Namenlose Grinsekatze von QueenLuna (Wie Karyu und Zero sich das erste Mal begegnet sein könnten...) ================================================================================ Kapitel 1: ... oder auch Karyu, der Stalker. -------------------------------------------- Namenlose Grinsekatze Wie Karyu und Zero sich das erste Mal begegnet sein könnten oder auch Karyu, der Stalker. Aus der Ferne drang ganz leise etwas an mein Ohr, das wie Rockmusik klang. Irritiert sah ich von meinem Zettel auf, auf dem ich einige Clubs, die sich in unmittelbarer Nähe befanden, notiert hatte. So ganz ohne Plan hatte ich mich schließlich nicht ins Tokioter Nachtleben stürzen wollen. Doch woher kamen diese Klänge? Eigentlich hätte ich nicht in der Lage sein dürfen, sie zu hören, aber irgendwie hatten sie es geschafft, sich durch die Geräuschkulisse um mich herum, an mein Gehör zu schleichen. Sie schienen mich eindeutig zu sich locken zu wollen. Ich ließ den Blick weiter suchend umherschweifen, versuchte die Musik einem der Gebäude zuzuordnen. Dass ich dabei angerempelt wurde, nahm ich nur am Rande wahr. Es war keine brillante Idee meinerseits, zur besten Ausgehzeit plötzlich mitten in der recht belebten Fußgängerzone stehenzubleiben, während sich gleichzeitig Menschenmassen um mich herumdrängten. Also stopfte ich den Zettel in die Manteltasche und setzte mich in Bewegung, zum einen um weiteren Kollisionen zu entgehen, aber auch um die Quelle der Musik ausfindig zu machen. Ich versuchte die unzähligen Reklame- und Werbebanner, die von den Häuserwänden auf mich herableuchteten und die Umgebung in ein buntes Durcheinander aus Farben und Lichtern tauchten, zu ignorieren. Auf Dauer war dieses ständig fortwährende Geflimmer in greller Aufmachung echt anstrengend. So sensationell und spannend konnte das neueste Parfüm oder das nächste Konzert einer Band nicht sein, als dass man sich diese Reizüberflutung an Bildern und Geräuschen länger als ein paar Minuten antun wollte. Wenige Meter weiter bog ich in die nächste Gasse ab. Nur weg von dem Gewusel. Wobei die Nebenstraße, in der ich mich jetzt befand, auch alles andere als leer war. Vor dem beleuchteten Eingang eines Clubs standen einige Leute herum, die in Gespräche vertieft rauchten oder ihre Drinks genossen. Die Musik, die ich vor wenigen Minuten wahrgenommen hatte, war inzwischen deutlich lauter geworden. Also war ich hier richtig. Schon mal ein kleiner Erfolg für diesen Abend. Noch einmal warf ich einen prüfenden Blick in die Runde und musterte die Clubbesucher. Die vorherrschende Farbe war eindeutig schwarz, somit fügte ich mich recht gut in dieses Bild ein. Langsam trat ich näher. Im Vorbeigehen betrachtete ich beiläufig die zugeklebten Häuserwände, bis ich wenige Meter vor dem Eingang stand. Während ich nun hier die unterschiedlichen Plakate genauer in Augenschein nahm, blieb ich irgendwann an einem mit dem heutigen Datum hängen. Nichts sagend, in einem düsteren Ton gehalten und oben prangte der mir unbekannte Name einer Band darauf. Kurz versuchte ich die halbverdeckten Gesichter der Musiker einer detaillierteren Musterung zu unterziehen, doch in der Dunkelheit war das nur schwer möglich, weshalb ich es schließlich aufgab. Na ja, wenn sie wirklich gerade drinnen spielten, würde ich sie ja gleich sehen. Ganz uninteressant klang ihre Musik jedenfalls nicht - recht rockig, soweit ich bisher hören konnte, was meinen Geschmack ziemlich gut traf. Außerdem hatte ich für heute Abend sowieso nichts Spezielles geplant. Bisher war ich eher etwas ziellos durch die Gegend spaziert, hatte ein wenig am Nachtleben teilnehmen wollen, wenn schon gefühlt der gesamte Tag nur von Arbeit erfüllt gewesen war. Also war es wohl nicht einmal eine schlechte Idee den Club genauer in Augenschein zu nehmen, besonders wenn dieser sogar auf meiner Liste stand, wie mir ein kurzer Kontrollblick darauf bestätigte. Mir gedanklich zu diesem Treffer gratulierend reihte ich mich in die kurze Warteschlange ein. Dafür, dass ich eigentlich keinen Orientierungssinn besaß, hatte meine Suche auf gut Glück perfekt funktioniert. Am Eingang angekommen wurde ich kritisch von oben bis unten von den beiden Türstehern beäugt. Beinahe hätte ich mein schönstes Lächeln aufgesetzt und mit einem liebreizenden Augenaufschlag abgerundet, doch ich verkniff mir diese Aktion im letzten Moment, denn ich wurde schließlich ohne weitere Worte durchgelassen. Na, ging doch. Innerlich grinsend trat ich in den Durchgang, der zum eigentlichen Teil des Clubs führte. Sofort schwebte eine Hand vor meiner Nase herum, um den Eintritt zu kassieren. Kurz darauf war ich sowohl um einige Geldscheine, als auch um meinen Mantel leichter und durfte dafür mit einem schicken Stempelabdruck auf meinem Handrücken passieren. Ich hoffte einfach, dass sich diese Investition lohnen würde. Vielleicht, um wenigstens ein paar interessante Leute kennenzulernen. Seit ich vor zwei Monaten nach Tokyo gezogen war, hatte ich nicht mal ansatzweise die Zeit gehabt, um neue Leute zu treffen, bis auf die paar Wenigen, die ich durch die Arbeit kannte. Die Großstadt war einfach unglaublich teuer, deshalb verbrachte ich die Tage eigentlich nur damit, zwischen meinen beiden Jobs, der eine im Konbini meines Wohngebiets und der andere in einer kleinen Bar als ‚Mädchen für alles‘, hin- und herzupendeln. Und das nur, um mich einigermaßen über Wasser halten zu können. Für eine Weile mochte das durchaus in Ordnung sein, doch auf Dauer war der Stress echt zermürbend. Nur die Hoffnung auf baldige Besserung ließ mich die gute Laune nicht völlig verlieren. Und eben solche Abende wie heute, wo ich abschalten konnte und mich unter den anderen Feierwütigen etwas lebendiger fühlte. Neugierig schaute ich mich um. Der Gang, in dem ich mich befand, war von zahlreichen Besuchern bevölkert und je näher ich der Tanzfläche und der Bühne kam, desto lauter wurde nicht nur die Musik, auch das Gedränge nahm immer mehr zu. Irgendwie hatte ich gar nicht damit gerechnet, denn von außen hatte der Club eher unscheinbar gewirkt. Wobei, wenn ich so recht darüber nachdachte, hatten mittlerweile auch die unbekanntesten Clubs und die darin auftretenden Bands ihre Fans und Jünger. Das helle Licht der Scheinwerfer geisterte durch den nicht allzu großen Raum und streifte die feiernde Menge, die sich enthusiastisch zur energiegeladenen Musik, die aus den Lautsprechern kam, bewegte. Über die unzähligen Köpfe hinweg, versuchte ich einen Blick auf die Bühne und natürlich auch auf die Band zu erhaschen. Zu fünft standen sie dort oben. Ich musterte einen nach dem anderen, wobei ich mir nicht ganz sicher war, was ich auf den ersten Blick von diesen komischen Vögeln halten sollte, die dem Publikum gerade ganz gut einheizten. Ihre Musik hatte sich bisher nicht mal schlecht angehört, aber der Rest… na ja, den Rest hätte ich eher als eine etwas eigenwillige Mischung bezeichnet, auch wenn sie mit ihrer einheitlichen, schwarzen Kleidung schon wieder miteinander harmonierten. Der Sänger beanspruchte den vorderen Teil der schmalen Bühne für sich. Während er irgendetwas von Schmerzen und Leiden sang, so wie ich dem Text halbwegs entnehmen konnte, blieben meine Augen etwas länger als gewollt an seiner mehr oder weniger explodiert wirkenden Haarpracht hängen. War die wirklich blau? In dem diffusen Licht konnte ich das nicht mit Gewissheit sagen, eigentlich war das auch unwichtig. Viel irritierender fand ich, dass sein Gesicht trotz der überaus düsteren Thematik ein breites Grinsen zierte. Diese Kombination wirkte durchaus etwas unglaubwürdig. Aber er schien auf jeden Fall Spaß bei der Sache zu haben. Vom Schlagzeuger sah ich nicht viel mehr als seine auf und ab wippenden, rötlichen Haare und der daneben stehende Gitarrist ließ ebenfalls mit erstaunlichem Elan seine Mähne hin- und herfliegen. Wenigstens lebten sie ihre Musik mit vollem Körpereinsatz aus. Als mein Blick auf den Keyboarder fiel, konnte ich mir nur sehr schwer ein lautes Auflachen verkneifen. Obwohl während des gesamten Songs nur ein einzelner Ton von seinem Instrument zu hören war, hing er mit einer Leidenschaft und Hingabe über den Tasten, als würde er Beethovens neunte Symphonie zum Besten geben. Dabei geriet der äußerst hässliche Hut auf seinem wasserstoffblonden Kopf in eine gefährliche Schieflage. Mal sehen, wie lange er sich dort noch würde halten können. Der Letzte in der Runde stand halb versteckt im Hintergrund, hatte den Kopf gesenkt, sodass die langen, dunklen Haare sein Gesicht verdeckten. Während seine Kollegen ihre Liebe zur Musik sehr körperlich auszuleben schienen, kam von ihm kaum eine Regung. Nur ein leichtes Wiegen zum Rhythmus konnte ich erkennen. Vermutlich war er einer von der zurückhaltenden Sorte. Nach der eingehenden Musterung derjenigen, die mir hoffentlich heute Nacht noch angenehme Unterhaltung bescheren würden, gab ich meinen Platz am Rande der Tanzfläche auf und mischte mich unter die anderen. Die gute Laune und Euphorie um mich herum waren ansteckend und so geriet ich schon nach kurzer Zeit ein wenig ins Schwitzen. Etwa eine Stunde später verließ die Band vorübergehend die Bühne. Ein DJ betrat die Bildfläche und sorgte für einen zeitnahen, musikalischen Übergang mit verhältnismäßig ruhigeren Liedern. Die Pause kam mir wie gerufen. Erschöpft ging ich zur Bar, denn mein Flüssigkeitshaushalt wollte dringend aufgefüllt werden. Während ich auf mein Getränk wartete, wurde plötzlich der Barhocker neben mir verrückt und ein junger Mann, der vorhin ganz in meiner Nähe getanzt hatte, setzte sich neben mich und bestellte ebenfalls. Auf den ersten Blick wirkte er recht nett, so fiel es mir nicht schwer, ein paar Belanglosigkeiten mit ihm auszutauschen, bis unsere Getränke schließlich nach einer gefühlten Ewigkeit vor uns standen. Allerdings reichte unsere kurzzeitige Sympathie füreinander nicht aus, um unsere Unterhaltung noch weiter zu vertiefen, aber glücklicherweise war die Pause mittlerweile sowieso beendet. So konnte ich meine Aufmerksamkeit wieder der Bühne zuwenden, während sich mein Gesprächspartner lächelnd verabschiedete und zu seinen Leuten zurückkehrte. Der DJ hatte seinen Platz in der Zwischenzeit geräumt und nach und nach betraten die einzelnen Bandmitglieder, unter dem euphorischen Applaus ihrer Fans in der vordersten Reihe, wieder die Bühne. Der Schlagzeuger zählte ein und der zweite Teil des Konzerts begann, diesmal mit sanfteren Klängen, was mich irgendwie überraschte, nachdem der erste Teil ziemlich rockig zu Ende gegangen war. Aber es war definitiv eine nette Abwechslung. Erneut ließ ich mich von der Begeisterung des Publikums mitreißen und wurde Teil der Gruppendynamik. Während die Musik meinen Körper vereinnahmte, konnte ich meinen Blick nicht von den fünf schrägen Typen vor mir nehmen. Der Sänger und der Gitarrist hatten sich inzwischen umgezogen und trugen jetzt statt der vorherigen Lederklamotten normale Shirts mit dem Bandlogo. Vom Schlagzeuger waren weiterhin nur die Haare zu sehen und die Inbrunst, mit der sich der mittlerweile hutlose Keyboarder seinem Instrument widmete, war ungebrochen. Ein wenig bewunderte ich seine Ausdauer und Leidenschaft – aber eben nur ein wenig, da meine Belustigung darüber eindeutig überwog. Immer noch vor mich hin grinsend blieb mein Blick schlussendlich am Letzten der Truppe, dem Bassisten, hängen. Und endlich konnte ich sein Gesicht erkennen. Ohne, dass es mir bisher wirklich bewusst gewesen war, war eine gewisse Neugierde bezüglich dieses Bandmitglieds, das in seiner Art scheinbar gar nicht so recht zu den anderen passen wollte, in mir aufgekeimt. Er stand jetzt im vorderen Teil der Bühne und wirkte dennoch ganz in seine eigene, kleine Welt versunken, derart verträumt wie er sich zu dem langsamen, tiefen Tönen seines Basses bewegte. Seine Augen waren geschlossen und der Kopf leicht in den Nacken gelegt, sodass seine langen Haare auf seinen Rücken hinabfielen. Ich musste leicht schmunzeln. Ja, da war jemand wirklich sehr weit weg, aber seine Art sich in der Musik zu verlieren, gefiel mir. Irgendwie hatte sie etwas Hypnotisches, sie war einfach anders als die seiner Kollegen, die ihre Energie deutlich nach außen trugen. Ich wollte meinen Blick nicht abwenden, zu sehr faszinierte mich seine Erscheinung. Die Lippen waren ganz leicht geöffnet, erinnerten dabei etwas an einen Schmollmund und dennoch schien ein sanftes Lächeln auf ihnen zu haften. Dieses verlieh ihm schon fast etwas Geheimnisvolles, umso mehr Spaß machte es mir ihn zu beobachten. Als die Musik Fahrt aufnahm, schien er aus seinem tranceähnlichen Zustand zu erwachen. Für einen Moment wirkte er wie ausgewechselt. Seine Haare flogen hin und her, dennoch fanden seine Finger die Saiten mit schlafwandlerischer Leichtigkeit. Nur wenige Augenblicke später war er dann wieder die Ruhe selbst, ließ den Blick langsam durch den Club schweifen, wenn er nicht gerade dem Publikum ein mildes Lächeln schenkte. Es war wirklich spannend zu sehen, wie schnell er umschalten konnte. Ein gewisser Neid machte sich bei diesem Anblick in mir breit. Ich hatte schon lange nicht mehr auf diese Weise meine eigene Musik ausleben können. Das letzte Mal war Jahre her, damals war ich Mitglied einer unbedeutenden Schülerband gewesen. Inzwischen setzte meine geliebte Gitarre sogar schon Staub an, während sie eine Ecke meiner Wohnung schmückte. Selbst wenn ich doch einmal die Zeit fand, etwas auf ihr zu spielen oder zu komponieren, war das einfach etwas völlig anderes, als auf einer Bühne stehen zu können. Bisher hatte sich bei mir leider noch nichts in dieser Richtung ergeben und das nicht nur der Zeitknappheit, sondern auch einfach fehlender Möglichkeiten wegen. Nicht, dass es mir an Songideen fehlte, aber ich kannte aktuell kaum jemanden, mit dem ich musikalisch etwas auf die Beine stellen könnte. Bis auf einen Kollegen aus der Bar, der ab und zu nach Feierabend das hauseigene Schlagzeug aus dem Tiefschlaf erweckte und mit dem ich so wenigstens etwas jammen konnte. Aber es war einfach etwas komplett anderes. Und das, was die Band da oben auf der Bühne gerade erlebte, war genau das, was ich wollte, seit ich das erste Mal vor vielen Jahren eine Gitarre in die Hand genommen hatte. Etwas neidisch sah ich zu den vier seltsamen Gestalten, den Bassisten dabei ausgenommen. Auch, wenn sie nicht unbedingt überragend waren in dem, was sie von sich gaben, sie waren eindeutig einen Schritt weiter als ich, womöglich sogar zwei oder mehr. Leicht angefressen fing ich an, auf meiner Unterlippe herumzukauen, während mein Blick erneut wie magisch vom fünften Bandmitglied angezogen wurde. Ja, wenn ich nur jemanden wie ihn hätte, mit dem ich etwas auf die Beine stellen könnte. Irgendwie ließ mich das Gefühl nicht los, dass wir musikalisch gut harmonieren würden. Für mich war er der Beste aus der ganzen Truppe, unabhängig davon, ob es nun an seiner Art des Spielens lag oder ich einfach nur meiner Faszination für ihn erlag. Die Vorstellung, wie wir gemeinsam auf der Bühne ständen, tauchte unbeabsichtigt vor meinem geistigen Auge auf und hob gleich meine Laune. Ja, das wäre durchaus ein erstrebenswertes Ziel. Ich konnte mir ein Grinsen kaum verkneifen, während sich dieses Bild in meinem Geist festhielt und mit der Realität vor mir zu verschwimmen drohte. Aber träumen war ja erlaubt. Plötzlich störte etwas mein Bild gewaltig. Nein, nicht etwas, sondern jemand. Genauer gesagt der Sänger, der mit einem Mal neben meinem Beobachtungsobjekt stand und ihn antanzte. Auf andere hätte die darauffolgende Reaktion vermutlich ziemlich kalt gewirkt, doch mir zauberte sie einmal mehr ein Schmunzeln ins Gesicht, während sich eine gewisse Freude in meinem Inneren breit machte. Denn es gab gar keine Reaktion auf diesen aufmerksamkeitsheischenden Versuch des Sängers – der Langhaarige spielte einfach ungerührt weiter, als wäre nichts geschehen. Ich hätte sogar behauptet, er blendete seinen Kollegen vollkommen aus und ignorierte ihn. Genau das machte ihn in meinen Augen gleich noch etwas sympathischer als ohnehin. Er brauchte keinen Fanservice, sondern stach mit seinem ganzen Wesen aus der Band heraus, obwohl er es nicht einmal darauf anzulegen schien. Der Blauhaarige sah überraschenderweise recht schnell ein, dass es keinen Zweck hatte mit seinem Kollegen auf Tuchfühlung zugehen. Umgehend suchte er sich ein neues Opfer: den Gitarristen, der seinem Sänger dafür nur zu gerne die gewünschte Aufmerksamkeit schenkte. Da ich auf der Tanzfläche, durch meine dauerhaften Beobachtungen und Träumereien erstarrt, für die anderen Clubbesucher zum Störobjekt mutierte, stattete ich der Bar einen erneuten Besuch ab und setzte mich auf einen der Hocker. Von hier aus ließ sich das Geschehen sowieso viel besser beobachten. Während ich auf mein bestelltes Bier wartete, drehte ich mich in Richtung Bühne und Tanzfläche um. Gedankenverloren musterte ich die Menge. Einige der Anwesenden saßen mittlerweile am Rand, völlig fertig und verschwitzt und gönnten sich eine Pause. Andere drängten sich weiterhin vor der Bühne und feierten begeistert ihre Band. Die Restlichen hatten einfach nur ihren Spaß auf der Tanzfläche. Es war spannend zu beobachten, wie unterschiedlich die Leute auf ein und dieselbe Musik reagierten und dennoch auf ihre jeweils eigene Art Freude daran zu haben schienen. Ein zufriedenes Seufzen verließ ohne mein bewusstes Zutun meine Kehle. In diesem Moment fühlte ich mich echt lebendig, obwohl ich selbst gerade mehr der Beobachter des Geschehens war. Eine Ansage riss mich aus den Gedanken: die letzten fünf Lieder wurden angekündigt. Fast im gleichen Atemzug wurden sowohl beim Publikum, als auch bei der Band die verbliebenen Energiereserven mobilisiert. Jeder schien noch einmal in Bewegung zu geraten. Während die Fans zu einer wogenden Einheit verschmolzen, sprang der Gitarrist quer über die Bühne auf den Bassisten zu. Ein neuer Versuch von Fanservice, den ich skeptisch beobachtete. Doch die Reaktion fiel genauso aus, wie beim Sänger zuvor: er wurde komplett ignoriert. Als er sich kurz darauf zum Keyboarder trollte, hob der Zurückgelassene seinen Blick und ließ ihn sanft lächelnd über die Menge schweifen, ganz so, als wäre nichts passiert. Ich wurde den Eindruck nicht los, dass er seine Kollegen nicht besonders mochte. Anders konnte ich mir das ständige Ignorieren einfach nicht erklären. Irgendwie freute mich dieser Gedanke, auch wenn er mich gleichzeitig ins Grübeln brachte. Sollte es wirklich in dieser Band brodeln, wären die Chancen den Langhaarigen abzuwerben und meiner plötzlich aufkeimenden Traumvorstellung etwas näherzukommen, gar nicht so gering. Denn ich wollte definitiv in naher Zukunft vor Publikum spielen, aber egal wie gut ich meine Gitarre beherrschte, nur mit einem Schlagzeug an meiner Seite konnte ich mir das gleich aus dem Kopf schlagen. Aber mit einem Bassisten… Da wäre sicher etwas machbar, und besonders mit diesem, der mich derart faszinierte. Mit einem Mal fühlte ich mich beobachtet. Ein leichter Schauer lief mir über den Rücken. Suchend schaute ich mich nach der Ursache für dieses Gefühl um und fand sie schneller als gedacht: mein namenloses Beobachtungsobjekt schaute mir genau in die Augen, jedenfalls kam es mir so vor. Unwillkürlich musste ich grinsen. Als der Dunkelhaarige dann sogar seinen Kopf spielerisch zur Seite neigte und seine Mundwinkel zuckten, war ich mir sicher, dass sein Blick mir galt. Mein Herz machte daraufhin einen kleinen Satz. Ich hatte nicht damit gerechnet dem anderen überhaupt aufzufallen, auch wenn ich durch meine Körpergröße ein Stück über die Masse ragte. Umso mehr freute ich mich. Nach einem letzten, gezielten Augenaufschlag in meine Richtung galt sein volles Interesse wieder seinem Instrument und ließ mich damit innerlich unruhig zurück. Womit hatte ich seine Aufmerksamkeit überhaupt verdient? Mein Starren konnte es nicht gewesen sein, denn die Fans der Band standen mir dabei in nichts nach. Sich darüber den Kopf zu zerbrechen, brachte aber nichts. Lieber sollte ich mir einen Plan machen, wie ich vielleicht sogar mit ihm ins Gespräch kommen konnte, wenn ich schon einmal seinen Blick auf mich gezogen hatte. Wenige Minuten später war das Konzert endgültig vorbei und die Fünf verließen, nachdem sie sich vor ihren Fans verbeugt hatten, die Bühne. Gleich darauf betrat eine recht leicht bekleidete Frau die Bildfläche und richtete einige dankende Worte ans Publikum und kündigte im selben Atemzug den nächsten DJ an. Da dieser mich weniger interessierte, verließ ich die Tresen und machte mich auf die Suche nach den Toiletten. Für meine Verhältnisse hatte ich heute recht viel getrunken und das rächte sich jetzt langsam. Nachdem ich mich erleichtert hatte und eine Weile lang kühlendes Wasser über meine Unterarme hatte laufen lassen, fühlte ich mich wieder frischer und bereit dazu, mich erneut unter die Leute zu begeben. Ich hoffte ein wenig darauf, vielleicht sogar dem Bassisten über den Weg zu laufen. Beim Heraustreten aus der Örtlichkeit stieß ich mit jemandem zusammen. Und irgendwer schien es heute gut mit mir gemeint zu haben, denn als mein Gegenüber erschrocken zu mir hochsah, hätte ich beinahe laut gejubelt. Das weiche, entschuldigende Lächeln war unverkennbar: mein namenloses Beobachtungsobjekt. Um keinen noch merkwürdigeren Eindruck auf ihn zu hinterlassen, weil ich ihn vor den Toiletten anstarrte, rief ich mich schnell wieder zur Ordnung und ließ ihn durch. Ich atmete ein paar Mal ein und aus, um meinen Puls, der sich für einen Moment beschleunigt hatte, zu beruhigen. Was für ein Zufall, ich konnte mein Glück kaum fassen. Nun musste ich nicht einmal suchend durch den Club irren. Ich wusste zwar nicht, woher diese starke Faszination für den anderen kam, was ich aber wusste, war, dass ich wirklich mit ihm reden wollte. Doch um ihn nicht gleich vor der Toilette damit zu überfallen, da das vielleicht kein passender Ort für Gespräche mit Unbekannten war, ging ich ein paar Schritte weiter und lehnte mich dort gegen eine Wand. Dabei versuchte ich einen möglichst entspannten und unaufgeregten Eindruck zu vermitteln. Wenige Minuten später wurde die Tür zum Herren-WC geöffnet und mein Objekt der Begierde trat hindurch. Mit gesenktem Kopf lief er vorbei, ohne irgendeine Notiz von mir zu nehmen. Da war ich wohl doch zu unauffällig gewesen. Ich stieß mich von der Wand ab und folgte ihm. Gedanklich verdrehte ich die Augen über mich selbst, denn momentan kam mein Verhalten schon ein wenig dem eines Stalkers gleich. Und das wollte ich auf keinen Fall sein. Ich wollte ihn nur ein wenig kennenlernen und herausfinden, wie stark seine Bühnenpersönlichkeit mit der in der Realität übereinstimmte. Okay, das behaupteten vermutlich auch die meisten Stalker von sich selbst. Ich schnaubte genervt. Mit solchen Gedanken, die man mir im schlechtesten Fall auch noch im Gesicht ablesen konnte – Pokerface war leider ein Fremdwort für mich – würde ich sicher keinen guten, ersten Eindruck hinterlassen. Ich atmete noch einmal tief durch und trat dann neben den Dunkelhaarigen an die Bar, wo er sich auf einen der Hocker niedergelassen hatte und etwas zu trinken gereicht bekam. Mein Begrüßungs- „Hey“ kam offenbar überraschender, als ich geplant hatte, denn der andere blickte erschrocken zu mir auf. Als er mich anscheinend wiedererkannte, entspannte sich seine Haltung ein wenig und ein leises „Hallo…“ verließ seine Lippen. Allerdings ahnte ich die Worte aufgrund der allgemeinen Beschallung mehr, als dass ich sie wirklich verstand. Aber es war schon mal ein Anfang. Ich beugte mich etwas näher zu ihm hinunter, um nicht schreien zu müssen. „Toller Auftritt, wirklich.“ Ein sanftes Lächeln schlich sich auf seine Züge, er nickte dankend. Da ich nicht in dieser, für meinen Rücken schmerzhaften, Haltung verharren wollte, griff ich ungefragt nach dem leeren Barhocker neben mir, zog ihn näher an den anderen heran und setzte mich, ehe ich ein Bier bestellte. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, wie mein Tun schmunzelnd beobachtet wurde. Ich wusste, dass ich mir gerade einiges herausnahm, drängte ich ihm meine Nähe doch regelrecht auf. Ich hoffte einfach, er würde es mir im Zweifelsfall sagen, wenn es ihn störte. Denn noch merkwürdiger als ohnehin oder gar unhöflich wollte ich definitiv nicht sein. Doch als ich wenige Augenblicke später zu ihm sah, wurden meine Befürchtungen fast von alleine aus meinem Kopf verdrängt. Ich spürte, wie mein Herz erfreut hüpfte. Neugierde lag in dem Blick meines Gegenübers, das sanfte Lächeln hatte seine Lippen nicht verlassen. Vielmehr wirkte es sogar eine Spur belustigt, besonders in der Kombination mit dem leicht schief gelegten Kopf. Ich konnte nicht anders, als ihn ein paar Sekunden stumm anzustarren, ehe ich mich wieder zur Ordnung rief. Nicht merkwürdig wirken, Karyu! Schlussendlich schaffte ich es doch noch einen angemessenen Einstieg in unsere Unterhaltung zu finden, indem ich einfach auf den Auftritt zu sprechen kam. Auch wenn der andere auf den ersten Blick zurückhaltend gewirkt hatte, entpuppte er sich mit der Zeit als toller Gesprächspartner. Während wir irgendwann von dem Auftritt und der Musik zu anderen Themen wechselten, ließ meine Faszination für ihn keine Sekunde nach. Sein Lächeln hielt mich gefangen, brannte sich in mein Gedächtnis und wärmte mich von innen. Auch die Art, wie er sprach, hatte etwas unheimlich Lebendiges an sich, obwohl er kaum gestikulierte, im Gegensatz zu mir. Auf mich wirkte er wie eine kleine Grinsekatze, denn wenn er nicht gerade verträumt vor sich hin sinnierte, hatte sein Gesicht, neben dem normalen Lächeln, auch des Öfteren etwas Spöttisches an sich. Insbesondere, wenn seine linke Augenbraue dezent nach oben wanderte und ein Schmunzeln an seinen Mundwinkeln zupfte. Das gefiel mir. Ich hatte das Gefühl mich ewig mit ihm unterhalten zu können, als würden wir uns schon lange kennen. Er war mit viel Leidenschaft bei der Musik, wenn auch nicht unbedingt in dieser Band, wie er mir zähneknirschend gestand, nachdem schon einige Gläser die Thekenseite gewechselt hatten. Also war meine Vermutung doch richtig gewesen. Irgendwann erhob sich der andere. Unsere Stimmen waren mittlerweile heiser und der Club hatte sich zu meiner Überraschung merklich geleert. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie schnell die Zeit vergangen war. Leise machte sich Enttäuschung in mir breit, als ich ihm zum Ausgang folgte. Meinetwegen hätte die Zeit auch stehen bleiben können, uns wäre sicher nicht langweilig geworden. Aber es half alles nichts. Der Himmel färbte sich schon leicht orange, als wir den Club verließen. Die winterliche Kälte traf mich recht unvorbereitet und schubste mich damit unsanft in die Realität zurück. Es war deutlich kälter als noch einige Stunden zuvor. Ich zog murrend die Schultern hoch und vergrub mich tiefer in meinem Mantel, was mir ein schiefes Grinsen von Seiten des anderen einbrachte. Einen Moment lang blieben meine Augen an seinen zuckenden Mundwinkeln hängen, ehe er sich abwandte und Richtung Hauptstraße ging. Ich spürte einen leichten Stich in meiner Brust. Dieser Abend war eindeutig zu kurz gewesen und nun würden sich unsere Wege trennen. Betrübt setzte ich mich in Bewegung und folgte ihm nach kurzem Zögern. Klar, ich hätte anbieten können, ihn zu begleiten, aber wie würde das wirken, wenn ich am völlig anderen Ende von Tokyo wohnte, wie wir während unserer Unterhaltung herausgefunden hatten? Außerdem wollte ich mich nicht aufdrängen. Ich hatte wohl geknickt ausgesehen – so viel zum Thema Pokerface – denn als ich meinen Blick vom Boden löste, bemerkte ich, wie der andere stehen geblieben war und mich aufmunternd anlächelte. Als ich schließlich vor ihm stand, versuchte ich ein Seufzen zu unterdrücken und räusperte mich stattdessen. „Es war ein schöner Abend.“ Ich biss mir kurz auf die Lippen. Irgendwie klang das ziemlich platt und nicht im Entferntesten nach dem, was ich eigentlich hatte sagen wollen. Ich gab mir einen Ruck. „Ich hoffe, wir sehen uns mal wieder.“ Dass meine Stimme am Ende des Satzes eher fragend klang, konnte ich nicht verhindern. Dafür wurde das Grinsen in seinem Gesicht breiter und da war sie wieder, die Augenbraue. „Ich hoffe doch.“ Innerlich jubelte ich, während ich versuchte, nach außen hin möglichst cool sein Grinsen zu erwidern. Ich hätte zu gerne etwas darauf entgegnet, aber dafür, dass wir uns den ganzen Abend so blendend unterhalten hatten, fehlten mir gerade einfach die passenden Worte. Auch er schwieg, schien mein Gesicht zu mustern. Der Ausdruck, den ich in seinen Augen zu sehen glaubte, verunsicherte mich. Irgendwie konnte ich ihn nicht ganz deuten. Schließlich senkte der andere den Kopf ein wenig, brach somit unseren Blickkontakt. War das ein Schulterzucken gewesen? Bevor ich mich näher damit beschäftigen konnte, sah er schon wieder auf und schenkte mir ein letztes Schmunzeln. „Na dann, mach's gut, Karyu. Man sieht sich.“ Dann wandte er sich ab und entfernte sich langsam. Plötzlich traf mich der Schlag. So wie er meinen Namen betont hatte… Ich Trottel! Den gesamten Abend lang hatte ich etwas vergessen, etwas Wichtiges und ich verfluchte mich für meine eigene Blödheit, nicht früher gefragt zu haben. Aber irgendwie war es mir bisher nicht in den Sinn gekommen. Mein Name war zwar irgendwann mal während des Gesprächs in einem Nebensatz gefallen, aber - „Hey! Wie heißt du eigentlich?“, rief ich ihm hinterher. Oh Mann, was war ich selten dämlich?! Ich sah, wie er in einigen Metern Entfernung stockte und sich schließlich zu mir herumdrehte. Hoffentlich war er nicht sauer über meine Unaufmerksamkeit. Wer ging schon zu dem Konzert einer Band, die er nicht kannte, unterhielt sich stundenlang mit einem ihrer Mitglieder und interessierte sich dann nicht einmal für dessen Namen? Dass er sich hätte selbst vorstellen können, ignorierte ich in diesem Moment einfach. Doch er war nicht sauer, vielmehr grinste er. Mir wurde wieder leicht ums Herz. „Ich dachte schon, du fragst nie… Zero!“ Zero also, auch wenn es wohl nicht sein richtiger Name war. Die Antwort ermutigte mich eine weitere Frage hinterherzurufen. „Bekomme ich deine Nummer?!“ „Klar! Beim nächsten Mal“, kam es lachend zurück. Dann hob er zum Abschied die Hand und verschwand um die nächste Ecke. – ENDE – Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)