My way home is through you von Trapnest ================================================================================ Kapitel 4: ----------- Sie hatte die Nacht trotz der beinahe schon winterlichen Temperaturen im Park verbracht. Das einzige, was sie in ihrer Tasche hatte, waren ein neues T-Shirt, einen Fünf-Euro-Schein und eine Karte für das MCR Konzert am nächsten Abend. Als ihr die ersten Sonnenstrahlen in die Augen fielen, wachte sie auf. Ihr tat alles weh, was nach einer Nacht auf einer Bank kein Wunder war. Gähnend streckte sie sich, und fühlte sich trotz der Schmerzen relativ gut. Sie war ihm entkommen, und sie würde mit Sicherheit nicht mehr zurückkommen. Mit der Tasche über der Schulter lief sie stundenlang ziellos durch die Stadt. Wie immer, wenn sie nicht nach hause konnte. Nachdem sie eine alte Frau nach der Uhrzeit gefragt hatte, wusste sie immerhin, dass es erst sechs Uhr war. Ohne sich weiter zu fragen, was die Frau um diese Zeit hier tat, ging sie zur nächsten Bäckerei und kaufte sich erstmal ein trockenes Brötchen. Wenn sie in den Tagen und Nächten, die sie bisher auf der Straße verbracht hatte eines gelernt hatte, dann war es, sparsam mit ihrem Geld umzugehen. Man konnte nie wissen wann man neues bekam. Und diesmal konnte es eine Weile dauern. Der Rest des Tages verlief kaum erwähnenswert, bis auf ein kurzes treffen auf zwei Polizisten, die sie mittags ansprachen, nachdem sie sich aus Langeweile und Müdigkeit auf eine Parkbank gelegt hatte, und eingeschlafen war: „Junge Dame, sollen wir sie nach hause fahren? Sie sehen erschöpft aus. Wir könnten ihnen auch auf dem Revier einen Kaffee anbieten.“, schleimte der jüngere der beiden, während der ältere interessiert auf eine kleine Spinne schaute, die gerade seinen Donut entlang krabbelte. Er aß sie einfach resigniert mit. Mit belustigter Stimme sagte sie: „Nein danke, ich erwarte jemanden, und er dürfte innerhalb der nächsten Stunde hier auftauchen.“ Scheinbar waren die Polizisten mit dieser Antwort zufrieden. Warum waren die Bullen heute so extrem freundlich? Ohne eine Antwort zu finden, drehte sie sich um und schlief einfach weiter. Als sie aufwachte drohte die Sonne bereits damit, unterzugehen. Seufzend machte sie sich auf den Weg zur Konzerhalle. Gott sei Dank spielten MCR heute zum zweiten Mal in dieser Stadt! Aber das lag einfach daran, dass das erste Konzert nach wenigen Stunden ausverkauft gewesen war. Die Halle war ein riesiges, mit vielen Kleinigkeiten geschmücktes, relativ junges Gebäude. Der Park war ihr Lieblingsplatz in der Stadt, da er genau zentral lag. Von hier aus konnte man jedes Ende der Stadt in einer halben Stunde erreichen. Bereits auf der Hälfte des Weges hatte die Sonne den Horizont berührt und alles in ein orange-goldenes Licht getaucht, doch kurz nach ihrer Ankunft verschwand sie völlig. In zwei Stunden würde das Konzert beginnen. Doch schon jetzt hatten sich um die hundert Fans vor dem Eingang versammelt, und ihre Zahl stieg stetig. Ihr Magen knurrte. Genervt von dem leeren Gefühl im Magen, zog sie ihr Restgeld aus der Tasche und zählte es. Vier Euro und Fünfundvierzig Cent. Nicht viel, aber noch genug. Eine billige Packung Kekse später gesellte sie sich zu den wartenden Fans. Diesmal wollte sie sich nicht wieder als Außenseiter fühlen. Davon hatte sie genug. Sie hatte von allem genug. Im laufe des Tages war ihr klar geworden, dass sie zwar vor ihrem Vater fliehen konnte, aber nicht vor der Erinnerung an ihn und das, was er ihr angetan hatte. Sie hatte sich immer für stark genug gehallten, alles auszuhalten, bis sie endgültig aus dieser Hölle entkam. Sie hatte nie jemandem etwas erzählt, alle blauen Flecken versteckt, überschminkt, alle Schmerzen ignoriert. Doch jetzt war sie zu schwach die Erinnerung zu ertragen? Ja. Wie kann man vor einer Erinnerung fliehen? Es geht nicht. Doch. Ein kaltes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Niemand konnte sie jetzt noch von ihrem Entschluss abbringen. Es war zu spät. Mittlerweile standen mindestens fünfhundert Menschen auf dem Vorplatz der Halle, und warteten darauf, dass sie eingelassen wurden. Was jeden Moment geschehen würde. Die Türen gingen auf und die Fans stürmten auf sie zu. Mit gesenktem Kopf ging auch sie auf den Eingang zu, zeigte ihr Ticket vor und betrat die hell erleuchtete Halle. Da sie noch eine der ersten gewesen war, stand sie ganz vorne. Eine erwartungsvolle Spannung erfüllte die Halle, und diesmal wurde sogar sie davon erfasst. Warum auch nicht? Jetzt hatte sie nichts mehr zu verbergen und zu verstecken. In ein paar Stunden würde sowieso alles vorbei sein. Endlich setzte die Musik ein, und Gee begann zu singen. Ganz kurz schoss ihr der Gedanke: „Wie kann jemand nur so eine Wahnsinns Stimme haben?!“, durch den Kopf, doch sie verdränge ihn gleich wieder. War doch egal, oder? Dieses Mal war das letzte Mal, dass sie überhaupt jemanden live singen sah. Sie würde es einfach genießen, und danach in der Hölle davon träumen. Wo anders würde sie sowieso nicht landen, wenn man davon ausging, dass es überhaupt so etwas wie ein Leben nach dem Tod gab. Sie glaubte nicht daran. Die Musik war so laut, dass sogar die schreie der anderen übertönt wurden. Sie blickte hinauf auf die Bühne. Einen kurzen Moment lang hatte sie das Gefühl, Gee würde sie ansehen. „Verdammt, fange ich jetzt auch schon damit an?“, murmelte sie leise vor sich hin und wandte den Blick von Gee ab und ließ ihre Augen durch den Raum schweifen. Doch lange hielt sie es nicht aus, und ihre Augen ruhten auf Gee, der am Mikrophonständer stand und gerade die letzten Zeilen von `Sleep` sang. Das Konzert war vorbei. Die Zugaben waren gespielt. Ihre Tage waren gezählt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)