Fabulae vitae... von -_AliceCullen_- (Geschichten des Lebens...) ================================================================================ Kapitel 1: Oudemia ------------------ Sie wusste, dass niemand auf ihrer Beerdigung um sie trauern würde. Zumindest nicht aufrichtig. Alle standen sie um ihren Grab, in das sie gerade herabgesenkt wurde, mit bedrückten Gesichtern. Doch niemand weinte um sie. Wie auch? Keiner hatte sie auch je wirklich gekannt… In der Schule hatte sie teils aus Enttäuschungsangst, teils aus Faulheit keine echten Freunde. Sie war immer einer derjenigen, die nicht wirklich wahrgenommen wurden. Sie war immer einer der zuletzt gewählten Personen bei irgendwelchen Spielen gewesen. Ihre Noten waren durchschnittlich. Sie fiel eigentlich nur dadurch auf, dass sie immer nur schwarz gekleidet war. Die Lehrer unternahmen nichts gegen sie. Wozu auch? Sie verstieß nur selten gegen die Regeln. Da ihre Eltern beides Einzelkinder und ihre Großeltern vor ihrer Geburt gestorben waren, hatte sie keine weiteren Verwandten außer ihren Eltern. Diese lebten schon seit Jahren im Ausland und getrennt. Sie schickten ihr jeden Monat Geld für ihre Wohnung und Verpflegung. Sie schickten auch ab und an eine Karte zu Weihnachten, doch konnte sie sich nicht daran erfreuen. Es war kein Gefühl dahinter. Damit sie mehr Geld zur Verfügung hatte, ging sie neben der Schule zur Arbeit. Ihr Boss war der Teufel in Person. Er schikanierte und belästigte sie sexuell. Keiner ihrer Kollegen oder Kolleginnen unternahm etwas. Sie waren alle zu feige und fürchteten sich bloß um ihre eigene Haut. Und da sie keine sonstigen Aktivitäten hatte, kannte sie auch niemand durch irgendwelche Jugendtreffs oder Ähnliches. Sie war Mutterseelen allein. Zwar hassten die Menschen in ihrer Umgebung sie nicht, aber von Mögen konnte man wiederum auch nicht sprechen. Also staute sich alles über einige Jahre auf. Es staute sich erst einmal soweit auf, dass sie anfing, sich zu ritzen. Aber es konnte sie nicht beruhigen. Nach einigen Monaten fing sie in Gedanken mit dem Tode zu spielen. Sie überlegte sie die beste Art und Weise aus dem Leben zu scheiden und dabei in den Gedächtnissen der Menschen in ihrer Umgebung zu bleiben. Dann hatte sei es auch bald herausgefunden… Jeden Tag ging sie in der Pause aufs Schuldach und sah durch das Schutzgitter herunter. Nach einiger Zeit schlich immer wieder ein eigenartiges Lächeln auf ihr Gesicht. Hätte jemand dieses Lächeln gesehen, hätte derjenige sie für wahnsinnig und verrückt erklärt. Doch diese Person existierte nicht. Schließlich beschloss sie, es nächste Woche zu erledigen. In der großen Pause, wenn es genügend Zuschauer gab. Die nächste Woche kam und sie erledigte es am Mittwoch. Sie sprang vom Schuldach auf den Innenhof. Das Letzte, was sie wahrnahm, waren das Geschrei und Gemurmel der Schülerschaft und Sirenen einer Ambulanz. Danach war alles um sie herum schwarz und stumm. Sie fühlte sich wie in schwarze Watte gepackt, da sie auch nichts spürte. Die Ärzte versuchten alles Mögliche, um ihr Leben zu bewahren. Doch alle Mühungen waren umsonst. Sie starb wenige Stunden nach ihrer Einlieferung. Ihre Eltern und ihr Boss wurden benachrichtigt. Man beruhigte die Schülerschaft, die armen und dummen Schafe, und die Lehrer fragen sich, wie es zu so etwas kommen konnte. Doch die Antwort auf diese Frage fanden sie nie heraus, da keiner wirklich genaues über sie wusste. Sie hatte nie über sich selbst geredet… Und so standen sie alle um ihren Grab. Sie trauerten nicht. Sie konnten dies auch gar nicht. Denn wie konnte man um jemanden trauern, den man nicht richtig kannte? Einige Jahre später stehe ich hier vor ihrem Grab. Vor das Grab einer Person, die glaubte überflüssig zu sein. Die glaubte, dass niemand sie vermissen würde. Auf ihrem Grabe steht: Oudemia Geboren: unbekannt Gestorben: unbekannt Ich finde es sehr traurig, dass es in dieser Welt Menschen gibt, die wie sie nicht wirklich wahrgenommen werden, bis es zu spät für sie ist… Die Menschen sind stumpf geworden und achten nunmehr nur noch auf sich selbst. Sie kümmern sich nicht mehr darum wie es ihrem Gegenüber ergeht. Für ihnen stehen nur sie selbst an erster Stelle. Kapitel 2: Der Bonsaibaum ------------------------- Sie war dazu eingeteilt worden, sich im Seniorenheim um die alten und vor sich hinbrabbelnden Menschen zu kümmern. Nunja, sie dachte zumindest, dass sie brabbeln würden. Doch als sie durch die Doppeltüre ins Gemeinschaftsraum kam, wurde sie vom Gegenteil überzeugt. Denn alle Leute in diesem Raum waren top fit und brabbelten keineswegs, sonder liefen sogar wie normale junge Leute auf ihre eigenen zwei Beinen im Zimmer herum. Während sie die Menschen in diesem Zimmer betrachtete, kam eine der Pflegerinnen zu ihr herüber. Die Pflegerin erklärte ihr gleich, was sie zu tun hatte und für wen sie würde sorgen müssen. Sie sah sich um und stellte fest, dass diese Person nicht im Zimmer war. Sie fragte gleich bei der Pflegerin nach, die ihr sagte, dass die Person wahrscheinlich im Gewächshaus sei. Sie ging dann einfach darauf los und suchte nach dem Gewächshaus. Bald fand sie diesen auch und ging hinein. Sie musste nicht lange nach ihrem "Patienten" suchen, da diese die einzige Person dort war. Sie ging langsam auf die alte Dame zu, um sie nicht zu erschrecken. Sie begrüßte die alte Dame, die sich dann auch gleich zu ihr umdrehte. Die alte Dame sah sie mit lebendigen, freundlichen und extrem blauen Augen an, bevor sie ihr zurückgrüßte. Dann fragte die alte Dame sie, ob sie ihr nicht dabei helfen wolle, den Bonsai vor ihr auf dem Tisch zupflegen. Sie willigte ein. Und damit verbrachten sie die Nachmittage, die noch folgten, diesen Bonsai zu pflegen. Doch eines Tages kam sie ins Gewächshaus und fand nur den Bonsai vor, der langsam krank wurde. Dann kam eine Pflegerin herein und übermittelte ihr,dass die alte Dame krank geworden sei und dass sie nach Hause gehen könne. Sie bat noch darum, die alte Dame aufsuchen zu dürfen, was ihr nach einigem Zögern auch gewährt wurde. Die alte Dame lag bleich im Bett, aber immernoch mit einem Lächeln auf den Lippen. Sie blieb noch den ganzen Nachmittag bei ihr. Jeden Nachmittag darauf kam sie, die alte Dame besuchen, in der Hoffnung, sie habe sich wieder erholt. Doch bald durfte sie nicht mehr zu der alten Dame, da sich ihr Gesundheitszustand immerweiter verschlechtert hat. Sie merkte auch wie es dem Bonsai ähnlich erging. Als sie sich wieder einmal nachmittags um den Bonsai kümmern wollte, fand sie ihn tot vor. Sie ging dann auf eine Pflegerin im Gang zu und fragte sie, ob die alte Dame gestorben sein, worauf diese mit einem zögerlichen Nicken bestätigte. SIe rannte auf das Zimmer der alten Dame und fand ein leeres Bett vor. Sie sank auf den Boden zusammen und weinte nur noch. Sie ging dann schweren Herzens nach Hause. Sie aß nichts mehr. Ihre Lebensfreude war dahin, seitdem die alte Dame für immer fort war. Ihre beste Freundin. Fort. Nach einigen Wochen bekam sie einen Brief mit einer Einladung zur Beerdigung. Am Tag der Beerdigung nahm sie noch den toten Bonsaibaum mit, den sie noch aus dem Seniorenheim mitgenommen hatte. Bei der Beerdigung waren Freunde und Verwandte, darunter auch ihr geldsüchtiger Sohn, zugegen, doch keiner trauerte, so wie sie selbst es tat. Durch ihre Tränen konnte sie erkenen, dass die anderen Gäste zwar traurig dreinblickten, doch weinte keiner von ihnen. Als der Prediger fertig war, legte sie als letzte Person den Bonsai auf das Grabstein der alten Dame. Ab und zu sehe ich sie von meinem Fenster aus zum Grab der alten Dame kommen, um sich scheinbar Rat zu holen, oder einfach, um sich um das Grab zu kümmern. Sie hat auch einmal einen jungen Mann mitgenommen und ihn wohl der alten Dame vorgestellt. Bei diesem Anblick musste ich ein wenig lächeln. Eines Tages aber kam sie zum Grab und fand etwas außerordentliches vor, worüber sie sich sehr freute: Der Bonsai hatte wieder angefangen, grün zu werden... Kapitel 3: Der Mensch ist eine Kampfmaschine -------------------------------------------- Der Mensch ist in einer nicht allzufernen Zukunft zu einer Kampfmaschine herangewachsen... Die Menschen legen oft ihr Rüstungen nicht einmal zum Schlafen ab. Sie müssen immer stark und bereit sein, sonst werden sie von Stärkeren überwältigt. Ja kein Gefühl zeigen. Von diesen Wesen gibt es viele - fast zu viele. Menschliche Menschen - Menschen ohne irgendeine Rüstung und die ihre Gefühle zeigen - dagegen gibt es so wenige, dass man befürchten muss, sie werden aussterben. Dann besteht die Welt nur noch aus Kampfmaschinen. Denn Kampfmaschinen greifen immerwieder die Menschlichen Menschen an. Diese können sich in den seltensten Fällen wehren und werden stark verletzt. Immer bluten sie. Doch die allermeistenKampfmaschinen kommen nicht auf die Idee, zur Besinnung zu kommen. Denn für sie zählt nur der Kampf. Der Kampf, um herauszufinden, wer der Stärkste ist. So können sich die Menschlichen Menschen immer nur gegenseitig helfen. DOch bringt es nicht wirklich viel, da die nächsten Verletzten schon daliegen. Traurig, dass eine Gesellschaft so aussehen kann, nicht? Doch hoffe ich, dass die Menschlichen Menschen einen Weg finden, sich zu wehren; ähnlich wie damals die Inder und Ghandhi... Kapitel 4: Monotonie der Zeit ----------------------------- Mein Wecker schrillte. Wie immer. Ich stand auf und ging wie üblich ins Wohnzimmer, wo ich wie gewöhnlich die Nachrichten schaute. Immer wieder dieselben Nachrichten von Krisen, Kriege und Leiden dieser Welt. Ich schaltete den Fernseher wieder aus und machte mir wie immer alleine mein Frühstück. Keiner in meiner Familie war schon wach. Wie immer diese schrecklichen Flakes. Ich duschte und machte mich anderweitig für die Schule fertig. Um 6:00 Uhr ging ich aus unserem dunklen Haus. „Immer wieder dasselbe…“ dachte ich mir, als ich mein Fahrrad aufschloss und zur Schule fuhr. Schon wieder stand ich im Stau und schon wieder kam ich zu spät, weshalb ich mir eine Standpauke von meiner Lehrerin wie immer anhören durfte. Die Schule bot mir auch nicht gerade viel Abwechslung. Zwar wechselten die Fächer des Tages sich untereinander, doch wirkliche Unterschiede zwischen den Wochen gab es nicht. Das Einzige, was mich ein wenig aus meinem Alltag herauslockte, waren einerseits meine stundenlangen Spaziergänge und Bogenschießen. Doch auch die wurden mit der Zeit immer weniger, sodass jeder Tag, jede Woche miteinander verschmolzen und ich nicht mehr bemerkte, wie die Jahre vergingen. Ich erhielt mein Abitur. Ich studierte. Und jeder dieser Tage war genauso monoton, wie der davor. Ich wurde träge. Dennoch hatte ich einen Job. Und auch bei diesem bot sich mir kaum Abwechslung. Ich fühlte mich in diese täglich wiederkehrende Einöde gefangen. Auch als ich jemanden heiratete, änderte sich nicht wirklich etwas für mich. Denn jeden Tag kam und ging dasselbe. Mein Wecker erklang nun um 4:00 Uhr ich wachte auf und schaute immer noch die Nachrichten, bevor ich wie immer schon diese grässliche Flakes aß. Ich verließ immer noch ein dunkles Haus und fuhr mit der Bahn zwei Stunden zur Arbeit. Immer wieder dieselben Aufträge, immer auf den letzten Drücker. Immer denselben Gehalt. Immer dieselben Bahnprobleme auf dem Nachhauseweg. Immer wieder merkte ich, wie mich diese Monotonie störte, doch tat ich wie immer nichts dagegen. Ich selbst hatte mich schon vor langer Zeit an zweiter Stelle meiner Prioritätenliste gestellt. An erster Stelle stand… Nun ja, ich weiß es schon lange nicht mehr. Diese Eintönigkeit lässt schon mal vergessen… Die Jahre vergingen. Ich wurde 40. 50. 60.Und auch im hohen Alter saß ich immer nur daheim und kümmerte mich nur um mein Häuschen. Mein Mann war bereits vor einigen Jahren bei einem Autounfall gestorben. Seitdem war ich wieder alleine. Von meiner Rente konnte ich nicht leben, sodass ich eher vor mich hin vegitierte, als das ich lebte. Die Jahre waren schon wieder weiter gezogen und ich ging immer wieder in einen Park, der sich in der Nähe meines Häuschens befand. Es würden dann immer Kinder spielen und ausgelassen schreien, so, als ob das Leben nicht schöner sein könnte. In einer gewissen Weise beneidete ich diese Kinder. Sie waren noch solche Grünschnäbel und dennoch hielten sie sich für die größten, wenn sie ganz oben auf dem Klettergerüst angelangt waren. Ihr Leben war voller Vielfalt. Ja… Sie hatten noch vieles vor sich. Ich hoffte, dass ihr Leben facettenreich verlief. Somit erwischte ich mich, wie ich mich an meiner Kindheit erinnerte, die auch fröhlich und hell zu schnell vergangen war im Gegensatz zum Rest meines Lebens. Und nun erinnerte ich mich, was ich schon vor Jahrzehnten an erster Stelle meiner Prioritätenliste gesetzt hatte. Vielfalt. Glück. Und plötzlich merkte ich, wie ich mein gesamtes Leben verwirkt hatte. Mein Leben war an mir vorüber gezogen, ohne dass ich je wirklich glücklich gewesen war. Tränen stiegen mir in die Augen und liefen mein Gesicht herab. Ein kleines Mädchen kam zu mir her, als sie mich weinen sah. „Warum weinst du Großmütterchen?“ fragte sie mich in einer zuckersüßen, jungen und unerfahrenen Stimme. Ich sah in ihr Gesicht, dass sie sich wirklich für mein Leid interessierte. Ich musste leicht lächeln. „Ach.. mir ist nur etwas klar geworden, was du noch zu erfahren hast…“ sagte ich ihr und sie ging weiter spielen, nachdem sie von ihren Freuden gerufen worden war und ihre Schultern ratlos hochgezogen hatte. Sie ließ sich nicht von mein wunderliches Verhalten ablenken. Sie hatte ein unsichtbares Ziel vor Augen, das selbst sie nicht wirklich kannte. Kapitel 5: Die zerbrochene Puppe -------------------------------- Sie lag einfach so in ihrer Ecke. Einsam und verlassen. Einst war sie das Lieblingsspielzeug eines kleinen Mädchens. Das Mädchen hatte sich sehr um sie gekümmert. Hatte ihr jeden Tag die Haare gekämmt, ihr hübsche Kleider angezogen und ihr - selbst wenn es nichts brachte – etwas zu essen gegeben. Das Mädchen spielte bei jedem Wetter mit ihrer Puppe. Ja man könnte sagen, die Puppe war wirklich glücklich. So zogen einige der schönsten und freudigsten Jahre an der Puppe vorüber. Doch dann passierte das, was passieren musste. Das Mädchen wurde immer älter und lud immer öfters Freundinnen zu sich nach Hause. Bald pendelte es sich ein, dass das Mädchen nur noch am Wochenende mit ihrer Puppe spielte. Und so kam es, dass das Mädchen, als sich schlechtes Wetter ankündigte und sie im Garten noch mit der Puppe gespielt hatte, ihre Puppe dort vergas. Es regnete für einige Tage. Ein typischer britischer Sommer. Während dieser Tage, konnte das Mädchen nicht zu ihren Freundinnen und diese auch nicht zu ihr. Daher suchte sie im ganzen Haus, welches sehr groß und halber auf dem Lande war, nach ihrer Puppe, doch vergebens. Schließlich gab sie ihre Suche auf. Doch als sie einige Tage später mit ihren Freundinnen im Garten spielte, fanden sie die Puppe ein wenig verwittert und halb vom Gestrüpp verschluckt vor. Die aufgemalte Farbe im Gesicht löste sich, sodass ihr Gesicht nicht mehr ganz zu erkennen war. Ihre Augen hatten ihre frühere Wärme verloren und waren ausdruckslos geworden. Die jungen Mädchen bemitleideten die Puppe und ihr Aussehen und brachten sie zum Dienstmädchen. Diese meinte sie werde sie, wenn sie Zeit fände neu bemalen und bekleiden. Die Mädchen gaben also die Puppe in die Obhut des Dienstmädchens und gingen wieder hinaus in den Garten. Wie sehr die Puppe aber wirklich gelitten hatte, das kümmerte keinen. Sie fühlte sich – sofern dies für eine Puppe möglich ist – in Stich gelassen und einsam. Aber vor allem verspürte sie Wut und Trauer. Beides rang mit einander in ihrem Inneren. Trauer, weil das Mädchen sie scheinbar nicht mehr so gern hatte, wie sie sie früher hatte, und Wut weil diese sie im Unwetter gelassen hatte. Aber in den kommenden Wochen, die zu Monaten wurden, saß sie immerzu auf dem Schreibtisch des Dienstmädchens. Denn die Kräfte des Dienstmädchens waren immer am Ende des Tages so aufgebraucht, dass sie sich nur noch ins Bett legen konnte. Die Puppe konnte immer nur dasitzen und war nicht in der Lage ihre Gefühle in irgendeiner Weise zu zeigen, da ihr Gesicht immer mehr zerfiel. Eines Abends jedoch kam ein anderes Dienstmädchen und erblickte die Puppe und dachte sich sie könnte sie reparieren. Sie fragte die andere, ob sie die Puppe mitnehmen könne, und nahm diese am Abend zu sich aufs Zimmer. Am Wochenende nahm sie sich Zeit und ließ die Puppe wieder zu neuem Leben erwecken. Sie nahm die alte Farbe aus dem Gesicht und bemalte es mit neuer. Sie kämmte ihr die Haare und frisierte sie auch gleich. Das Dienstmädchen kleidete sie mit neu und frisch genähten Kleidern. Zum Schluss wirkte sie wie neu und strahlte wieder eine Wärme aus, die die Puppe längst verloren geglaubt hatte. Das Dienstmädchen zeigte die Puppe dem nun jugendlichen Mädchen, die nur verächtlich damit antwortete, dass sie nicht mehr mit Puppen spiele und das nur etwas für kleine Mädchen sei. Das Dienstmädchen war daraufhin ein wenig traurig davon gegangen und hatte die Puppe in ihr Zimmer gestellt. „Also… Ich finde du bist sehr hübsch…“ sagte sie der Puppe, als ob diese sie hören und verstehen könnte. So pflegte das junge Dienstmädchen die Puppe, bis eines Tages die nun junge und streng gewordene Frau in das Zimmer derer kam. Denn sie hatte den Verdacht, dass diese ein Verhältnis mit einem jungen Hausangestellten habe, und fand auf ihrer Suche nach Indizien die Puppe. Sie nahm die Puppe mit sich und versteckte es auf dem Dachboden hinten in einer Ecke, damit das Dienstmädchen sie nicht fand und erpresste diese damit, die Puppe wegzuwerfen, wenn sie nicht gestehe, mit dem Hausangestellten ein Verhältnis gehabt zu haben. Aber das Dienstmädchen war unschuldig beschuldigt worden und so vergas man erneut die Puppe oben auf dem Dachboden. Die Puppe wurde immer trauriger und wütender, sodass ihre Wut und Trauer sich in Verachtung und Hass umschlug. Sie wollte nie wieder etwas mit einem Menschen zu tun haben. Die Jahre vergingen und ihr Hass und Verachtung verwandelte sich nur noch in Einsamkeit und Verlassenheit. Das Haus hatte in der Zwischenzeit den Besitz gewechselt und man stellte gerade eine Hausdurchsuchung an, um zu sehen was sich im Haus befand. Dabei fand man die Puppe völlig von Spinnweben und Staub verdeckt. Der neue Hausbesitzer, ein alter Mann, ließ die Puppe auf Vordermann bringen und stellte sie dann zu seiner Sammlung alter Puppen in ein besonderes Zimmer. Und plötzlich befand sie sich unter vielen Puppen, die scheinbar dasselbe Schicksal erlitten hatten, wie sie… Kapitel 6: Gabriel ------------------ Ich war gerade auf dem Weg nach Hause, als er mein Weg kreutzte. Er hätte mich beinahe über den Haufen gerannt. Ich verlor meinen Korb, den ich bei mir trug und alles verstreute sich auf dem Kopfsteinpflaster. Ich warf ihm einen verärgerten Blick zu. Da sah ich dann zwei Dinge. Aus nicht allzu großer Entfernung konnte ich Männergeschrei hören. Dieser Kerl, der mich gerade umgeremmpelt hatte, hatte den Blick eines verfolgten und gejagten Hundes und... "Aber die gibt's nicht..." sagte ich mir in Gedanken. Doch der junge Mann hier vor mir schien der beste Beweis dafür zu sein... Der junge Mann war schon längst um die nächste Ecke verschwunden als seine Verfolger mich überholten. Doch sie kümmerten sich nur um ihre Verfolgung und ich um diese scheinbar unwirkliche Tatsache, die mir vor Augen geführt wurde. Gab es sie wirklich? Inzwischen waren einige Leute zu mir hingekommen und halfen mir, meine Einkäufe wiedereinzusammeln. Doch ich erwischte mich immerwieder dabei, wie ich zu der Stelle starrte, an der der junge Mann verschwunden war. Seine Augen hatten um hilfe gerufen... Ich bedankte mich bei meinen Helfern, nahm meinen Korb und ging wieder weiter. Doch so sehr ich versuchte, meine Gedanken um andere Dinge kreisen zu lassen, kehrten sie dennoch immerwieder zu diesem mysteriösen jungen Mann zurück. Wie war das zu erklären...? "Du wirst ihn wahrscheinlich eh nie wieder sehen... also halte dich nicht zu sehr damit auf..." sagte ich mir und sah zum Himmel. Der Tag war wunderschön. Die Sonne schien hell und freundlich und kleine weisse Wolken schmückten hier und da den wunderbar und einzigartig blauen Himmel. Schließlich kam ich an meinem Haus an. Doch als ich das Tor zum Innenhof aufmachte, erschrak ich ein wenig. "Was machst du denn hier..?" fragte ich schroff, um meine Überraschtheit zu überspielen. Es war der junge Mann von vorhin. Ich war schon einige Treppen zu meiner Wohnung gestiegen, als er mit einer engelsgleichen aber dennoch niedergeschlagene Stimme antwortete: "Es war das einzige offene Tor... Es tut mir leid.... Ich werde verschwinden..." fügte er dann hinzu und stand bereits aus seiner Ecke auf. "Nein.... Ich kann dich aufnehmen...." sagte ich dann sanft und konnte wieder seinen Rücken sehen. Er hatte scheinbar sein Hemd während seiner Flucht verloren, weshalb sein Oberkörper nackt war. "Komm mit..." sagte ich ihm und stieg die letzten Treppen zu meiner Wohnung. Er folgte mir wie ein kleiner Welpe ein wenig unsicher durch die Tür und sah sich um, während ich meine Einkäufe wegräumte. Er ging dann etwas sicherer umher. "Du hast aber nicht sehr viele Möbel..." bemerkte er und fand dann auch die wenigen Bilder, die ich auf einem der Wohnzimmerregale aufbewahrte. "Ist das deine Familie..?" fragte er, als ich ins Wohnzimmer kam. Er hatte das älteste Bild in die Hand genommen. Ein Familienfoto, wo wir alle noch glücklich waren. Und mein Bruder noch lebte. "Hmm..." gab ich zustimmend von mir und sah weg. Die Erinnerung schmerzte immernoch. Der junge Mann merkte dies und stellte das Foto wieder hin. "Es tut mir leid...." entschuldigte er sich. "Nein.... Es braucht dir nicht leid zu tun.... Konntest du ja nicht wissen..." Ich hatte meine Arme um mich geschlungen. "Aber meine Frage ist, wie du es mit den Wunden an deinem Rücken aushälst...?" "Naja.... Es tut ein wenig weh... Und ich fühle mich ein wenig hilflos, da ich sie nicht mehr habe..." "Wenn du willst, kann ich deine Wunden reinigen..." bot ich ihn an und ging auch schon zum Medikamentenschrank im Bad. Er hatte es sich schon auf meinem Sofa bequem gemacht. Als ich anfing, seine Wunden zu reinigen, fragte ich: "Sind sie echt..?" "Meinst du meine Flügel...? Natürlich sind sie echt! Warum sollten sie das nicht sein..?! Aber leider haben sie sie mir abgeschnitten.... Wollten wissen-" Doch weiter kam er nicht, denn er brach in Tränen aus. Scheinbar ist er von irgendwo ausgebrochen und die Männer, die ihm gefolgt sind, sollten ihn wiedereinfangen. "Wie traurig..." dachte ich mir. "Du kannst hier bleiben, so lange du willst... Bist hier jeder Zeit willkommen.." meinte ich, als ich fertig war. "Aber wie kommt es,dass du hier bist...? Also auf der Erde... Ich meine, alle Engel leben doch im Himmel, oder?" "Nicht alle... Manche müssen Aufgaben außerhalb des Gartens machen..." Er hatte sich scheinbar wieder gefangen. "Garten?" "Ja, alle Engel leben im Garten... Wusstest du das nicht..?" Nein, wie konnte ich das aber auch wissen..? Ich lebte ja noch. "Ich muss nochmal los... Bin dann so gegen Abend wieder da..." informierte ich ihn und zog mir meine Schuhe wieder an. "Ich will mit!" sagte er festentschlossen und stand auf. "So wie du aussiehst, werden sie dich nur wieder einfangen..." erklärte ich ihm und er ließ nach. "Na gut..." sah er ein und setzte sich wieder hin. Ich ging aus dem Tor und fand dann auch bald wieder seine Verfolger, die verzweifelt nach ihrer Beute suchten. "Wenn wir ihn nicht finden, sind wir unsere Jobs los...!" beschwerte sich der eine und die anderen beiden suchten noch entschlossener. "Idioten... Ihr werdet ihn nicht finden... Zumindest nicht so.." lachte ich still bei mir und ging weiter. Ich suchte die Plätze auf, an denen mein Bruder immer gerne war. Er war vor ein paar Jahren im Alter von 15 Jahren gestorben. Es war ein Autounfall. Es hatte schon seit Tagen geregnet. Der Autofahrer war zu schnell gefahren und hatte auf dem Kopfsteinpflaster die Kontrolle über sein Auto verloren. Er starb in meinen Armen bevor der Rettungswagen überhaupt ankam. Ich konnte mich heute noch an sein Gesicht erinnern... Dann fiel mir etwas auf. Aber wie war das möglich? War er es wirklich? Ich eilte nach Hause und nahm dann das Gesicht des Engels in beide Hände. Ich starrte ihn intensiv an. Er war es wirklich... "Gabriel...!" hauchte ich und nahm ihn in meine Arme. Der Engel aber stieß mich von ihm. "Wer?! Ich habe keinen Namen.. Kein Engel hat einen Namen..." Ich sah an, als ob jemand mir ein Messer ins Herz gerammt hätte. Aber es gab doch keine Zweifel..?! Sie sahen sich zum verwechseln ähnlich.... Jeden Tag pflegte ich dann seine Flügel in Stillschwegen. Eines Tages sah ich, dass sich seine Flügel wieder bildeten. Sie wuchsen in rasender Geschwindigkeit. Nach etwa einem Monat waren seine Flügel wieder flugtauglich. "Ich kann wieder in den Garten!!! Ich danke dir!" bedankte er sich bei mir und umarmte mich. Ich hatte irgendwie gewusst und zugleich befürchtet, dass dieser Tag kommen würde. "Gut.. Ich wünsche dir noch viel Erfolg für deine nächsten Aufgaben..." verabschiedete ich mich von ihm und ging auf mein Zimmer, wo ich mich auf mein Balkon stellte. Von dort aus konnte ich fast über die gesamte Stadt schauen. Dieser Anblick tröstete mich immer wieder. Der Engel kam in mein Zimmer und wollte wissen was los sei. "Geh, bevor ich dich noch irgendwie melde... Die Leute suchen immernoch nach dir..." "Aber-" "GEH!" schrie ich und er flog für immer davon. Ich versuchte meine Tränen zu unterdrücken, doch stahlen sie sich in Strömen über mein Gesicht. Eines Nachts stand ich wieder auf mein Balkon und sah den wunderschönen Vollmond an. Ich dachte wieder einmal über meinen Besucher von damals und über meinen Bruder. "Kann ich dir Gesellschaft leisten?" fragte eine Stimme neben mir, die ich nur zu gut kannte. Ich drehte mich um. Kapitel 7: Der Innenhof ----------------------- Es war schon lange her, seitdem ich draußen in der Welt war. Im Jahre 1920 war ich mit einem Fieber umgekippt, als wir bei unserer Omama zur Besuch waren. Meine Eltern waren dann zu einem Arzt geeilt, da sie um mein Leben fürchteten. Es war gerade eine schreckliche Epidemie unterwegs, die meist mit einem harmlosen Fieber anfing. Der Arzt prognostizierte, dass ich nicht mehr als drei Jahre noch zu leben hatte. Er empfahl auch meinen Eltern, mich nicht mehr nach draußen zu lassen, da dies meine Gesundheit noch möglicherweise verschlechtern könnte, selbst wenn ich den Fieber überstanden hätte. Seitdem also saß ich hier an meinem Zimmerfenster mit Blick auf unser Innenhof. Es war immer wieder witzig mit anzusehen, was für Personen zu uns kamen. Zu Weihnachten immer besuchten uns die kleinen Kinder des Waisenhauses, die uns mit ihrem reinen Gesang erfreuten. Meine Geschwister spielten mit ihren Freunden, bis sie alle nach Hause mussten. Jeden Monat kam der Arzt zur Untersuchung zu uns. Er stellte zwar nie die weiteren Anzeichen dieser Epidemie fest, dennoch beunruhigte ihn meine Kraftlosigkeit. Ich war schon immer schwächlich gewesen. Dies hatte auch meine Mutter immer zu pflegen gesagt. Sie meinte auch einmal, dass der Mann, der mich eines Tages heiraten sollte, ein sehr gesunder und starker Mann sein müsste, damit ich sicher und geschützt leben könnte. Damals war ich rot geworden bei der Vorstellung, mit jemandem verheiratet zu sein. Dann war unsere Minna ins Zimmer gekommen und hatte eine Vase umgeworfen, weshalb sie wieder gescholten wurde. Ich hatte gekichert und ihr geholfen, die Scherben aufzuheben. Jetzt, in Rückblick auf diese Zeit, als es mir noch gut ging, machte es mich traurig, dass ich nicht mit meinen Geschwistern draußen spielen konnte, nicht mit den anderen Menschen da draußen kommunizieren konnte. Während in meinen Erinnerungen schwelgte, klopfte jemand an meiner Tür. „Herein...“ antwortete ich und sah unsere Minna eintreten. „Ich soll wie immer das Bett machen.“ entschuldigte sie sich und machte sich an ihre Arbeit. „Minna...?“ „Ja, Miss..?“ „Kann ich Sie um einen Gefallen bitten?“ fragte ich, mein Blick aus dem Fenster in die Ferne gerichtet. „Alles, was Ihnen beliebt..“ lächelte sie. „Nehmen Sie mich mit Ihnen nach draußen..-“ „Nein! Das könnte ich vor der Herrin nicht verantworten...“ sagte sie streng. „Aber... Es ist so lange her, seitdem ich die Sonne selbst auf meine Haut gespürt habe und der Wind in meinen Haaren gespielt hat... Denn das Fenster kann man nicht aufmachen und die Sonne scheint nie in mein Zimmer herein...“ überredete ich Minna. „Also... Ich weiß nicht...“ „Bitte...“ „Also... Na gut... Aber dann darf uns die Herrin nicht erwischen... Ja?“ fragte sie dann mit einem Lächeln im Gesicht. Ich grinste. „Ja!“ Am nächsten Tag kam Minna wieder zu mir ins Zimmer, um wie immer das Bett zu machen. Als sie gehen wollte, grinsten wir uns beide an und sie sah hinaus auf den Gang. Als sie sah, dass keiner da war, winkte sie mir, dass ich ihr folge. Es war anstrengend, aber ich habe mir Mut zugesprochen, dass dies alles für mein Wohlbefinden war. Es dauerte nicht lange, bis wir beide auf einem Weizenfeld standen. Es war ein sonniger Sommertag und es wehte eine schwache Brise. Ich schloss meine Augen, um alles noch intensiver wahrzunehmen. Die Vögel zwitscherten fröhlich, so als ob mich zu begrüßen. Die Brise flüsterte in meinen Ohren. Ich streckte meine Arme aus, damit die Wärme der gelben Sonne mich ganz einnehmen konnte. Ich sog die frische Luft tief in meine Lungen und stieß sie dann erfüllt aus. Aber dies war ein kleiner Fehler. Denn im nächsten Augenblick erlitt ich einen schrecklichen Hustenanfall. Meine Lungen waren es noch nicht gewohnt, frische Luft zu halten. Ich sank schließlich zu Boden, während Minna meine Arme hoch hielt. Mit mir im Arm eilte sie zu unserem Haus zurück, wo sie dann meine Mutter und meinen Vater alarmierte, die wiederum den Arzt anriefen. Während er meinen Puls maß und meinen Rachen untersuchte, standen meine Eltern bangend am Rand meines Bettes und hielten sich, wie schon das Schlimmste erwartend, in den Armen. Schließlich erhob sich der Doktor und wandte meinen Eltern das Gesicht zu: „Mr und Mrs Jenkins... Es scheint mir, als sei ihre Tochter wieder vollkommen gesund. Sie weißt keine Anzeichen irgendeiner Krankheit auf. Der Hustenanfall kam wahrscheinlich nur durch die frische Luft zustande. Ich glaube sogar soweit gehen zu dürfen, zu behaupten, dass sie eigentlich wieder ein ganz normales Leben führen kann.“ erklärte er meinen verwunderten Eltern, die ihn dann auch bald danach zur Tür begleiteten. Seitdem kann ich wieder mit meinen Geschwistern spielen und es gibt sogar jemanden, für den ich schwärme: der Sohn des Arztes, der bei den letzten Besuchen immer dabei war... Kapitel 8: Abtreibung? ---------------------- Ich hatte schon seit den letzten paar Tagen eine gewisse Übelkeit verspürt. Ich hatte zwar schon in Foren und ähnliches gehört, dass viele Frauen, wenn sie schwanger waren, sich übergaben und eigenartige Hunger hatten. Von daher war ich mir recht sicher, als ich mich wieder einmal am Morgen übergab und anschließend Hunger auf Gurken mit Vanilleeis verspürte. Das war auch der Grund, weshalb ich mich zum Frauenarzt begab. Ich sollte sagen, wie es mir ging. Da habe ich mir nur denken können, dass wenn es mir gut ginge, ich nicht hier wäre. Aber der Höflichkeit halber antwortete ich der Ärztin. Anschließend sagte sie mir, was sie machen und welche Tests sie durchführen wollte. Ich nickte nur und ließ sie machen. Wenige Tage später war das Ergebnis da. Der Brief kam mit der Post. Es war nun endgültig. Ich war wirklich schwanger. Ein Gefühlschaos breitete sich in mir aus. Zunächst empfand ich unendlich große Freude in dem Wissen, dass Leben in mir heranwuchs. Bei dem Gedanken strich ich friedlich über meinen Bauch. Aber gleich danach überfiel mich die Angst. Angst davor, dass ich meine Schulausbildung nicht fertig würde machen können. Angst, dass meine Eltern mich verstoßen würden, da sie strenge Katholiken waren und ich unverheiratet war. Angst vor allem davor, dass ich das Kind – mein Kind – nicht würde versorgen können. Ich sank auf meine Knie und fing an zu weinen. Was sollte ich nur tun? Ich war so gut wie mittellos. Aber weiter darüber nachdenken konnte ich nicht, da mich wieder die Übelkeit überfiel. Während ich mich im Bad übergab, hörte ich, wie die Tür aufging. Schreck stieg nun in mir hoch. Was wenn meine Eltern, mit denen ich noch lebte, den Brief fanden, den ich in aller Eile auf den Boden hatte liegen lassen? Was würde mein Freund dazu sagen, wenn er erfuhr, dass ich von ihm schwanger bin? Ich stemmte mich hoch und eilte hinaus in den Gang und fand meinen Freund vor. Er hatte scheinbar den Brief gefunden und war gerade dabei ihn sich durch zulesen, als ich ihn ihm aus der Hand riss. „Was hat das zu bedeuten?“ fragte er ruhig. Ich traute mich nicht, ihm in die Augen zu sehen. Ich wusste, dass dies alles meine Schuld war. Er hatte gleich am Anfang unserer Beziehung klar gestellt, dass nicht er sondern ich für die Verhütung zuständig sei. Das hatte mich zwar damals ein wenig getroffen, aber ich liebte ihn zu sehr, als dass ich ihm hätte nein sagen können. „Ich.. Ich bin schwanger...“ gestand ich leise. Ich hatte dabei meine Augen geschlossen, um seine mögliche Wut nicht sehen zu müssen. Ich wartete eine Minute, bis ich nach oben und damit ihm ins Gesicht schaute. Er wirkte wie erstarrt. Ich konnte mir denken, wie es in dem Moment bei ihm innerlich aussah. Wir hatten uns beide darauf geeinigt, dass wir die Schule beenden und dann möglicherweise noch studieren. Ich hatte mir auch immer gesagt, dass ich erst nach meinem Abschluss heiraten und schwanger werden würde. Aber nun war alles nicht annähernd nach Plan gelaufen. „Nein...“ flüsterte er. Er schien sich langsam wieder von dem Schreck zu erholen. Energisch schüttelte er seinen Kopf, als er weiter sprach:“ Nein... Das geht nicht... das muss ein Scherz sein! Sag doch bitte, dass du dich irrst!“ drängte er und schüttelte mich dabei an meinen Schultern. Mit meinen Händen schützend vor meinem Gesicht, sagte ich ihm, dass es keine Lüge oder Scherz sei. Er ließ mich dann los und eilte aus der Wohnung. Wenige Minuten tauchten meine Eltern auf. Schlimmer konnte es nicht mehr kommen, oder? Sie fragten mich, was los sei, da sie meinen Freund davon eilend gesehen hatten. Ich biss mir auf die Unterlippe. Sollte ich es ihnen sagen und damit wagen, von ihnen verstoßen zu werden? „Ein.. Wir hatten einen Streit...“ log ich. Ich wollte es nicht wagen, ihnen die Wahrheit zu sagen. In dem Augenblick beschloss ich, am nächsten Tag zum Frauenarzt zu gehen. „Ich... Ich hätte gerne eine Abtreibung...“ antwortete ich der Ärztin auf ihrer Frage, was sie wieder für mich tun könnte. Sie sah mich mit geweiteten Augen an. „Sie wissen schon, dass-“ fing sie an, doch ich unterbrach sie. „Ja... ich weiß schon...“ Ich hatte die ganze Nacht wach gelegen und schließlich mich durch gerungen, mich ein wenig über Abtreibung zu informieren. Prüfend sah mich die Ärztin an. „Na gut...“ seufzte sie und stand auf. Sie führte mich aus dem Raum und ins Wartezimmer, wo sie mit der Kollegin einen Termin für die Abtreibung ausmachte. Sie gab mir noch die Hand bevor sie mich mit einem freundlichen Lächeln im Gesicht verabschiedete. Mein Magen zog sich zusammen. Hatte ich nun wirklich die richtige Wahl getroffen? Während die Zeit bis zum Termin verstrich, überlegte ich stets, ob ich es nicht doch meinen Eltern gestehen sollte. Aber ich konnte es mir nicht abringen, es ihnen zu sagen. So trat ich schweren Herzens ins Wartezimmer der Praxis und wartete darauf, dass mein Name aufgerufen werde. Das Leben, dass angefangen hatte in mir zu existieren, würde bald wieder verloschen sein. Ich fuhr mit meiner Hand wieder über meine Bauch und seufzte. Plötzlich aber sprach mich die Frau an, die neben mir saß. „Sind Sie auch zur Untersuchung hier?“ fragte sie und ließ mir keine Zeit zu antworten. „Oh.. Ich weiß noch genau, wie ich mich damals gefühlt habe, als ich mit meiner Tochter schwanger wurde..“ gluckste sie nostalgisch. „Und nun sitze ich wieder im Wartezimmer aber mit meiner Tochter...“ Erst jetzt fiel mir auf, dass neben dieser Frau ein Mädchen – nicht viel jünger als ich selbst – mit einem dicken Bauch saß. Sie hatte sich entschieden das Kind zu behalten, obwohl sie noch so jung war und ihr ganzes Leben vor sich hatte. Scheinbar hatte sie einfach das Leben, das Kind in sich nicht aufgeben wollen. Ich stand auf und bedankte mich bei der Frau. Ich konnte nur noch aus den Augenwinkeln ihren verwunderten Blick erkennen, da ich bereits auf die Tür zu eilte. Nachdem ich durch die Tür verschwunden war, konnte ich hören, wie mein Name ausgerufen wurde, aber niemand würde auftauchen. Ich würde das Kind behalten. Selbst wenn es schwer sein würde. Kaum auf der Straße, sah ich meinen Freund, wie er in den Armen einer anderen war und sie küsste. Ich wollte zu ihm eilen und ihn fragen, was das zu bedeuten hatte. Ich übersah dabei das Auto, das die Straße hinunter bretterte. Ich konnte mich nur noch daran erinnern, dass einige Leute sich über mich beugten. Der eine – scheinbar der Fahrer des Autos – fragte mich, ob es mir gut ginge. Ich wollte antworten, doch nichts bewegte sich. Der andere war scheinbar mein Freund, der zugesehen hatte, wie ich überfahren wurde und zu mir geeilt war, denn er fluchte wie ein Verrückter. Als der Krankenwagen ankam, war ich bereits ohnmächtig. Wenige Tage später wachte ich im Krankenhaus auf. Es standen Blumen auf dem Tisch neben meinem Bett. Die Krankenschwester kam in mein Zimmer und freute sich, dass ich nun endlich aufgewacht war. Ich wollte etwas sagen, doch dazu war ich immer noch nicht in der Lage. So sah ich nur aus dem Fenster. Einige Tage vergingen und ich erhielt meine Stimme zurück. Als die Schwester wieder ins Zimmer kam, hatte sie einen Besucher für mich. Ich wunderte mich und ließ die Person reinkommen. Es war nicht mein Freund, wie ich es vielleicht vermutet oder gar gehofft hatte. Es war jemand, den ich nicht kannte. Als die Schwester die Tür zu machte beugte er sich entschuldigend nach vorne. „Es tut mir Leid!“ entschuldigte er sich aufrichtig bei mir. „Wegen mir haben Sie ihr Kind verloren...“ Bei seinen Worten machten sich Wut und Freude in mir breit. Wut darüber, dass ich mein Kind auf diese schreckliche Art und Weise verloren hatte. Und Freude, dass ich das Kind von diesem Fremdgänger verloren hatte. Ich starte aus dem Fenster. „Machen Sie sich keine Vorwürfe. Die einzige Person, die sich Vorwürfe machen dürfte, bin ich, da ich mich in diesen ekelerregenden Kerl verliebt hatte.“ sagte ich beruhigend. Der Mann hob seinen Kopf in Verwunderung und ich drehte mein Gesicht mit einem schwachen Lächeln ihm zu. „E-entschuldige noch einmal...“ sagte er leise und war gerade dabei zu gehen, als ich ihm sagte: „Aber als Wiedergutmachung, wie wäre es zunächst mit einem Abendessen?“ Die Wut und der Hass, die beide eigentlich in mir sein sollten, waren einfach nicht aufzufinden. Denn ich wusste, dass ich dieser Person hier vor mir im Grunde etwas schuldig war. Er hatte mich vor den größten Fehler meines Lebens bewahrt... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)