Chime von Einfallspinsel ================================================================================ Kapitel 1: Kapitel 1 -------------------- Chime Kapitel 1 „Hey, kannst du mir jetzt bitte sagen, wo wir hinfahren?!“ ... Schweigen ... Sie sah hinaus auf die Straße und verfolgte mit den Augen die schnell vorbeiflitzenden Bäume und Fahrbahnmarkierungen. „Mutter, ich bin kein Kleinkind, das bei Überraschungen aufgeregt rumschreit und auf den Sitzen springt, also kannst du mir auch sagen, wo es hingeht! Warum sollte ich also meine Sachen packen?“ „Wir fahren an das Meer, Schatz. Ich möchte, dass wir mal in Ruhe zusammen sind.“ „Und worüber? Das können wir doch auch Zuhause.“ Keine Antwort. Chime gab es auf. Ihre Mutter sah scheinbar total in Gedanken versunken und fest entschlossen nicht jetzt zu reden auf die Straße und summte leise „Eigentum“. Chime hatte dieses kurze Lied selbst geschrieben und komponiert. Es ging darin um ein Engel und um einen Mann, der den Engel bat, nicht fortzufliegen. Mein Freund, flieg nicht davon, dein Licht hat mich verletzt. Du kamst doch selbst zu mir, also bleibe jetzt auch hier. Ich brauche dich so sehr, du bist mein Ein und Alles. Ich brauche dich so sehr, die Seele eines Mannes. Mein Freund, flieg nicht davon, deine Schönheit hat mich verletzt. Du kamst doch selbst zu mir, also bleibe jetzt auch hier. Du kannst mich nicht verlassen, denn du gehörst zu mir. Du kannst mich nicht verlassen, denn du gehörst nun mir. Chime konnte ihrer Meinung nach nicht besonders gut komponieren, doch sie liebte es einfach, ihre Gedanken aufzuschreiben und eine Melodie dazu zu erfinden, die ihren und den Gefühlen der Personen in den Liedern entsprach. Sie konnte auch relativ gut Harve spielen, aber nicht nach Noten. Sie hasste Noten einfach, weil sie eine Melodie vorschrieben, und man genauso spielen musste, wie sie da stand. Als sie 8 war, bekam sie eine Harve von ihrem Vater, der seit 3 Jahren nichts mehr von sich hören ließ. In diesen 3 Jahren hat sie sich angewöhnt immer so etwas zu sagen wie: „Ich habe keinen Vater“. Chime’s Mutter Gabriele gab einen Seufzer von sich. Warum tut sie so auf Geheimnis? Wenn sie mit mir reden möchte, dann kann sie das auch ohne an den Strand zu fahren. Oder hat sie etwa Angst, dass ich weglaufe? Das geht mir auf die Nerven ... die soll mich mal alleine lassen und nicht versuchen eine besonders tolle Mutter zu spielen, die sie nicht ist. Sie hat vor zwei Jahren einen Klamottenladen eröffnet, also war Chime jeden Tag alleine, wenn sie aus der Schule kam. Und sogar am Samstag bekam sie ihre Mutter nur Morgens zu Gesicht, wie sie sich hastig das Frühstück zwischen die Zähne schob und in großen Zügen ihren Kaffee trank. Der Laden warf noch nicht genug ab, damit sie sich einen Angestellten anschaffen konnte. Die einzige Hilfe kam von ihrer besten Freundin Hella, die freiwillig mit im Laden half. Doch Chime wusste genau, dass Hella die ganze Zeit im Stillen hoffte, dass sie eines Tages eine fette Geldbelohnung bekommen würde (und das dies irgendwann der Fall sein würde, bezweifelte Chime). Chime lehnte sich so weit nach vorne, dass sie ihren Kopf an die Sitzlehne vor ihr abstützen konnte und so sah sie auf die Fußmatte unter ihren Füßen. Gabriele hatte aufgehört zu summen und schob nun eine CD in das Autoradio ein. Schon gleich ertönten irgendwelche afrikanischen Frauengesänge, die klangen, als ob ihnen gerade die Beine amputiert wurden. Dieser CD-Player brachte Chime wieder dazu, sich über ihre Mutter aufzuregen. Vor einem halben Jahr war Chimes Großtante, also die Schwester von der Mutter ihrer Mutter, an Leukämie gestorben und hatte ihnen 10.000 Euro vererbt. Vieles davon mussten sie an das Arbeitsamt abtreten und von dem Rest des Geldes zahlte Gabriele nicht etwa ihre alten Schulden ab, nein, sie kaufte einen neuen Fernseher, einen Flachbildschirm für den auch neuen Computer, ein neues Autoradio und neue Einrichtungen für ihre Wohnung. Ein paar Tausend flossen vielleicht noch in den Laden ein, der übrigens „G.M. Ladys“ hieß. Ein blöder Name, dachte sie. Der Anblick der Natur, an der sie vorbeifuhren, wirkte ziemlich einschläfernd auf Chime, also schlief sie nach ein paar Minuten auch schon ein und wachte erst auf, als sie in ein Dorf namens „Neufeld“ mit Reetdachhäusern einfuhren. Das Ferienhaus war ein kleiner weißer Container, vor ihm ein riesiger Anker in den Garten eingegraben. Trostlos wehten die braunen Blätter über den Boden und versammelten sich irgendwo weiter hinten auf dem Grundstück vor dem Zaun. Gabriele hielt den Wagen vor dem breiten weißen Tor mit den blauen Pfählen an und sah zu Chime auf die Rückbank. Sie lächelte breit. „Wir sind da, mein Schatz. Jetzt können unsere Ferien beginnen!“ „Pah, F e r i e n ist gut... wir haben gar keine Ferien. Alle meine Freunde sitzen in diesem Moment in der Schule und...“ Chime sah auf die Uhr, „... und schreiben eine Mathearbeit. G.M. Ladys läuft auf Hochtouren und wirft wahrscheinlich, und so wie immer, trotzdem nichts an Geld ab.“, dachte sie. „Wow, ich freu mich tierisch...“ sagte Chime barsch und fuhr sich mit den Fingern durch ihr langes schwarzes Haar. Eigentlich war sie ja froh darüber, mal mit ihrer Mutter zusammen zu sein, die ganze Zeit über wollte sie eigentlich nur Aufmerksamkeit von ihr haben, doch jetzt, wo es soweit war, war sie nur sauer auf sie und wollte nichts mit ihr zu tun haben. Es lief Chime kalt den Rücken herunter, wenn Gabriele etwas sagen wollte. Auch wenn es nur so etwas wie „Hattest du einen schönen Tag“ war. Am schlimmsten fühlte Chime sich, wenn Gabriele sie um etwas bat. Auch nur bei einem „Holst du mir bitte ein Taschentuch“ lief die Wut an. Warum? Das wusste sie nicht. Sie war einfach nur sauer auf ihre Mutter und wollte von ihr geliebt werden. Sie wusste genau, dass sie von ihrer Mutter geliebt wurde, doch sie wollte es nicht nur wissen, sie wollte es auch spüren. „Na, gefällt sie dir, die Ferienwohnung?“, fragte Gabriele und drehte sich in dem Wohnzimmer fröhlich im Kreis. „Würde sie nicht so nach alten Möbeln riechen, wäre sie ganz schön.“, antwortete Chime. Sie durchsuchte einmal die ganze Wohnung. Es gab ein Ehebett, eine schmale Küche, ein kleines Bad mit einer Dusche, Flur, Wohnzimmer und ein Kinderzimmer mit vier Betten. In dem Wohnzimmer stand ein großes Sofa aus Samt, alles sah irgendwie ziemlich dänisch aus und Chime glaubte hier schon mal gewesen zu sein. Wohl ein Déja-vu. „Ich schlaf im Kinderzimmer und du im Ehebett.“ Chime schmiss ihren Koffer auf eines der vier Betten und kramte ihren Lieblingsbettbezug heraus, er hatte ein Leopardenmuster und wärmte wunderbar. Stumm räumte Chime ihre Klamotten in ein kleines Regal ein als aus dem Wohnzimmer laut ein Radio mit Schlagermusik ertönte. „Was soll das!? Mach diesen Mist aus!“ „Ist ja schon gut. Ich konnte ja nicht wissen, dass so ein Sender läuft.“ Sie öffnete die CD-Klappe und war gerade dabei, eine ihrer CD’s aufzulegen, als Chime dazwischen kam. „Stop! Bevor ich wieder deine Musik anhören muss, hören wir meine. Ich hol mal gute Musik.“ Unter den Tönen von „System of a Down“, die Gabriele sehr missfielen, versuchten sie sich für eine Weile in dem Häuschen zurechtzufinden, bis sie beide gelangweilt auf dem samtenen Sofa saßen und in Richtung Fernseher starrten. „Ich weiß, was du denkst, Chime, aber DER bleibt aus, solange wir hier sind und uns anders zu beschäftigen wissen.“ „Ach ja? Und was sollen wir jetzt machen? Etwa zurückfahren? Dann kann ich heute vielleicht noch die verpasste Mathearbeit nachholen. Und morgen die Bioarbeit. Und falls wir noch länger bleiben, dann verpasse ich nächste Woche Dienstag auch noch die Englischarbeit und außerdem eine Menge Schulstoff.“ „Ooh, ich bin richtig beeindruckt. Seit wann redest du so viel von Schule.“ Diese Stimmenlage.... sie brachte Chime mal wieder total zum kochen. Es war klar, dass jetzt ein Streit kommen musste. „Ich habe keine andere Wahl, als von Schule zureden, weil der Fernseher tabu ist und man mit dir über nichts anderes reden kann, und nicht einmal das kann man!“ Gabriele setzte sich aufrecht hin und hob ermahnend und beleidigt das Kinn an. „Bitte!? Wenn du nicht zu mir kommst, ist es ja klar, dass du nicht mit mir reden kannst!“ Chime stand auf. „Ach, jetzt bin ich also Schuld? ICH wende mich nicht dir zu, ICH ziehe mich zurück, ICH bin Schuld, dass wir keine normale Mutterkindbeziehung haben?! Das war ja klar, die Mutter hat schon genug mit ihrem tollen Laden zu tun, fällt abends völlig fertig in ihr Bett, hat dann noch die Dreistigkeit, mich um allen Scheiß zu bitten und lässt mich dann, wenn sie mich für den Rest des Tages nicht mehr gebrauchen kann, links liegen! Dann, wenn ich sie am meisten brauche! Und dann beschwert sie sich, dass ihr Kind so feindselig ihr gegenüber ist! Ich frage mich, was soll das ganze?!“ Sie sah ihrer völlig perplexen und geschockten Mutter noch einmal bohrend in die Augen, stürmte aus dem Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Sie lehnte sich mit dem Rücken an, sie, sodass sie die Eingangstür im Blick hatte. Ohne weiter nachzudenken lief sie raus, ein paar Häuser weiter und versteckte sich hinter einer Garage von einem der Nachbarhäuser. Bebend sank sie an der Wand zusammen und vergrub ihr Gesicht in die kalten und zittrigen Hände. Die stummen Tränen perlten eine nach der anderen ihr Gesicht herab. Was hatte sie gesagt.... sie wollte es ihrer Mutter eigentlich nicht sagen, sie sollte von selbst darauf kommen. Sie sollte sich von selbst um ihre Tochter kümmern, von selbst merken, was sie tat, von selbst wenigstens ein Mal etwas sagen wie „Danke für alles“. Und warum weinte sie jetzt überhaupt, wo sie doch solche Situationen gewohnt war? Noch eine Weile blieb Chime so zusammengekauert an die Wand gelehnt. Der kalte Wind strich ihr unter den dünnen Pullover, sie hatte ihre Jacke im Eingangsbereich des Hauses hängen lassen und nun musste sie frieren. „Chime!? Komm rein, es ist kalt und du erkältest dich noch! Chime!“ Nein, dachte sie. Ich will sie nicht sehen. Doch was sollte sie jetzt machen? Um zurück ins Haus zu gehen war sie zu sauer und zu stolz. Auch wenn hier der Stolz nicht angebracht war. Als sie einmal kurz nach links sah lief dort Gabriele entlang. Wie meistens war sie mit ihren eigenen Klamotten gut gekleidet. Den Kragen ihres Mantels hatte sie bis unter die Ohren hochgezogen und die Arme vor dem Wind schützend verschränkt. Die dunkelbraunen lockigen Haare mit den einzelnen weißen Strähnchen waren hinten zu einem Dutt zusammengefasst, die vorderen Haare fielen ihr leicht ins Gesicht. Mit besorgter Miene sah sie sich um und suchte nach Chime, die sich hinter einem silbernen Mercedes versteckte. Als Gabriele hinter der nächsten Abbiegung verschwand, lief Chime zurück ins Haus und sperrte sich in dem Kinderzimmer ein. Sie fragte sich, warum es in einer Ferienwohnung einen Schlüssel für die Kinderzimmertür gab, war das nicht „zu gefährlich“, wie viele Mütter wohl sagen würden? Gabriele hatte Chime immer verboten, sich irgendwo einzuschließen: „Was wäre, wenn du aus irgendeinem Grund in Ohnmacht fallen würdest und ich dir nicht helfen könnte?“ „Du würdest die Fenster einschlagen, da bin ich mir sicher.“ Das hätte Chime geantwortet, wenn sie nicht immer und aus manchmal unerklärlichen Gründen sauer auf ihre Mutter wäre. Anstatt an der kalten Garagenwand kauerte sie sich jetzt auf dem noch nicht bezogenen Bett zusammen. Eine Frage, die sie sich manchmal stellte, kam ihr wegen dieser Position wieder in den Kopf. Zusammengekauert, die Beine fest an den Körper gedrückt, die Arme um die Beine geschlungen, den Kopf auf die Knie gelegt. So schließen sich Menschen oft in sich selbst ein, wenn sie psychisch völlig am Ende waren und still auf Hoffnung warteten. War sie etwa reif für den Psychiater? Genervt von ihrer Mutter, ausgeschlossen von ihren besten Freundinnen, unterdrückt von ihren Schulnoten. Waren das etwa Gründe um verrückt zu werden? Diesen Gedanken gab sich Chime noch eine Weile hin, bis sie die Gabriele hörte, wie sie leise schluchzend die Haustür hinter sich schloss. Nun drehten sich in ihrem Kopf nur noch vier Worte, „Was soll ich tun“. Sollte sie das Zimmer verlassen und weiter mit ihrer Mutter reden, sollte sie wieder nach draußen rennen und erst Nachts wiederkommen, sollte sie warten, bis Gabriele vor der Tür steht, sie anschreit, doch die Tür zu öffnen, bis sie schließlich von außen das Fenster einschlägt? Sie sah zum Fenster, es stand weit offen, sodass es gar nicht nötig wäre, es einzuschlagen. Doch Chime stand nicht auf, um es zu schließen. Jetzt wusste sie, dass sie im Inneren darauf wartete, dass Gabriele sich überwinden würde, zu ihr kommen und sich für alles entschuldigen würde. Es tut mir Leid, danke für alles? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)