Gottlose Welt von Irrwisch (Was ist das Nichts?) ================================================================================ Kapitel 1: Nicht jeder Morgen bringt das Licht mit sich ------------------------------------------------------- Ich sitze hier. Wie immer. Ich sitze immer hier. Seit ich denken kann, bin ich an diesem Ort. Manchmal sehe ich hinaus; erhasche einen Blick auf den Himmel, der sich hellblau über diese Welt spannt. Ich habe Fragen, sehr viele Fragen. Doch niemand will mir darauf antworten. Niemand kann es. Willst du wissen, warum? Es ist ganz einfach. Niemand antwortet mir, weil er die Frage nicht kennt. Ich stelle sie nicht. Was wäre ich, um mir zu erlauben, Fragen zu stellen? Mein Herr würde mich verweisen und vor die Tür setzen und kurz darauf wäre ich tot. Gewiss, so hilflos wie du denkst, bin ich nicht – aber um gegen die gesamten Dämonen zu bestehen, dafür bin ich dann doch zu schwach. Sicher, ich könnte zu dem Feind meines Herrn gehen, aber er würde mich töten; er würde eine Falle vermuten. Nein, ich darf meine Fragen nicht stellen. Von mir wird erwartet, dass ich schweige, obwohl ich manchmal lieber schreien würde. Aber ich tue es nicht. Ich will noch nicht sterben. Das ich sterben werde, ist klar – niemand lebt ewig. Auch nicht mein Herr, geschweige denn seine Gegner. Doch irgendjemand wird den letzten, entscheidenden Kampf überleben. Die Frage ist nur, wer. Aber auf diese unausgesprochene Frage von mir gibt es keine Antwort. Vielleicht würde Gott sie kennen. Wenn es ihn gibt – ich glaube nicht an ihn. Was? Du fragst mich, wer ich bin? Inu Yasha? Nein, ich bin nicht Inu Yasha. Bemühe dich nicht, am Ende wirst du es wissen. Achte nur gut auf meine Worte, dann kannst du meine Identität herausfinden. Wenn du sie nicht schon längst erraten hast. Ich vertraue auf deinen Scharfsinn. Ich weiß, dass die Sonne irgendwann nicht mehr aufgeht. Doch diesen Tag werde ich nicht erblicken. Dann werde ich mit meinen Verbündeten und meinen Feinden zu einem Teil dieser Welt geworden sein. Denkst du nicht auch, dass im Tode alle vereint sein werden? Verzeih, ich hätte dich nicht fragen dürfen. Aber auch dies ist eine stumme Frage von mir. Bitte, erlaube mir, diese Fragen hier niederzuschreiben…Du tätest mir damit einen unendlich großen Gefallen. Du erlaubst es mir? Ich bin dir zu tiefstem Dank verpflichtet. Oft frage ich mich, wer ich wirklich bin. Aber auf diese Frage wirst du keine Antwort haben; denn du kennst mich kaum. Kennst meinen Namen. Und das war es auch schon. Nicht viele nehmen mich wahr; ich tauche einfach hinter ihnen auf. Sie erschrecken sich; versuchen, gegen mich zu kämpfen. Doch bis jetzt ist mir niemand gefährlich geworden. Immer habe ich gesiegt. Doch ich frage mich…Warum soll ich das tun? Oft sind es nur Menschen, die ich töten muss. Ich kenne sie nicht und muss sie dennoch töten. Anfangs hat es mir nichts ausgemacht, doch nun frage ich mich nach dem Grund. Aber meinen Herrn kann ich nicht fragen. Ich kann niemanden fragen. Deswegen bin ich dir dankbar, dass du mir Gehör schenkst. Ich werde viel zu oft ignoriert, auch von meinem eigenen Herrn. Doch es kümmert mich nicht, es war schon immer so. Und ich denke nicht, dass sich daran etwas ändern wird. Ehrlich gesagt, richtig will ich es auch nicht. Würde man mir mehr Aufmerksamkeit schenken, wäre vieles anders. Nein, ich bin so zufrieden, wie es ist. Und wenn der Tod kommt, dann werde ich mit ihm einverstanden sein. Nun sieh mich nicht so an! Auch du wirst sterben, jeder wird das. Warum also schaust du so geschockt, wenn ich vom Tod spreche? Ja, ich weiß, er scheint fern zu sein. Aber vergiss bitte nicht, dass jeder Tag unser letzter sein könnte. Jeden Augenblick könnten wir sterben, selbst jetzt, wo ich spreche. Warum existieren wir? Auch das ist eine Frage, die mich nachts wach hält. Du runzelst die Stirn? Recht so, denn diese Frage kann man nicht beantworten. Ich kann mich nur wiederholen: Vielleicht würde Gott sie kennen. Wenn es ihn gibt – ich glaube nicht an ihn. Und du? Glaubst du an Gott? Glaubst du an jemanden, der diese Erde erschaffen hat? Glaubst du, nach deinem Tod kommst du in den Himmel? Bitte sage mir, warum solltest du in den Himmel kommen? Auch wenn du dich nicht dem Kriegshandwerk verschrieben hast, getötet hast du gewiss schon. Sei es nur eine Fliege oder ein anderes Tier gewesen – auch sie haben gelebt, gefühlt, gedacht. Auch du wirst in die Hölle kommen. Jeder kommt in die Hölle. Auch Säuglinge. Sie haben der Mutter bei der Geburt Schmerzen bereitet. Was ist los? Warum schweigst du? Ist dir die Wahrheit meiner Worte bewusst geworden? Warum siehst du auf die Erde? Denkst du gerade an die Tiere, die du geschlachtet hast, damit deine Familie mehr zu essen hat? Du hast getötet, um anderen das Überleben zu sichern. An sich ist es also ein geschlossener Kreis – bitte schaue nicht so betrübt. Was ist böse? Auch dies ist eine Frage meinerseits. Ist mein Gegner böse? Und was bin ich dann für meinen Gegner? So gesehen ist jeder böse. Nur dann, im Tod, dann gibt es kein Gut oder Böse mehr. Und dann können wir uns als Freunde wieder sehen – wenn du das willst. Vielleicht horchst du mich nur aus, für deine Verbündeten. Höre: Ich weiß nichts über die Pläne meines Herrn. Er vertraut mir, das leugnet er nicht…Allerdings schweigt er sich über seine Pläne aus. Ich habe zu erfüllen; ich habe nicht zu denken. Wenn mein Herr Gedanken lesen könnte; Gedanken, die ich denke; dann würde er mich töten, denn Skrupel, den hat mein Herr nicht. So sind wir also zurück auf den Tod gekommen. Siehst du? Der Tod ist das Wichtigste, das Bedeutendste in einem Leben. Er ist das Einzige, von dem man mit Sicherheit weiß, dass er kommt. Bei allen anderen Dingen kann man sich nicht sicher sein – auch nicht bei der großen Liebe. Was ist das da in deinen Augen? Schrecken vielleicht, ich weiß es nicht. Habe keine Angst, ich sagte nicht, dass die große Liebe niemals kommt – aber es könnte so sein. Du bist ein wunderbares Wesen; denn du hörst mir zu; irgendwo in der Welt wird es sicher jemanden geben, der dich über alles liebt. Lächle nicht, ich habe nur die Wahrheit gesagt. Du wirst rot? Kann es sein, dass du deine Liebe schon gefunden hast? Wenn dem so ist, dann geh – ich will dich nicht aufhalten. Du bleibst? Ich danke dir. Doch all meine stummen Fragen werde ich dir nicht stellen – es sind zu viele. Es reicht mir, dass du dir Zeit genommen hast, mir zuzuhören. Ich bedauere, dass dir diese Zeit in deinem Leben fehlen wird – so ein wunderbares Geschöpf wie dich trifft man selten. Nein, streite es nicht ab – denn auch dieses ist wahr. Ich habe nur noch eine allerletzte Frage an dich, bevor du gehst: Was ist das Nichts? Diese Frage wurde einst mir gestellt, und meine Antwort war diese: „Ich bin das Nichts.“ Mein Herr hat das Nichts in einen Körper gebannt und damit sein eigenes Todesurteil unterzeichnet. Denn das Nichts steht auf keiner Seite – denn das Nichts ist der Tod, die Finsternis. Doch sage mir, was ist deine Antwort auf diese Frage? Antworte mir nicht jetzt; antworte mir, wenn du lange genug darüber nachgedacht hast. Antworte mir im Nichts, im Tod. Denn spätestens dort werden wir uns wieder sehen. Und nun geh. Deine Gefährten werden schon auf dich warten. Aber lasse sie nicht wissen, dass wir geredet haben – sie würden Misstrauen gegen dich hegen. Jetzt lauf. Lauf hinein in dein Leben. Und bitte denke über diese eine Frage nach: Was ist das Nichts? „Nicht jeder Morgen bringt das Licht mit sich.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)