auch von Shima. Luca fragte sich, ob Shima ihnen hinterherkommen würde, sobald sie gesund war. Ob sie wohl wusste, wo sie jetzt waren? Aber Luca wusste, dass es noch Tage dauerte, bis sie vollkommen gesund sein würde. „Wo hast du deinen Freund kennen gelernt?“, fragte Luca Canis nach einer Weile, um mit ihm ein Gespräch anzufangen. „Ich habe Enrico in Narac kennen gelernt. Er hatte dort eine Werft, wo ich einige Zeit gearbeitet habe. Sie ist aber vor einigen Jahren einem Feuer zum Opfer gefallen. Ich habe daraufhin angefangen, Nachforschungen anzustellen, weil ich es mir nicht vorstellen konnte, wieso die Werft angefangen hat zu brennen. Wir hatten dort genügend Fenster, sodass wir keine Lampen brauchten.“ „Also war es Brandstiftung?“ „Ja, von wem weiß ich nicht. Aber ich glaube, es war Paratas. Enrico hat Passagierschiffe gebaut, die ausschließlich dazu dienten, den Achandor hinaufzufahren. Das war der schnellste Weg, um zu Tamalia zu kommen, die letzte Stadt vor Nhabia.“ „Aber wieso ist Enrico hier und nicht in Narac?“ „Daran, dass die Werft verbrannt ist, hat er sein ganzes Geld verloren. Er hat mich gebeten, ihm zu helfen. Also habe ich ihm die Hütte gegeben, die ich von meinem verstorbenen Onkel geerbt hatte.“ „Warum wohnt er nicht in Kailu? Dort ist es doch bestimmt viel sicherer als mitten im Wald.“ Canis seufzte. „Du stellst mir aber ganz schön viele Fragen, Luca. Nun ja, Enrico ist seit dem Vorfall mit dem Brand nicht mehr so gerne unter Menschen; er vertraut ihnen einfach nicht. Er sieht in jedem nur das Schlechte, aber da ich sein einziger Freund zu dieser Zeit war– und immer noch bin- vertraut er mir. Bei dir wette ich aber, dass es anders sein wird.“ Canis drehte sich kurz zu Luca um, der ihn fragend ansah, und fuhr fort, um die Fragerei zu sparen: „Du siehst seinem verstorbenen Sohn ähnlich. Er ist bei dem Brand ums Leben gekommen. Dieser Junge war der einzige Tote.“ Luca schwieg. Wie würde seine Familie wohl reagieren, wenn sie erfahren würden, dass er hier in dieser fremden Welt gestorben wäre. Seine Schwester würde sicher einen Freudentanz aufführen, aber seine Eltern wären bestimmt sehr traurig. Er wusste jedoch seit dem Angriff des Nacs, dass sie- und besonders er- ständig in Lebensgefahr schwebten. Luca blickte auf Canis’ Schwert, der seine Hand auf dessen Griff gelegt hatte. Er wird uns beschützen, dachte Luca. Er war sich sicher, dass Canis hervorragend mit dem Schwert umgehen konnte. Der Wald um sie herum wurde immer dichter und dunkler, doch der Pfad, auf dem sie gingen, wurde breiter, sodass sie nach einer Weile wieder nebeneinander hergehen konnten. Masanari schilderte Sayuri offenbar hoch vergnügt seine Lebensgeschichte, doch Sayuri schien nicht so viel daran zu liegen, alle Einzelheiten seines Lebens zu erfahren, denn sie schaute missmutig drein. Luca lächelte und fragte sich, ob sich Masanari eigentlich im Klaren war, dass Sayuri ihm nicht zuhörte. Sie mussten noch einige Minuten auf dem Weg gehen, bis sie schließlich die Umrisse von zwei Gebäuden sahen. „Ah, endlich“, sagte Canis. „Wir sind da.“ „Was auch langsam mal Zeit wurde. Ich kann meine Füße nicht mehr spüren.“ Luca gab Sayuri innerlich Recht. Er war lange nicht mehr so weit gelaufen und durch die Lederschuhe konnte man jeden Stein spüren. Als sie näher herankamen, erkannte Luca, dass der erste Umriss zu der Hütte mit reetgedecktem Dach und einem Stockwerk gehörte, von der Canis ihm erzählt hatte. Rechts daneben stand mit etwas Abstand ein großer Schuppen. Canis ging auf die Holztür der Hütte zu, die anderen folgten ihm mit etwas Abstand. Er klopfte. Sie hörten, wie sich im Innern der Hütte jemand schlurfend in Bewegung setzte, hinter der Tür stehen blieb und murrend fragte: „Wer ist da?“ Canis lächelte matt. „Ich bin’s, Enrico.“ Die Tür ging auf und auf der Schwelle stand ein schon etwas älterer Mann, der auf seinen grauen Haaren einen mit Federn geschmückten Hut und dazu eine Fellweste trug. Luca fand, er sah aus wie ein Förster. Der Mann lächelte, als er Canis erblickte und trat ein Stück beiseite, um sie eintreten zu lassen. „Ich habe dich gar nicht erwartet, Canis.“ „Ich habe meinen Besuch auch nicht angekündigt.“ Als Luca an ihm vorbei ging, fiel Enricos Blick auf ihn. Luca spürte den stechenden Blick, versuchte ihn aber so gut es ging zu ignorieren. Er sah kurz in Enricos Augen, die leicht tränten. Canis hatte Recht, dachte Luca, ich sehe seinem toten Sohn wirklich ähnlich. „Setzt euch“, sagte Enrico mit zitternder Stimme und verschwand hinter einer Tür. Sie befanden sich im Wohnraum der Hütte, der anscheinend, neben einem Durchgang mit Vorhang zu einem kleineren Raum, der Einzige hier unten war. In der Mitte stand ein langer Tisch mit Stühlen, auf die sie sich setzten. Der Tür gegenüber befand sich ein Kamin, in dem noch einige Scheite glühten. Ansonsten war der Raum leer. Es gab noch nicht mal irgendeine Kommode oder ein Gemälde; die Hütte war nur mit dem Notwendigsten eingerichtet. Eine Öllampe über ihnen war neben dem Kamin die einzige Lichtquelle nachts. Enrico kam zurück, kurz nachdem sie Platz genommen hatten. Er hielt vier schmutzige Gläser und einen Krug in der Hand. Er stellte alles auf dem Tisch ab, setzte sich und musterte nun auch Masanari und Sayuri. „Das sind Masanari, Sayuri und Luca“, stellte Canis sie vor. „Wir sind auf dem Weg nach Nhabia.“ „Dann sind die Gerüchte also wahr“, murrte Enrico, während er Wasser in die Gläser füllte und jedem eins gab. Sayuri, Masanari und Canis nahmen sofort einen kräftigen Schluck, aber Luca fühlte sich unwohl dabei, aus einem so schmutzigen Glas zu trinken. Er war jedoch beinahe am Verdursten, also nahm er doch einen Schluck. Das Wasser war sehr kalt und schmeckte bitter. Luca stellte das Glas zurück auf den Tisch. „Welche Gerüchte?“, hakte Canis nach. Enrico beugte sich über dem Tisch zu ihm und flüsterte: „Du weißt doch bestimmt schon, dass sich der Sohn des letzten legendären Schattenreiters in Kunan befinden soll.“ Canis stöhnte auf. „Woher-“ „Woher ich das weiß? Canis, Paratas hat Truppen losgeschickt, die nach ihm suchen und ihn töten sollen, bevor er eine Gefahr für ihn wird. Heute Nachmittag kamen hier welche vorbei.“ „Seit wann sind sie weg?“ „Kurz, bevor ihr gekommen seid, sind sie Richtung Osten aufgebrochen.“ Canis atmete auf. „Da haben wir ja noch mal Glück gehabt.“ Enrico lehnte sich zurück. „Warum nehmt ihr genau den weiten Weg auf euch?“ Canis sah Luca an. Sein Freund brauchte einen Augenblick, bis er eins und eins zusammengezählt hatte. „Du meinst“, fuhr er leise fort, „er ist …“ Canis nickte ernst. „Er ist es. Es besteht kein Zweifel. Wir wollen zur Festung; dort befindet sich das Amulett von Thana. Erst dann haben wir eine Chance gegen Paratas.“ „Wenn es nicht bereits zu spät ist“, sagte Enrico stirnrunzelnd. „Ich habe gehört, dass ein Teil des Heeres in zwei Wochen aufbrechen wird, um Navamo anzugreifen.“ „Wie lange bleibt uns genau Zeit?“ „Ich schätze bis zum nächsten Vollmond, wenn nicht weniger.“ Canis nickte. „Unter diesen Umständen müssen wir uns beeilen.“ Er stand auf, auch die anderen erhoben sich. „Ihr könnt hier übernachten. Folgt mir.“ Enrico nahm die Öllampe vom Haken und führte sie nach draußen durch die Dunkelheit zum Schuppen. Er stoss die Tür auf und trat hinein. Mit Hilfe der Lampe zündete er eine weitere an, die neben der Tür auf einer hölzernen Kiste stand und überreichte sie Canis. Er murmelte noch etwas von wegen `Gute Nacht’, ging wieder hinaus und schloss die Tür hinter sich. Dann hörte Luca ein leises Klicken, beachtete es aber nicht weiter und studierte das Innere des Schuppens. Es gab nur einige Kisten und zwei Wolldecken, die lieblos auf eine der Holzkisten lagen. Ein Seil war lieblos in die Ecke geworfen worden. „Ich würde vorschlagen, dass sich Luca und Masanari eine Decke teilen und Sayuri auf der anderen schläft“, sagte Canis mit dem Anflug eines Lächelns. Luca und Sayuri fingen an, sich jeweils eine zu nehmen. Als Luca sie gerade neben einer Kiste ausbreiten wollte, tippte Masanari ihm auf die Schulter. „Nimm du ruhig die Decke für dich alleine, Luca. Ich schlafe auf dem Boden.“ „Möchtest du wirklich nicht? Ich hätte kein Problem damit.“ Masanari lachte. „Das ist nett gemeint, aber ich möchte trotzdem nicht – danke. Wolldecken waren mir immer schon zu unbequem.“ Canis setze sich auf eine Kiste, die neben der Tür in der Ecke stand und holte aus seiner Tasche ein paar Äpfel heraus, die er verteilte. Sie aßen schweigend und legten sich anschließend schlafen – außer Canis, der die Tür für alle Fälle bewachen wollte. Kapitel 9: Argolische Soldaten ------------------------------ Argolische Soldaten Erschrocken fuhr Luca auf, als jemand ihn wachrüttelte. Es war so dunkel im Schuppen, dass er nur Schemen erkennen konnte, doch die große Gestalt, die sich über ihn gebeugt hatte, war zweifellos die von Canis. Er wollte ihn nach dem Grund fragen, warum er ihn denn aufgeweckt hätte, doch Canis war schneller. „Zieh dich schnell an - und sei leise!“, flüsterte er schnell und weckte die anderen. Luca, der die Tunika und den kleinen Beutel mit der Münze vor ein paar Stunden erst ausgezogen hatte, zog sie wieder an. Nachdem er fertig war, gesellte er sich zu Canis und Masanari, der dabei beschäftigt war, mit einer Nadel im Schloss von der Tür herumzuwerkeln. „Was ist los?“, fragte Luca leise. „Enrico hat uns reingelegt“, sagte Canis ernst. Jetzt wusste Luca, was das Klicken war, das er gehört hatte, nachdem Enrico die Tür abgeschlossen hatte: Es war das Herumdrehen eines Schlüssels gewesen. Dass ihm das nicht schon vorher aufgefallen war! „Ich kenne von ihm ja, dass er fremde Menschen, die hier eine Zuflucht suchen, hier über Nacht einschließt, aber mit mir hat er das noch nie gemacht. Ich wette er hat uns an die Soldaten verraten.“ „Aber ich dachte, ihr beide seid Freunde?“ „Ja, das dachte ich auch. Ich schätze, dass die Soldaten ihn irgendwie bestochen oder bedroht haben müssen.“ Plötzlich hörten sie Stimmen. Sayuri, die am Fenster stand, rief aufgebracht: „Enrico ist gerade mit argolischen Soldaten rausgekommen und redet jetzt dort vor der Hütte mit ihnen.“ Luca ging zum Fenster. Im Licht der Lampe, die Enrico in der Hand hielt, erkannte er die Soldaten aus Argolis sofort. Sie trugen dunkelrote, leichte Rüstungen und hatten lange Schwerter in der Hand. Luca sah, dass Enrico mit der Laternenfreien Hand auf den Schuppen deutete. Die Soldaten schauten in diese Richtung. Sie sahen genau in Lucas Augen. Zumindest war es für Luca so, doch er wusste, dass sie ihn hier in der Dunkelheit unmöglich erkennen konnten. „Geschafft!“, rief Masanari leise. „Die Tür ist offen.“ „Canis, wie sollen wir hier unbemerkt rauskommen“, fragte Luca. „Wir kämpfen.“ „Aber ich habe keine Waffe und ich glaube, dass wir gegen die keine Chance haben.“ „Du brauchst keine Waffe. Bleib mit Masanari einfach hier. Und schau gut zu“, Canis lächelte, „dann lernst du was.“ Er sah Sayuri an, diese nickte, schloss die Augen und formte mit ihren Fingern ein Muster, das aussah wie ein Dreieck, murmelte ein paar Worte und verschwand. Sie verschwand aber nicht einfach so durch die Tür; sie war auf einmal nicht mehr da. „Das lernst du noch“, sagte Canis lächelnd, als er Lucas Erstaunen sah. Luca sah aus dem Fenster. Die Soldaten waren nur noch einige Meter neben dem Schuppen, als ein markerschütterndes Knurren sie erschaudern ließ. Sie sahen sich um, konnten aber nichts entdecken. Auch Luca spähte über die Lichtung, auf der die Hütte und der Schuppen standen. Plötzlich sprang etwas Rotes in den Lichtkegel der Lampe, die Enrico nun zitternd festhielt. Es bewegte sich so schnell, dass Luca nicht erkennen konnte, was es war. Eins stand aber schon mal fest: egal, was es war, es war riesig. Es musste mindestens 2 Meter hoch sein. Die Soldaten versuchten mit ihren Schwertern auf das Wesen einzuschlagen, verfehlten es aber ständig und einer nach dem anderen wurde von etwas großem am Kopf getroffen; alle lagen reglos auf der Erde. Nur Enrico stand noch zitternd aufrecht. Das Wesen blieb kurz vor ihm stehen und Luca konnte endlich erkennen, was es war. Es war ein Hund. Zumindest musste es ein Hund sein. Es hatte Pfoten wie ein Hund, ein Kopf wie ein Hund und es hechelte wie ein Hund. Das einzige, was Luca durcheinander brachte, war die Größe und die Art, wie das Fell bei ihm abstand und sich bewegte, als ob es nicht aus Haaren sondern aus großen Schlangen bestand; er hatte noch nie im Leben so einen großen auffallenden Hund gesehen. Masanari packte ihn am Arm und zog ihn nach draußen. Er wandte seinen Blick von dem Riesenvieh ab und suchte Canis, der, nachdem der Hund aufgetaucht war, nach draußen gegangen war. Er sah ihn nicht und auch von Enrico fehlte jede Spur, er hörte aber laute Stimmen, die aus der Hütte kamen. Sie schienen sich zu streiten. Masanari beugte sich über die Soldaten, um sicher zu gehen, dass sie auch wirklich tot waren. Er blickte wieder zum Hund, neben dem Sayuri stand, die ihn an seinem heruntergelassenen Kopf streichelte. Und jetzt erkannte Luca, warum ihm das Fell so eigenartig vorgekommen war. Es bestand aus Flammen. Sie erleuchteten alles im Umkreis von etwa fünf Metern. Doch abgesehen von den Flammen wirkte er nicht mehr so angriffslustig wie noch vor ein paar Minuten. „Was ist das für ein Hund?“, fragte Luca vorsichtig. „Das ist mein Geist “, antwortete Sayuri schmunzelnd. „Sehen alle Geister so …überdimensional groß aus?“ „Nein, Botan war schon immer so groß. Er ist ein Höllenhund.“ Luca ging vorsichtig auf ihn zu. Nun stand er nur noch einige Zentimeter neben Botan und Sayuri, die ihn immer noch streichelte. Jetzt aus der Nähe spürte Luca die Wärme, die von dem Riesenvieh ausging. „Wie kannst du ihn eigentlich streicheln?“, fragte Luca Sayuri. „Meinst du wegen den Flammen?“ Sie lächelte. „Keine Sorge, sie brennen nicht; sie kitzeln eher. Probier’s ruhig aus.“ Und tatsächlich. Als Luca anfing, Botans Hals zu streicheln, spürte er ein leichtes Kitzeln an seinen Händen; er musste sich allerdings strecken, um an den Hals zu kommen. Hinter sich hörte er die Tür der Hütte aufgehen. Luca hörte auf, den Höllenhund zu streicheln, drehte sich um und sah, wie Canis mit einem ernsten Gesichtsausdruck auf sie zukam. „Canis, was ist mit Enrico?“, fragte Masanari. „Er hat mir eben gesagt, wie leid es ihm tut.“ Canis seufzte. „Wie ich vermutet hatte, haben ihn die Soldaten bedroht. Sie wussten von meiner Freundschaft mit Enrico – fragt mich nicht, woher sie das wissen. Sie haben gedroht, diese Hütte anzuzünden oder ihn zu töten, wenn er nicht mit ihnen kooperieren wollte. Er hatte keine andere Wahl.“ „Aber er wusste doch gar nicht, dass wir kommen.“ „Ich habe dir heute Morgen ja schon gesagt, dass ich keine Ahnung habe, woher Paratas seine Informationen bekommt. Vielleicht gibt es einen Spion in Kailu, oder er benutzt schwarzmagische Kräfte. Aber darüber brauchen wir uns im Moment nicht zu sorgen. Der Hohe Rat wollte sich darum kümmern und uns per Bote Bescheid geben, wenn sie etwas erfahren. Jetzt beseitigen wir erst einmal dieses Chaos, das Botan veranstaltet hat.“ Canis lächelte und rieb sich die Hände. Sayuri sah ihn entrüstet an. „Sayuri, könntest du Botan damit beauftragen, Enrico und die Soldaten nach Kailu zu bringen?“ Sayuri nickte. Canis wandte sich an Masanari und schlug ihm vor, ihre Vorräte mit Enricos Vorratsschrank zu vergleichen und die besten Dinge einzupacken. Als Masanari in der Hütte war, hockte er sich zu den bewusstlosen Soldaten. „Luca, hole doch bitte das Seil aus dem Schuppen; damit können wir die Soldaten fesseln.“ Luca nickte und lief zum Schuppen, nahm das Seil und rannte zurück zu Canis. Gemeinsam fesselten sie die argolischen Soldaten im Licht von Botans Flammen, ohne ein Wort zu sagen. Luca blickte dabei einige Male zu Canis. Obwohl er eben fröhlich die Aufgaben verteilt hatte, hatte Luca den Eindruck, dass es ihn härter getroffen hatte, als er zugeben wollte. Er wusste, wie es war, von seinem besten Freund reingelegt worden zu sein. Luca seufzte innerlich. Er fühlte sich zudem mitschuldig. Wäre er nicht in Kunan gelandet, hätten die argolischen Soldaten Enrico nicht bestochen und die Freundschaft zwischen Canis und ihm müsste jetzt nicht auf so eine Bewährungsprobe gestellt werden. Kapitel 10: Regen ----------------- Regen Schwere Tropfen fielen aus dunklen Wolken auf sie herab; in der Ferne war vereinzelt Donnergrollen zu hören. Luca schaute auf. Durch seine durchnässten Haare, die ihm wild im Gesicht hingen und den dichten Regen sah er die schwarzen Gewitterwolken über ihnen, die schon den ganzen Tag ihre schwere Last abluden. Es war ein Tag vergangen, nachdem Botan mit den Gefangenen und einer Nachricht an den Hohen Rat, in der einige Erklärungen über die Geschehnisse aufgeführt waren, nach Kailu aufgebrochen war. Seitdem wurden sie von Canis durch den dichten Wald geführt. Die kleine Gruppe machte keine Pause, da Canis befürchtete, dass noch mehr argolische Soldaten in der Nähe waren. Außerdem wussten Luca, Masanari, Sayuri und Canis genau, dass sie nicht mehr viel Zeit hatten. Paratas’ Heer würde in ein paar Wochen aufbrechen, um Kunan anzugreifen. Bis dahin musste Luca das Amulett von Thana haben. Plötzlich strauchelte Sayuri. Sie war so erschrocken, dass sie sich nicht mehr auffangen konnte und fiel auf Luca, der vor ihr ging. „’tschuldigung“, rief sie hastig und rappelte sich auf. „Macht doch nichts.“ Luca blickte verwirrt zu Sayuri, die ihm nun verlegen eine Hand hinstreckte. Luca nahm ihre Hilfe dankend an und wischte sich den Schlamm aus dem Gesicht. „Ich glaube, wir sollten eine Pause einlegen“, sagte Canis. Sie nickten dankbar. Luca blickte durch den Regen zu Canis und sah, dass er genauso erschöpft war wie sie. Schweigend bauten sie zwischen hohen Bäumen ihre Zelte auf, die sie aus Kailu mitgenommen hatten. Sayuri und Canis hatten jeweils ein Zelt für sich alleine, während Luca sich seins mit Masanari teilen musste, das jedoch etwas größer war als das der anderen. Sie mussten allerdings eine Akazie höflich darum bitten, ihre Wurzeln etwas anzuziehen, da sie sonst keinen Platz hätten. Nach kurzer Zeit – und mehrmaligem Bitten – standen ihre Zelte und Canis versprach ihnen, sie rechtzeitig zu wecken, bevor sie wieder aufbrechen würden. Nur der Regen war zu hören, der auf das dichte Blätterdach über ihnen trommelte/tröpfelte/prasselte, als sich Luca und Masanari in ihre Decken einwickelten. Luca wollte noch ein kurzes Gespräch anfangen, doch Masanari gab nur knappe Antworten, sodass Luca es schnell aufgab und ihn in Ruhe ließ. Er drehte sich um und schloss die Augen. Erst jetzt fiel ihm auf, wie müde er war; er schlief sofort ein. Er ging. Zumindest glaubte er, dass er ging, denn er spürte, wie sich seine Beine fast von alleine bewegten. Wohin er ging wusste er nicht. Er konnte nichts sehen; alles um ihn herum war schwarz. Er blickte nach unten. Auch dort war nur Schwärze. Er wusste, dass er jemanden finden musste. Er ging weiter und weiter; denken konnte er nicht. Nach einer Ewigkeit, so kam es ihm vor, entdeckte er vor sich einen schwachen Lichtschimmer. Er machte den Mund auf, um etwas zu rufen, doch kein ton kam heraus. Seine Beine trugen ihn wie von alleine in die Richtung, aus der dieses geheimnisvolle Leuchten kam. Je näher er kam, desto stärker und größer wurde es. Es war so groß wie ein Fußball und leuchtete so stark wie ein Rampenlicht, als er anhielt. Er wollte nicht direkt in die Lichtkugel schauen, aus Angst, seine Augen würden dem Licht nicht standhalten, doch sein Kopf und seine Augen bewegten sich von allein. Doch wie durch ein Wunder konnte er mühelos in das Licht schauen, ohne, dass ihm seine Augen wehtaten. Es war wunderschön und warm. Er fühlte sich, als ob er der glücklichste Mensch wäre, den es je gab. Plötzlich hörte er etwas. Nein! Er dachte, er würde etwas hören, denn die kindliche Stimme schien direkt in seinem Kopf leise, fast flüsternd, zu sagen: „Luca.“ Schweißgebadet wachte Luca auf. Er keuchte. So einen Traum hatte er noch nie gehabt, der ihm so unheimlich und etwas real vorkam. Wer hatte ihn gerufen und vor allem, warum? Tausende von Fragen schwirrten in seinem Gehirn herum. (Luca packte sich an den Kopf, um die Kopfschmerzen etwas zu lindern.) Im Licht des Mondes griff er nach seinem Beutel mit Wasser und nahm einen großzügigen Schluck. Plötzlich hörte Luca draußen ein Rascheln. „Masanari?“, fragte er leise und blickte dorthin, wo Masanari sich noch vor ein paar Stunden hingelegt hatte. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er weg war. Luca legte den Beutel wieder neben seinen Rucksack und kroch aus dem Zelt. Es war mitten in der Nacht, doch es hatte aufgehört zu regnen. Er sah nach oben. Dunkle Wolkenfetzen verdeckten den Vollmond und einige Sterne. Er beschloss, die Richtung einzuschlagen, aus der das Rascheln kam. Leise schlich er an Sayuris und Canis’ Zelte vorbei und ging weiter. Er musste nicht lange gehen, bis er ein Plätschern hörte. Als er näher herankam, erkannte er, dass es ein Bach war. Aus den Augenwinkeln sah er eine Bewegung. Er drehte sich um und entdeckte eine große dunkle Gestalt, die neben dem Bach auf einem Stein hockte. Luca ging auf sie zu. Masanari drehte sich um, als er Lucas Schritte hörte. Trotz des wenigen Lichts war zu erkennen, dass ihn irgendetwas bedrückte. „Hey“, begrüßte er Luca matt, rutschte ein Stück und Luca setzte sich neben ihn. Der Stein war kalt, doch das machte ihm nichts aus. Eine frische Brise fuhr ihm durchs Gesicht, als er, den Blick auf Masanari geheftet, fragte: „Was machst du hier?“ Masanari hatte Luca bis jetzt noch nicht richtig angesehen und so starrte er weiter auf den Bach, der ein paar Meter neben ihnen dahinplätscherte. „Ich konnte nicht schlafen“, murmelte er als Antwort. Luca schwieg. Er wusste, dass Masanari irgendetwas beschäftigte, doch er wollte nicht weiter fragen. Er überlegte jedoch, ob er ihm von seinem Traum erzählen sollte. Einerseits wollte er es jemandem erzählen, der ihm vielleicht Antworten geben konnte, der mehr über diese Welt und seine Geheimnisse wusste. Andererseits spürte er, dass Masanari lieber alleine sein wollte. Schnell kam er zu einem Entschluss. „Ich hatte einen Traum“, begann er, hielt jedoch inne, als Masanari sich vom Stein erhob und zum Bach ging. Er bückte sich, hob einige Steine auf, die am Bachufer verstreut herumlagen, und ließ einen ins dunkle Wasser fallen. Ein Platschen war zu hören. „Erzähl“, sagte Masanari, den Rücken weiter zu Luca gewandt. Schnell beschrieb er seinen Traum, der ihm immer noch so unheimlich war. Als er geendet hatte, wartete er, dass Masanari etwas sagte, doch auch er schwieg. Einen Moment herrschte Stille. Nur ab und zu unterbrach ein Platschen die bedrückende Stille, das davon herrührte, dass Masanari weitere Steine in den Bach warf. Luca wollte gerade vom Stein aufstehen, als Masanari sich zu ihm umdrehte, und so blieb er da sitzen, wo er war. „Kanntest du diese Stimme?“ fragte er, Luca ansehend. Luca dachte nach. Ob er diese Stimme kannte… „Nein“, fing er nach einer Weile zögernd an, „aber sie kam mir etwas…vertraut vor. Warum?“ „Ich habe gehört, dass Schattenreiter, naja, besondere Träume haben. Sie können von Dingen träumen, die sonst keiner wahrnimmt“, fügte er hinzu, als er Lucas verdutztes Gesicht sah. „Aber du solltest Canis davon erzählen, er weiß mehr über Schattenreiter.“ Luca nickte. Zusammen kehrten sie zum Lagerplatz zurück und da es noch dunkel war, beschlossen sie, sich wieder schlafen zu legen. Dieses Mal dauerte es eine Weile, bis Luca eingeschlafen war. Er musste immer noch über Masanaris Frage nachdenken. Es war eine sehr berechtigte Frage gewesen, die ihm noch gar nicht in den Sinn gekommen war. Luca wusste genau, dass er die Stimme aus seinem Traum kannte, aber woher? Keiner in seiner Familie oder von seinen Freunden hatte so eine kindliche Stimme! Luca versuchte zu schlafen, um wieder zu träumen, doch dieses Mal träumte er nichts. Als er wieder aufwachte, fiel die Sonne auf das Zelt und ein mattes Grün fiel auf sein Gesicht. Luca blickte zur Seite, wo Masanaris Schlafplatz war, doch er war leer. Hastig zog er sich an und kroch aus dem Zelt. Er musste die Augen zusammenkneifen, denn die Sonne schien ihm mitten ins Gesicht. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)