Perfektes Chaos von Rolly (Aller guten Dinge sind drei) ================================================================================ Kapitel 1: Poco a poco ---------------------- Stirnrunzelnd und die Hände in die Hüften gestemmt stand er vor seinem Schrank. Überall auf dem Boden lagen seine Sachen verstreut, die er aus den Regalen an der Wand über seinem Schreibtisch geräumt hatte. Alte Schulhefte, Magazine von vor fünf Jahren, abgenutzte Tennisbälle, denen man ihr Alter sofort ansah, und diverse andere Dinge waren kreuz und quer verteilt. Und nun wollte er auch seinen Schrank ausräumen, was wohl noch mehr Chaos bedeutete. "Akira! Dein Vater und ich... du meine Güte", war der Kommentar seiner Mutter, als sie in der Tür zu seinem Zimmer stehen blieb. Er hatte aber auch nichts anderes erwartet. "Was hast du denn hier angerichtet?", fragte sie immer noch perplex. Kamio sah sie an. "Aufräumen." Seine Mutter verschränkte ihre Arme vor der Brust und ließ ihren Blick einmal durch das Chaos schweifen. "So so, das nennst du also aufräumen? Sieht eher wie ein Kleinkrieg gegen dein eigenes Zimmer aus. Wie auch immer, bis heute Abend hast du das aber wieder beseitigt! Dein Vater und ich sind gleich weg, deine Tante besuchen. Wir kommen erst spät wieder, also musst du dir selbst etwas zu Essen machen. Zum Mittagessen sind wir auch nicht da" Kamio, der sich wieder seinem Schrank zugewandt hatte, wirbelte herum. "Ich muss WAS? Ich kann doch gar nicht kochen! Und ein einfaches Butterbrot ist nicht drin", erwiderte er, wild mit den Armen gestikulierend. "Für das Mittagessen kannst du den Auflauf in den Ofen tun. Das Ganze stellst du auf zweihundert Grad und lässt es dann eine halbe Stunde lang drin. Du kannst ja Shinji einladen und abends eine Pizza bestellen", waren die letzten Worte seiner Mutter, die ihm keine Chance zum Antworten gab und wieder verschwand. Na super! Jetzt hatte er den Salat. Da wollte er mal etwas Gutes tun und räumte sein Zimmer auf und seine Eltern dankten es ihm, indem sie ihn sich selbst überließen - und damit sein Verrecken unterzeichneten. Er sah das Unglück jetzt schon kommen. Seufzend richtete er seinen Blick wieder auf die Innereien des Schrankes. Und Innereien traf den Inhalt ganz gut. Er fragte sich, wie er dieses Chaos nicht bemerkt hatte, obwohl er sich jeden Tag neue Klamotten da herausfischen musste. Und wie schaffte er es überhaupt, da etwas herauszufischen? Er konnte ja nicht einmal sagen, wo was anfing und aufhörte, die T-Shirts schienen nahtlos in Hosen, Shorts und Jacken überzugehen. Kurzerhand griff er einfach hinein und zog, was ein großer Fehler war. Mit dem Vorhaben, ein Kleidungsstück herauszuziehen, rutschten zehn andere mit hinaus und landeten auf dem Zimmerboden - immer noch durcheinander. "Akira, wir fahren! Mach's gut und vergiss nicht, zu essen!", rief ihm seine Mutter zu, auch sein Vater verabschiedete sich von ihm und dann hörte er die Tür ins schloss fallen. Seine Eltern waren weg, endgültig, und er würde einen Hungertod sterben. Aber vorerst hatte er andere Probleme. Wie zum Teufel sollte er seinen Schrank ausmisten, wenn alles aneinander hing und nicht loslassen zu wollen schien? Noch einmal seufzte er resignierend, lies alles liegen und verließ sein Zimmer. Als er kurz zurücksah, drehte sich ihm fast der Magen um. Nie und nimmer würde er es schaffen, das alles bis zum Abend wegzuräumen. Okay, es war nicht das erste Mal, dass er sein Zimmer aufräumte - und er räumte sein Zimmer relativ regelmäßig auf (genauer gesagt etwa alle zwei Wochen) - aber so viel Müll hätte er sich nicht einmal erträumt, auch wenn er so gründlich wie jetzt aufräumen wollte. "Mein Rhythmus ist flöten gegangen", stellte er erschüttert fest. Und sein Zimmer sah immer noch so aus als wäre ein ganzer Kindergarten zu Besuch gewesen, ohne anschließend aufzuräumen. Ihm blieben im Grunde zwei Möglichkeiten: Entweder er verwandelte sich in Superman, Herkules oder Pippi Langstrumpf oder er rief Shinji an, damit dieser ihm half. Die erste Option konnte er vergessen. Erstens konnte er nicht von einer Sekunde zur nächsten wie ein Bodybuilder aussehen und zweitens war er nicht erpicht darauf, ein Mädchen zu sein - noch dazu mit hässlichen Zöpfen und Sommersprossen. Er drehte seinem Zimmer den Rücken und lief die Treppe runter zum Telefon. Shinji war sein bester Freund, Shinji würde seine missliche Lage verstehen und ihm bestimmt helfen, dafür waren beste Freunde doch da, oder? Also ergriff er das Telefon, wählte die Nummer seines besten Freundes, die er sogar unter massivem Drogenkonsum noch auswendig könnte, und wartete darauf, dass jemand abhob. Er wartete vergeblich. Gut, keine Panik, er konnte sich ja eine dritte Option ausdenken. Und dazu ließ er sich bis nach dem Mittagessen Zeit. Er konnte ja schon Mal den Ofen anstellen und vorheizen. Es war ja bereits halb zwölf, so lange dauerte es also nicht mehr bis zum Mittag. Kamio schlenderte in die Küche, die Gedanken an sein Zimmer zur Seite schiebend, sah den Auflauf in einer Porzellanschale auf dem Tisch und stellte sich erst einmal vor den Ofen. Auf wie viel Grad sollte er das Ding nochmal stellen? Das höchste war zweihundertfünfzig. Würde wohl richtig sein. Er drehte den Schalter, bis der Pfeil auf zweihundertfünfzig zeigte, das rote und das orangefarbene Lämpchen daneben leuchteten auf und er setzte sich an den Tisch, den Auflauf anstarrend. Irgendwie musste er seinen Rhythmus wiederfinden. Und der Auflauf war langweilig. Plötzlich fiel ihm ein, dass er ja noch seinen neuen Schläger im Garten ausprobieren könnte. Von diesem genialen Einfall begeistert, sprang er auf und stieß sich das Bein an der Tischkante. "Autsch! Warum passiert das immer mir?" Nachdem der Schmerz nachgelassen hatte, holte Kamio seinen neuen Schläger und marschierte in den Garten. Er konnte nur froh sein, dass seine Mutter keine Hobbygärtnerin war, sonst könnte er das mit dem Tennisspielen im Garten total vergessen. Er stellte sich gegenüber von dem kleinen Schuppen und stellte sich in Position für einen Aufschlag. Er warf den Ball in die Luft und auf einmal hörte er jemanden rufen. "Hey, Kamio! Was machst du denn da? Wohnst du hier?" Er drehte seinen Kopf in die Richtung der Stimme... und bekam den Ball direkt auf den Kopf. Und vor den kleinen Tannen am Rand ihres Gartens stand kein anderer als... "Momoshiro! Was hast du denn hier zu suchen?! Hast du mich etwa aus Absicht gestört?!" Kamio war nicht im Rhythmus, er war wütend und in einer total beschissenen Situation und konnte beim besten Willen nicht so einen Idioten wie den da gebrauchen. Es sei denn, er räumte für ihn sein Zimmer auf. Momentchen mal... das war DER ultimative Plan! "Hey, ganz ruhig, Kamio!", erwiderte Momoshiro grinsend. "Der Ball war richtig gut" Ha. Ha. "Oi, Momoshiro... Ich hab da ein ganz großes Problem", erzählte Kamio. Er versuchte, dabei ganz deprimiert zu schauen und sich nicht anmerken zu lassen, wie witzig er Momoshiros Äußerung eigentlich fand. "Eh? Was ist los?" Yes! Momoshiro sprang tatsächlich darauf an! So langsam kehrte sein Rhythmus zu ihm zurück. "Weißt du, meine Eltern haben ein Geschenk für meine Tante in meinem Zimmer liegen lassen, eine Brosche. Und sie können sie nicht wiederfinden. Die war total teuer... Ich habe schon überall gesucht, aber es kommt nichts dabei raus, könntest du mir dabei helfen?" Sein Gegenüber sah ihn erst skeptisch an und einen Moment lang glaubte Kamio, Momoshiro hätte ihn durchschaut, aber dann hellte sich dessen Gesicht auf. "Natürlich helfe ich dir! Für eine kleine Belohnung", grinste er. Natürlich. Das war klar. "Ich gebe dir einen Burger und 'ne Cola aus", schlug Kamio vor. Was tat man nicht alles aus Verzweiflung? "Abgemacht!", meinte Momoshiro und hüpfte über die Tannen zu Kamio in den Garten. "Wo soll ich suchen?" "Folg mir", sagte Kamio und ging, Momoshiro voran, ins Haus zurück und die Treppen hoch. Je näher er seinem Zimmer kam, desto düsterer wurde sein Gesicht und als sie dann schließlich drin waren, blieb Momoshiro die Spucke weg. "Und hier irgendwo ist... die Brosche", gab Momoshiro mit einem mehr als erschrockenem Gesicht von sich. "Vielleicht sollten wir erst einmal aufräumen?" Darauf hatte Kamio nur gewartet. Sie machten sich also ans Werk und nach knapp zwanzig Minuten, wo sie gerade mal ein Viertel der am Boden liegenden Sachen an ihren richtigen Platz geräumt hatten, fiel Kamio ein, dass er ja noch den Ofen an hatte. "Oh scheiße! Der Ofen!" Er ließ alles stehen und liegen und sprintete in die Küche. Mit dem Ofen war natürlich noch alles in Ordnung, aber er war bestimmt schon längst mit dem Vorheizen fertig. Kamio riss also die Tür des Ofens auf, nahm den Auflauf, schmiss ihn regelrecht hinein und... "AAAH", schrie er auf, als er aus Unachtsamkeit oben, wo es noch heiß war, den Ofen mit der Hand streifte. Er bemerkte, dass er sich eine kleine Fläche Haut weggebrannt hatte und dass Momoshiro fast augenblicklich in die Küche rannte. "Was ist los?" Kamio schmiss den Ofen zu, ignorierte Momoshiro, ging zum Waschbecken, machte das kalte Wasser an und hielt seine Hand darunter. Erst jetzt antwortete er. "Hab' mich verbrannt" "Eeeeh? Was machst du denn für Sachen?! Das ist doch gefährlich" Momoshiro machte sich doch nicht etwa Sorgen? "Ist ja nichts bei passiert, jetzt mach dir mal nicht in die Hose", entgegnete Kamio gereizt. Das Telefon klingelte und Kamio drehte den Wasserhahn seufzend wieder zu. Was war dieser Tag doch scheiße. Er hob ab und meldete sich wie üblich mit einem "Hallo". "Kamio? Ich bin's, Shinji. Du hast mich vor einiger Zeit angerufen. Was gibt's? Du rufst mich sonst nie um diese Zeit an. Ist etwas bei euch passiert? Hast du dich verletzt? Du solltest aber auch vorsichtiger sein, ich kenne dich doch. Du bist immer so voreilig und überlegst nie, bevor du etwas tust und-" "Shinji, ich habe hier ein dringendes Problem. Könntest du rüberkommen?" "Natürlich, bin gleich da" Es ertönte ein Piepen, wonach Kamio ebenfalls den Hörer auflegte. Momoshiro lugte aus der Küche hervor. "Shinji kommt gleich vorbei und hilft mir, du kannst dann geh'n" Momoshiro sah Kamio schief an. "Kommt nicht in Frage! Ich habe schon angefangen, mitzuhelfen und du bist mir eine Belohnung schuldig!" "Dann bleib doch hier und iss heute Abend mit uns Pizza", meinte Kamio und bereute es gleich nachdem er es gesagt hatte. "Pizza? Yeah! Das ist super! Was ist mit deiner Hand?" Kamio sah sich die verbrannte Stelle an. Sie begann schon, sich zu röten und es bildete sich schon die Kruste, allerdings war sie noch flüssig. Ih. "Nichts weiter", antwortete er und sofort danach klingelte es an der Tür. Kamio öffnete sie und ließ Shinji, der gerade mal zwei Häuser weiter wohnte, ins Haus. "Was ist los, du hast von einem Problem gesprochen. Und es hat wohl nichts mit deinen Eltern zu tun, die sind ja gar nicht da. Was macht Momoshiro denn hier? Seit wann lädst du ihn zu dir ein? Du hättest mir das doch wenigstens sagen können, ich bin doch dein bester Freund-" "Shinji, du musst mir helfen, mein Zimmer aufzuräumen, sonst bin ich erledigt", bat Kamio ihn. "Ja, er sucht das Geschenk für seine Tante, das seine Eltern da vergessen haben, du musst sein Zimmer mal sehen!", fügte Momoshiro hinzu. Kamio schloss die Augen und zählte bis zehn, um Momoshiro nicht ins Gesicht zu schlagen. "Schon gut, es geht nicht um meine Tante, es geht darum, dass meine Mutter mich umbringt, wenn ich mein Zimmer bis dahin nicht wieder in Ordnung habe", gestand er schließlich. Es nützte ja doch nichts. "Waas?" Momoshiro schaute wie ein Auto, als hätte Kamio ihm gerade die Bergpredigt gedeutet. Kamio erklärte den beiden Jungen seine Lage und bat sie, ihm doch wenigstens noch etwas zu helfen. "Hmm, okay, für die Pizza heute Abend lässt sich mit mir reden", meinte Momoshiro grinsend. "Natürlich helfe ich dir, ich bin doch dein Freund und du hast mir ja auch oft geholfen, bei allem möglichen, also ist es nur das Mindeste, dass ich dir jetzt auch einmal helfe" Shinji war - wie immer - voll in seinem Element und redete. Viel. Zusammen fingen sie an, das Zimmer aufzuräumen, holten den Auflauf rechtzeitig aus dem Ofen (ohne sich dabei zu verbrennen) und schafften es, alles bis kurz nach halb sechs zu erledigen. Erschöpft ließen sich die drei aufs Sofa und in den Sessel fallen, wobei Kamio nach dem schnurlosen Telefon griff und die Nummer von Pizzarazzi wählte, um sich eine große Familienpizza zu bestellen. Zwar hatte der Tag total beschissen angefangen, aber am Ende lief dann doch alles perfekt - bis auf die immer noch schmerzende verbrannte Stelle auf seiner Hand. Nach der Pizza verschwand Momoshiro dann mit der Ausrede, er müsse nach Hause, weil sich seine Eltern sonst Sorgen machen würden und Kamio blieb mit Shinji zurück. "Deine Hand, was ist da passiert?", fragte Shinji auch gleich nach. Er sah Kamio nicht gerade begeistert an. Okay, er sah nie wirklich begeistert aus. "Hab mich verbrannt, an dem dummen Ofen, ist nichts schlimmes" Wieder begutachtete Kamio seine Wunde, bei der sich seltsamerweise immer noch keine Kruste gebildet hatte. Es sah nur viel röter aus, als seine normale Haut. Und feuchter und ekliger. "Lust auf einen Film?", fragte Kamio nach. Shinji nickte bloß, ihn immer noch besorgt ansehend, beruhigte sich jedoch schnell wieder, als er sah, dass Kamio anscheinend keine Probleme damit hatte. Beide lehnten sich auf dem Sofa zurück, während Kamio durch die Programme schaltete. Naja, so schlecht ging es ihm ja auch nicht. Er hatte schon schlimmere Tage erlebt. Tage, an denen er gar keine Hilfe erhalten hatte. Leicht schmunzelte er, bevor seine immer schwerer werdenden Augenlider sich schlossen und sein Kopf auf Shinjis Schulter sackte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)